Als die Bonner Republik aufholte (Deutsche Einheit Teil I)
2’809 Wörter / ca. 15 Minuten
Politik ist nicht selten eine Frage der Fassade. Die mediale Darstellung von Personen und Parolen wiegt häufig schwerer als der Gehalt. Kurzfristige Aufmerksamkeit erscheint zu verlockend, als dass langfristige Integrität im Blick bliebe. Warum die Fassade des Berliner Schlosses für manche allerdings ein Politikum geblieben ist, leuchtet längst nicht allen ein.
Ein Schloss für den Kanzler?
Den Wunsch des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, von seinem Büro aus statt des «monströsen Palasts der Republik» lieber ein Schloss zu sehen, quittierte Stefan Heym am 28. Februar 1999 im Spiegel mit beissendem Spott: «ein richtig schönes Schloß mit echt nachgeahmter Fassade» anstelle der «hässliche[n] hohle[n] Schale des weiland Palasts der Repu-blik». Der Wiederaufbau des Stadtschlosses, dem der Palast der Republik wich (neben der Volkskammer der DDR hatte er vor allem Kunst- und Kulturräume beherbergt), steht symbolisch für eine fragwürdige Erinnerungspolitik nach der Wende – wobei die Fragwürdigkeit weniger die Politik als vielmehr deren Abwesenheit zu betreffen scheint.
Erinnerungs- oder Realpolitik?
Zum Jubiläum des Mauerfalls 2019 zog der Soziologe Steffen Mau in seiner Studie «Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft» eine ernüchternde Bilanz und sprach von einer «Tilgung der Deutschen Demokratischen Republik aus dem Alltag». Diese betreffe allerdings nicht allein «die offiziellen Symbole», sondern die Bausubstanz überhaupt. Statt Gebäude in Stand zu halten, seien viele dem Verfall überlassen worden, um sie später abzureissen. Orte wie Schulen, Bibliotheken oder Arbeitsplätze seien so schlicht «nicht mehr zugänglich» für Menschen, die ihre Lebensgeschichte damit verbinden. Leicht vorstellbar ist, dass der Abriss solcher Gebäude nicht nur Lücken in die Landschaft, sondern auch in die Psychen schlug.
Ob der Palast der Republik nun dem Impuls zum Opfer fiel, mit der Vernachlässigung der Gegenwart zugunsten einer vermeintlich älteren und besseren Tradition, symbolisches Kapital zur Stabilisierung des neuen Staats anzuhäufen, oder ob eine teure Asbestsanierung ohnehin zu seinem vollständigen Abriss führen musste, sei an dieser Stelle dahingestellt. Angesichts einer mangelnden Erinnerungspolitik insgesamt verwundert es jedoch kaum, dass Mau noch 20 Jahre nach Heym die Aufzählung verschwundener Alltagsorte seiner Lebensgeschichte mit Bedauern beschliesst: «Der ‹Palast der Republik›, ein für ein ehrliches, ausgewogenes und nicht exhumierendes DDR-Museum sicherlich prädestinierter Ort, musste dem Stadtschloss weichen.»
Kaiser- oder Kaisererinnerungen?
In diesem Stadtschloss, das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und 1950 abgerissen wurde, residierten die preussischen Könige und später – nach der deutschen Einigung – die deutschen Kaiser. Während die Erinnerung an die DDR zerfällt, auferstand also in Form einer Schlossfassade die Erinnerung an das preussische Kaiserreich. Seinen satirischen Kommentar beendete Heym mit der Schlussfolgerung: «Ja, gebt uns das Schloß wieder – und unseren Kaiser!»
