Kuschen vor Hitler? Oder Höcke und die Landtagswahlen 2024

1’878 Wörter, ca. 10 Minuten

 

Am 01. September 2024 wurde in Sachsen und Thüringen ein neuer Landtag gewählt. In Brandenburg stehen Wahlen am 22. September an. Was zu erwarten war, ist in Thüringen und Sachsen eingetreten und wird sich in Brandenburg mit grösster Wahrscheinlichkeit bestätigen. Die AfD hat noch einmal stark zugelegt und das Bündnis Sahra Wagenknecht ist neu ein Machtfaktor.

 

Apokalypse in 60 Sekunden

 

Ein gespraytes Putinkonterfei, ausgetrocknete Böden, ein brennender Wald. Dann demonstrierende Glatzköpfe. Und wieder Feuer. Im Dämmerlicht eines improvisierten Kinosaals, der auch ein Wahllokal mimt, blickt eine junge Frau mit grösster Eindringlichkeit und halb ausgeleuchtetem Gesicht in die Kamera: «So weit darf es niemals kommen.»

 

 

Vergessen ist zu diesem Zeitpunkt, dass es für einen ganz kurzen Moment in diesem sechzigsekündigen Clip um Zuversicht ging. Vergessen ist, dass der Clip mit dem Brandenburger Tor und Menschen auf der gefallenen Berliner Mauer einsetzte. Vergessen ist, dass es um Klimaschutz ging. Die Apokalypse überlagert alles. Dann springt der Clip abrupt zum Wahlplakat der Grünen und die routinierte Stimme eines Sprechers aus dem Off sagt: «Deine Stimmt ist wichtig, richtig wichtig. Am 01.09. Grün wählen.»

 

Sinnbild der Stimmung

 

Zwischen der Banalität einer Standardansage im Stile des üblichen Hinweises «Lesen sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker» und der diffusen Beschwörung einer existenziellen Bedrohung geht jedes Gefühl für politische Inhalte verloren. Zwar bedienten sich nicht alle Parteien in ihren Clips für die Landtagswahl in Sachsen derselben apokalyptischen Szenerie. Für den politischen Diskurs in Sachsen – und vielleicht in Ostdeutschland überhaupt – ist der Clip der Grünen jedoch sinnbildlich.

 

Gregor Gysi, der Doyen der Linken, hat sich wohl ein letztes Mal in den Wahlkampf gestürzt. (Screenshot welt.de)

 

In Abwehrhaltung zur AfD stellt sich, wer sich nicht schon wie die Linke in weiser Voraussicht selbst marginalisiert hat. Der 76-jährige Doyen der Linken, Gregor Gysi, blickt melancholisch von einem Plakat, während er einer Karl-Marx-Büste liebvoll über den Kopf streichelt: «Mal unter uns, wir würden Ihnen doch fehlen, oder?» Noch aus dieser realsatirischen Pose heraus ist im Clip der Linken allerdings bedeutungsschwanger von einem «Scheideweg» die Rede. Unweigerlich klingt die Schicksalswahl im Juli 1932 an, als Hitlers NSDAP bei Neuwahlen erstmals – und deutlich – zur stärksten Kraft aufstieg.

 

 

Die Lage nach der Wahl

 

Dank zweier Direktmandate in Leipzig schafft die Linke gerade noch den Sprung in den Landtag. Ihr Stimmenanteil von viereinhalb Prozent allein hätte das aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde nicht hergegeben. Kaum schmeichelhafter sieht die Lage für die Grünen aus. Hauchdünn springen sie mit ihrem Anteil von 5,1% über die Hürde. Dank eines Direktmandats im Leipziger Westen der jungen Akademiker:innenfamilien sowie eines Direktmandats in der alternativen Neustadt Dresdens sichern sich die Grünen den Einzug in den Landtag ungeachtet ihres Wähler:innenanteils.