Vor dem Hintergrund der deutschen Einheit laden Heyms Worte zu einem zuspitzenden Blick in die deutsche Geschichte ein. Die Stabilisierung eines Staatswesens braucht weniger kohäsive Konzepte wie ein Nationalgefühl oder den oft beschworenen Verfassungspatriotismus, sondern vielmehr Zeit und einen allmählichen Ausgleich zwischen immer neuen Fraktionen. Bei allen Einheitsbestrebungen muss ein Staatswesen hauptsächlich in der Lage sein, disparate Symbole und Narrative einzubeziehen und anzuerkennen. Allzu einfache Geschichtsbilder, die im Namen irgendwelcher Völker alle Widersprüche aufzulösen versprechen, kamen insbesondere seit dem Untergang des Ostblocks – in der Schweiz etwa durch den Milliardär Christoph Blocher mit Schlossresidenz in Rhäzüns – wieder vermehrt von rechts. Da braucht es dann schon mehr als ein SPD-Parteibuch, um sich angesichts von Schlossfassaden nicht plötzlich in ungewollter Gesellschaft wiederzufinden.
Wenn also schon Kaiser, dann doch wenigsten den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und nicht einfach den nächstbesten Preussen mit Pickelhaube. Seit dem 10. Jahrhundert gründeten die römisch-deutschen Kaiser ihre Macht vornehmlich auf die deutschen Wälder und ihre Würde auf die römische Kaiserkrone. Dabei herrschten sie – mehr oder weniger direkt – von der Ostsee bis zum Mittelmeer. Das Reich vereinte romanische (in Italien und Frankreich), deutsche (in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden) und slawische (in Polen und Tschechien) – allerdings ausschliesslich christianisierte – Gebiete. Die Wiederbelebung dieses Kaisertums anstelle des preussischen brächte nicht nur eine weit sinnvollere Wiedervereinigung mit Italien mit sich als die unsägliche Achse der Faschisten (sie droht wieder aufzuerstehen), sondern wohl auch die Einigung Europas weit besser voran. Aber die Italiener:innen haben mittlerweile auch ihre eigene Einheit und obendrein einen Vatikan in der Mitte. Ganz so abwegig, wie er scheint, ist dieser Gedanke nicht. Nach der Teilung Deutschlands kursierten in Westdeutschland Überlegungen, wonach das Heilige Römische Reich in moderner Terminologie als europäische Union oder Föderation zu verstehen wäre. Der supranationale Hang Deutschlands aufgrund seiner grausamen Erfahrungen mit dem Nationalstaat wirkt bis heute fort.
Das Motiv für die Rückbesinnung auf die Zeit vor den Weltkriegen und das Verblassenlassen der DDR-Spuren vermute ich allerdings weniger in der Nachlässigkeit der Politik, sondern vielmehr in der Geschichte der Bonner Republik. «Frakturen», wie Mau sie im Besonderen in der ostdeutschen Gesellschaft ausmacht, prägen auch die westdeutsche Gesellschaft. Die vielen Brüche, die sich durch die Geschichte des modernen Deutschlands ziehen, werden besonders augenscheinlich, wenn ich – als Zürcher in Sachsen – Deutschland mit einem Schweizer Blick sehe.
Ein Schweizer Erinnerungsexkurs
Der Eidgenossenschaft, im Mittelalter zwar nur ein Bund unter vielen, war dennoch früh ein eigenständiger Weg innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation beschieden. Die immer wieder blutig gegen habsburgische Ansprüche verteidigte Reichsunmittelbarkeit, also die direkte Unterstellung dem Kaiser ohne intermediäre Lehnsherren, führte 1648 in der Folge des westfälischen Friedens nach dem dreissigjährigen Krieg zur vollständigen Herauslösung der Eidgenossenschaft aus dem Heiligen Römischen Reich. Dessen ungeachtet hielten sich auch in der Schweiz klientelistische Abhängigkeiten und quasi-feudale Strukturen, die etwa zwischen freien Gebieten und Untertanenland (gerade in der französischsprachigen Romandie und dem italienischsprachigen Tessin) innerhalb der Eidgenossenschaft unterschieden.
Erst der Export der französischen Revolution, der die Eidgenossenschaft mit der Ausrufung der Helvetischen Republik unter Napoleon de facto zu einem Vasallenstaat Frankreichs machte, brachte die mittelalterlichen Strukturen ins Wanken. Die turbulenten Jahrzehnte der Industrialisierung am Anfang des 19. Jahrhunderts mit ihrem Tauziehen zwischen liberalen und konservativen Fraktionen um das Erbe der Französischen Revolution gipfelten im Sonderbundskrieg. Aus der letzten kriegerischen, wenn auch recht unblutigen Auseinandersetzung auf Schweizer Staatsgebiet resultierte in einer «verleugneten Revolution» (Thomas Maissen) die moderne Verfassung von 1848, deren Ideen aus ganz Europa kamen und der damals auch längst nicht alle Kantone zustimmten. Während die Revolutionen von 1848 andernorts scheiterten, brachte der Sieg der Liberalen bei gleichzeitigem Fehlen eines traditionellen Hochadels in der Schweiz im Windschatten der revolutionären Stürme in Europa ein liberal geprägtes Staatswesen und das Ende einer ausgeprägten Hegemonie der Deutschschweiz hervor. Die liberale Fraktion war zu Beginn nicht nur prägend, sondern stellte gleich die komplette Exekutive. Die föderale Struktur und das doppelte Mehr, wonach eine Mehrheit von Bevölkerung und Kantonen einem Anliegen zustimmen müssen, sorgten jedoch – mit einem de facto Vetorecht – für einen Ausgleich unter den Kantonen.
Seit 1848 blickt die Schweiz auf eine mehr oder weniger ungebrochene Entwicklung zurück, in der die Verfassung lediglich zweimal einer Gesamtüberarbeitung unterzogen wurde. Über 150 Jahre politische Tradition heilten erst die Wunden der kriegerischen Wirren zwischen jahrhundertelang eigenständigen Kantonen und verliehen der sogenannten Willensnation, die seit 1848 immer wieder teils mythisch beschworen, teils zurecht konstatiert wird, Plausibilität. Der zunächst natürlich ungewisse, aber letztlich gelungene Einbezug neuer Interessengruppen – etwa der Nationalkonservativen am Anfang und der Sozialdemokratie Mitte des 20. Jahrhunderts – erzeugten insgesamt nicht nur ein weitreichendes Vertrauen in den Staat, sondern auch ein Gefühl der Unerschütterlichkeit dieser demokratischen Ordnung, deren Exekutive nicht mehr nur die liberale Partei bildet. Mittlerweile regieren vier Parteien gemeinsam in einem Kollegialitätsgremium, das in seiner Besetzung durch ungeschriebene Regeln auch auf regionalen Ausgleich Rücksicht nimmt. Selbstredend gehört zum politischen Mechanismus heute ein ausgeklügelter Finanzausgleich, der zwar immer wieder für Diskussionen sorgt, im Wesentlichen aber eine Handvoll finanzstarker Kantone zur Unterstützung der übrigen Kantone zwingt.
Aufholen? Aber wer setzt die Massstäbe?
Wurde die Schweiz – nicht zuletzt dank dem nötigen Glück und vielfältiger Hilfe von aussen – vermeintlich rechtzeitig von der Tendenz zur modernen Staatenbildung erfasst, so hielt das Heilige Römische Reich dem Druck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Expansion nicht stand. Zurück blieb auf deutschem Gebiet ein Flickenteppich aus Fürstentümern, geistlichen Territorien und Städten unter dem wechselnden Einfluss von Preussen, Österreich und Frankreich. Spätestens seit Helmut Plessners Gedanken über eine «verspätete Nation», bezeichnenderweise erstmals 1935 in Zürich (und erst 1959 in Deutschland) publiziert, ist in Deutschland ein Gefühl, der Geschichte aufgrund des Traditionsbruchs nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reichs hinterherzuhinken, Gegenstand von Debatten. Trotz oder gerade wegen der grossen Bevölkerung erfolgte die Staatenbildung auf dem deutschsprachigen Gebiet – in der sogenannt kleindeutschen Lösung unter Ausschluss Österreichs – 1871 vergleichsweise spät und unter obrigkeitlicher Ägide. Kam die Schweiz in den deutschen Einheitsbestrebungen schon nicht mehr vor, so oblag ihr dennoch die Aufgabe, mit der grössten humanitären Aktion ihrer Geschichte die Scherben der deutschen Einigung zusammenzukehren. Eingekesselt an der Grenze bat die Führung der im deutsch-französischen Krieg geschlagenen Bourbaki-Armee um die Internierung von zehntausenden Soldaten in der Schweiz.