 

Die SPD sieht sich trotz geringer Wähler:innen-Anteils als unverzichtbar. (Fotografie Fabian Schwitter)

 

Die Linke verliert gut die Hälfte ihrer Wähler:innen, die Grünen verlieren knapp die Hälfte. Nur die SPD, 1990 in Sachsen noch stolze Volkspartei mit rund 20%, hält gegenüber den letzten Wahlen von 2019 ihren kümmerlichen Anteil von gut 7%. Aber auch sie spielt auf die instabilen Verhältnisse in der Weimarer Republik an, die letztlich zur Auflösung der Demokratie im Dritten Reich führten: «Stabile Regierung nur mit der SPD.»

 

Wo die AfD in altbekannter Nazi-Manier die Bevölkerung mit faschistischen Versprechungen zugunsten einer wirtschaftsliberalen Politik für global agierende Kapitalist:innen über den Tisch zieht, verspricht Wagenknecht in DDR-Tradition einen eigentlich nationalen Sozialismus. (Fotografie Fabian Schwitter)

 

Zu den Gewinner:innen mit einem Anteil von knapp 12% gehört das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) der ehemaligen Linken-Politikerin. Mit einer kruden Mischung aus Nationalismus und Politik für die – ökonomisch – Abgehängten pflügt sie zuungunsten vor allem der Linken die progressive Hälfte des Politikspektrums um. Deutlich wird einmal mehr, dass sich der Osten seine Parteien sucht. Denn auch die CDU, nach der Wende aufgrund ihrer kirchlichen Anbindung und des Kohlschen Insider-Wissens in Sachen Wiedervereinigung von 1990 bis 2004 mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet, büst seither kontinuierlich an Boden ein.

 

Ausgedünnte Parteienlandschaft

 

Nun stehen also CDU und AfD beinahe gleichauf, während die Höcke-Partei in Thüringen schon deutlich stärkste Kraft ist. Der Graben zwischen Stadt und Land, den etwa die Linke in ihrem Wahlclip mit Bedauern in einem sächselnden Singsang konstatierte, ist beinahe zugeschüttet. Die Zweitstimmen, die nicht an einzelne Köpfe im eigenen Wahlkreis, sondern an Parteilisten insgesamt gehen, teilen sich die AfD und die CDU mit Ausnahme eines einzigen Wahlkreises in der Stadt Leipzig untereinander auf. Die Parteienlandschaft ist im blau-schwarzen Sachsen de facto ausgedünnt. Progressive Städte existieren nur noch in den Kommunalparlamenten.

 

Das allerdings liegt nicht einfach an den Wahlerfolgen der AfD, sondern am politischen Klima in (Ost-)Deutschland insgesamt. Erforderte, «die Demokratie tatsächlich wehrhaft zu machen», wie der Politologe Sascha Ruppert-Karakas in den «Blättern für deutsche und internationale Politik» (5/24) aus seiner Analyse der AfD-Strategie folgert, der «Logik der Feindschaft zu widerstehen», stehen die traditionellen Volksparteien im Osten längst im Schilf.

 

Die defensive Parole der Grünen entpuppt sich angesichts der Wahlresultate zumindest auf Landesebene als frommer Wunsch. (Fotografie Fabian Schwitter)

 

Statt auf die AfD zuzugehen, um sie in ein demokratisches System einzubinden, mag der Verfassungsschutz nun Landesverbände der AfD im Osten als gesichert rechtsextrem und entsprechend demokratiefeindlich einstufen oder nicht, schliessen die traditionellen Parteien sie seit jeher reflexartig aus. So gering ist das Vertrauen in die deutsche Demokratie, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung zugunsten vorschneller Abwehrmassnahmen verweigert wird. Sie wäre aber nötig, ob mensch die Inhalte der AfD nun mag oder nicht.

Diese Siuation spielt der AfD ebenso gesichert in die Karten. Vor dem Hintergrund einer rhetorischen Apokalypse teilen manche ihrer Ideolog:innen die Welt mit Vorliebe in Freund und Feind ein. Die AfD will gar nicht regieren, solange es noch andere Parteien gibt, also sollte sie einbezogen werden, bevor sie wie in Thüringen aus einer Position der Stärke heraus agieren kann. Verfehlt die AfD eine Sperrminorität in Sachsen knapp, ist ihr in Thüringen mindestens diese sicher. So spielt sie ihre destruktive Rolle umso leichter.