In Westeuropa existierten mit Frankreich und Grossbritannien längst zentralistische Grossmonarchien, die auf eine bedeutsame Tradition hinsichtlich moderner politischer Errungenschaften zurückblicken. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war jedoch von Anfang an ein Gebilde mit wesentlich höherer Komplexität als die Staaten im Westen, seine politische Homogenisierung unter den Begriffen Einheit und Freiheit entsprechend schwieriger. Den Drang, aufholen zu müssen, illustriert die zunehmende Aggressivität in der Kolonialpolitik des neu entstandenen Preussischen Kaiserreichs am pointiertesten. Der Status als Grossmacht verlangte scheinbar, mit den anderen Mächten auch im globalen Massstab gleichzuziehen. Das strapazierte nicht unwesentlich das fragile Gleichgewicht zwischen den europäischen Grossmächten. Letztlich resultierte aus der Instabilität dieser neuen Lage auf dem europäischen Kontinent der I. Weltkrieg und der Untergang des preussischen Kaiserreichs.
Reine Nation oder moderner Staat?
Kaum verwunderlich ist es angesichts dieser vergleichsweise späten staatlichen Einigung vielleicht auch, dass nach dem Gemetzel des I. Weltkriegs der Faschismus mit seinem Versprechen der Grösse und der Rettung der reinen Nation ausgerechnet in Italien und Deutschland gedieh, obwohl er auch in anderen Staaten Anhänger:innen hatte. Immer noch galt es offenbar – gegenüber dem Weltreich Grossbritannien – aufzuholen, während beide Staaten mit dem römischen Reich in der Antike (Italien) und dem Heiligen Römischen Reich im Mittelalter (Deutschland) zugleich auf ein gewaltiges Erbe zurückblickten, das insbesondere die Nazis unter den Begriffen ‹Drittes› oder ‹tausendjähriges Reich› für sich in Anspruch nahmen. Gerade Deutschland hatte überdies im Gegensatz zu den westlichen Nachbarn erhebliche Umgestaltungen des Staatsgebiets zu verkraften. Der II. Weltkrieg veränderte in der Folge mit der Teilung Deutschlands das Staatsgebiet noch einmal und durchsetzte die ansässige Bevölkerung überdies mit Millionen von deutschsprachigen Geflüchteten aus Osteuropa.
Sorgte der Marshall-Plan für einen zügigen Wiederaufbau Westdeutschlands, so fand die neu entstandene Bonner Republik auf dieser Basis auch ihren Platz unter den westlichen Staaten, die ohnehin nach und nach ihre koloniale Grösse verloren. Mit der Zeit stellte sich zumindest in Westeuropa unter der Schirmherrschaft der USA eine relative Gleichheit unter den Mitgliedern der Staatengemeinschaft ein. Institutionen wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zeugten davon. Endlich durfte sich auch Deutschland – oder zumindest die Bonner Republik – ohne viel Aufhebens dazuzählen. Als Bollwerk gegen Osten kam ihr im Kalten Krieg sogar eine herausragende Stellung zu. Noch 2020 anlässlich des dreissigjährigen Jubiläums der Wiedervereinigung wird der Historiker Friedrich August Winkler in seiner kurzen Geschichte der Deutschen die Orientierung ‹der Deutschen› am ‹Westen› (nicht aber ihr Verhältnis zum ‹Osten›) thematisieren, wo es doch historisch vor allem die Bonner Republik und die DDR, weiter zurück Österreich, Preussen, die Fürstentümer oder eben die Schweizer Eidgenossenschaft gab. Winkler wird die Schweiz auch diskret aussparen, als er das Scheitern der Revolutionen von 1848 «letztlich überall in Europa» bilanziert. Seine Geschichte bleibt trotz seiner Forderung, «sich der deutschen Geschichte als ganzer, und das heißt: in ihrer Widersprüchlichkeit, zu stellen», eine westdeutsche Geschichte.
Einheit oder Kontinuität?
Mit der Möglichkeit zur Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland stand die Bonner Republik vor einem Dilemma. Auf der einen Seite verlangte die Geschichte scheinbar – und offenbar auch ein signifikanter Teil der Bevölkerung – danach, die beiden deutschen Teilstaaten wieder zusammenzuführen. Der Versuchung, durch neu erlangte Grösse endlich eine Vorreiterrolle in Europa einzunehmen, stand ein unterschwelliges Verlangen nach Kontinuität gegenüber. Nirgends zeigte sich das besser als in der Parlamentsdebatte über die Verlegung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin. Das Resultat zugunsten Berlins fiel knapp aus, obwohl Berlin im Westen genau wie im Osten als unbestrittene Hauptstadt Deutschlands galt.
So sehr die alten Risse und Frakturen seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation in der Bonner Republik auch zu verwachsen schienen, so dünn blieb die Haut. Vor allem der Zweite Weltkrieg und die Nazi-Zeit treibt Menschen in allen Regionen Deutschlands nach wie vor – und manchmal bis zur Obsession – um. Weder sind diese Erfahrungen verarbeitet noch die Wunden verheilt. Kaum ein längeres Gespräch – ob es um Politik geht oder nicht – rekurriert nicht irgendwann auf traumatische Erfahrungen aus dieser Zeit.
An eine Tradition vor dem Hitler-Reich anzuknüpfen, erweist sich vor dem Hintergrund der Anforderungen des 21. Jahrhunderts als schwierig. Das Kaiserreich hält demokratischen Ansprüchen nicht stand und die Weimarer Republik ging schneller unter, als sie entstand. Hätte es angesichts dieser anhaltenden Herausforderungen nicht auch Westdeutschland gutgetan, die politische Tradition seit dem Ende des II. Weltkriegs noch ein paar Jahrzehnte unaufgeregt fortzuführen, statt allzu schnell mit der neuen Grösse umgehen zu müssen? So sehr die Wiedervereinigung auch gewünscht war, so sehr stellte sie sich bisweilen als Überforderung heraus. Die finanzielle Bürde etwa, mit der DDR einen maroden Staat aufzufangen, musste die alten Bundesländer an den Rand ihrer Belastbarkeit bringen. Die drastischen Arbeitsmarktreformen Schröders, dem eine Schlossfassade lieber als eine stabile Sozialpartnerschaft war, sind auch darauf zurückzuführen. Infrastrukturmängel beispielsweise bei der Bahn sind augenfällig. Die Verfassungstreue der neuen Bundesbürger:innen ist ohne gemeinsam erarbeitete Verfassung nach wie vor brüchig. Wäre es also nicht nur, wie manche es sich wünschten, einen Versuch wert gewesen, die DDR eigenständig zu reformieren, sondern auch der Bonner Republik ihre Zeit zu lassen?
Ostalgie oder Westalgie?
Ich kann mich des Eindrucks kaum erwehren, dass durch die Wiedervereinigung und die Konfrontation mit den Frakturen des Ostens auch die fragile Fassade des Westens erneut zu bröckeln droht. Von Wehmut um die alte Bonner Republik allerdings, darauf weist der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hin, ist im Gegensatz zur sprichwörtlichen Ostalgie aber kaum je die Rede. Im Gegenteil: Die oft angeführte Modernisierungsthese, der zufolge die neuen Bundesländer gegenüber den alten aufzuholen hätten und dies auch in nützlicher Frist tun würden, erinnert Westdeutschland unweigerlich an die eigene Geschichte des Aufholens gegenüber den traditionsreichen Staaten Westeuropas und die fragile Zugehörigkeit zu diesem Westen. Dieses Aufholen hat im Westen allerdings rund hundert Jahre gedauert und sich im Osten nach der Wende hauptsächlich – wie etwa im Fall von Hoyerswerda – auf die Sanierung von Gebäudefassaden beschränkt. Die Herablassung, die den neuen Bundesländern im wiedervereinigten Deutschland aus den alten – beispielsweise in den Worten Schröders zum Palast der Republik – immer wieder entgegenschlägt, erscheint vor diesem Hintergrund umso plausibler, je länger die Euphorie und die kurze Hochkonjunktur im Zuge der Wiedervereinigung abgeklungen sind. Nur notdürftig überdeckt die triumphale Haltung, die kapitalistische Gesellschaft im Westen sei der sozialistischen im Osten eben doch auf allen Ebenen überlegen gewesen, die anhaltende Belastung durch die eigenen Anwandlungen des Aufho-lens, die – unterbrochen kaum war das Ende in Sicht – einen souveränen Umgang mit den Ankömmlingen aus den neuen Bundesländern verhinderte. Diese Überlegenheitsallüren verdecken einzig eine heillose Angst vor der eigenen Geschichte. Zu sehr machte sich in der Wiedervereinigung ein mühsames Erbe – auch der Bonner Republik – bemerkbar, das gerade im preussischen Kaiserreich auf das Engste mit Osteuropa verwoben ist.
Die Wiedervereinigung hat den Osten nicht nur dem Westen angegliedert, sondern den Westen auch wieder im Osten verankert. Mittel- und Osteuropa haben eine andere Geschichte als Westeuropa. Die «Disparitäten zwischen Ost und West» jedoch, um noch einmal mit Steffen Mau zu reden, sind seit der Wiedervereinigung erneut «Teil der gemeinsamen bundesdeutschen Geschichte.» So gern die Bonner Republik diese Geschichte der Frakturen vielleicht hinter sich gelassen hätte, so wenig gibt es seit der Wiedervereinigung ein Entrinnen. Dass dem Erinnern – der eigenen Geschichte und nicht der Geschichte der westeuropäischen Referenzgrössen wie Frankreich oder Grossbritannien – angemessen Rechnung zu tragen ist, dürfte in Deutschland nicht unbekannt sein. Wenn die Nürnberger Steinwüsten der Nazi-Zeit sich schon einer musealen Erhaltung erfreuen, wäre die Erhaltung des Palasts der Republik – trotz oder gerade wegen der nachträglichen Idealisierung der DDR im Osten – eigentlich folgerichtig gewesen, um der obsessiven Reduktion der deutschen Geschichte auf Hitler entgegenzuwirken.
Blosse Fassade oder stabiler Staat?
Zu hoffen bleibt, dass der neue deutsche Bundesstaat nicht nur eine Fassade ist, sondern sich endlich auf dem Weg zu einer stabilen und – für die Bewohner:innen seiner Gebiete – vertrauenswürdigen und integren politischen Struktur unabhängig von anachronistischen Fortschritts- und Nationsvorstellungen im Wetteifer mit westeuropäischem Chauvinismus, aber auch unabhängig von eigenem historischem Sendungsbewusstsein befindet. Denn ein Zurück, so anregend Gedanken über das Heilige Römische Reich sein mögen, gibt es nicht. Ungeachtet kritischer Fragen nach seiner Daseinsberechtigung hat das wiedervereinigte Deutschland nichts nötiger als Ruhe. Aussenpolitische Sachzwänge jedoch – Deutschlands Gewicht in der EU etwa oder die Einwanderungspolitik – sorgen immer wieder für Aufruhr. Noch ist die BRD nicht älter, als die DDR oder die Bonner Republik geworden sind. Und auch nicht als das preussische Kaiserreich, bei dem es offenbar Halt gesucht hat. Ob der Abriss des Palasts der Republik dereinst bloss eine verpasste Chance oder doch das Symbol eines folgenschweren Kurzschlusses gewesen sein wird, kann nur Zeit zeigen.
Danke für deine Aufmerksamkeit und denk daran, ich lebe nicht nur von Lob und Freude, sondern auch von Entlöhnung. Für deine Unterstützung bin ich dankbar.
Die Druckfassung dieses Texts als PDF findest du bei Patreon. Das Feuilleton F. kannst du per Paypal oder per Banküberweisung unterstützen.