 

Hilflosigkeit mit AfD

 

Die politische Hilflosigkeit im Umgang mit der AfD geht so weit, dass immer und immer wieder von einem Parteiverbot die Rede ist. Die Zeit etwa reagiert mit einer Blitzumfrage zur AfD als Gefahr für die Demokratie und zu einem Parteiverbot. Mag sein, dass das vor zehn Jahren noch eine Möglichkeit gewesen wäre. Vielleicht damals, als der Thüringer Björn Höcke mit dem rechten Chef-Ideologen Götz Kubitschek im Rücken vor allem im Osten die Parteilinie vorzugeben begann. Aber heute?

 

Einmal mehr wirft die Zeit nach den Landtagswahlen 2024 in Sachsen und Thüringen die Frage nach einem Parteiverbot auf. (Screenshot Die Zeit)

 

Es wäre eine Katastrophe für eine Demokratie, 30% der Wähler:innen mittels eines Verbots aus dem politischen Betrieb auszusperren, auch wenn Verfahren gegen einzelne Exponent:innen der AfD aufgrund strafbarer Aussagen jederzeit legitim und notwendig sind. Sowohl juristische als auch journalistische Aufklärung im Gegensatz zu autoritären Verboten sind in einer Demokratie das adäquate Mittel im Umgang mit mehr oder weniger verkapptem Totalitarismus.

 

Völkisch hinter vorgehaltener Hand

 

Die Aussichten sind also erst einmal düster: Mit AfD geht es schlecht, aber ohne AfD geht es mittlerweile gar nicht mehr, wenn von Demokratie die Rede sein soll. Da hilft es nicht, ständig den Untergang der Demokratie mit unverhohlenen Anspielungen auf das Dritte Reich an die Wand zu malen. Am Leipziger Schauspiel etwa prangt seit längerem ein Transparent: «Nie wieder ist jetzt!». Unüberhörbar das Echo: «So weit darf es niemals kommen.»

 

Vorbei an einem Stück Berliner Mauer vor dem Stasi-Museum in Leipzig fällt der Blick auf ein Transparent am Schauspiel: «Nie wieder ist jetzt!» Die Geschichte in Deutschland überschlägt sich. (Fotografie Fabian Schwitter)

 

Hat der völkische Demagoge Höcke mit seinen Kumpanen erfolgreich das Freund-Feind-Schema in die demokratische Politik mit ihrer Kompromissorientierung eingeschleust, ziehen andere gebetsmühlenartig Vergleiche zum Dritten Reich. Kein Wunder, dass öffentlich kaum ein Mensch zur AfD stehen will. Die ARD jedenfalls fand am Morgen nach dem Wahltag keine AfD-Wähler:innen in Sachsen.

 

 

Das Misstrauen gegenüber den Medien ist bei vielen Menschen im Osten aufgrund von Jahrzehnten westlicher Herablassung ebenso gross wie die Anrüchigkeit einer Stimme für die AfD bei einer Mehrheit dieser Bevölkerung. Siebzig Prozent der Menschen – sowohl in Sachsen als auch in Thüringen – haben die AfD NICHT gewählt. Und der opportunistische Scharfmacher Höcke konnte auch beim dritten Versuch kein Direktmandat erringen. Bis die AfD in Sachsen bei einer Alleinherrschaft à la CDU ist, wird noch einiges Wasser die Elbe hinunterfliessen. Die AfD müsste ihren Wähler:innenanteil fast verdoppeln. Und selbst dann: So wenig die neuen Bundesländer bei der Wiedervereinigung mit der BRD mitreden konnten, so wenig werden sie die BRD-Demokratie aus den Angeln heben.

 

Weder ist die AfD in Sachsen urban geworden, noch wird sie den Ministerpräsidenten stellen. (Fotografie Fabian Schwitter)

 

Zuversicht statt falsche Vergleiche

 

Das könnte auch Anlass dazu geben, die Zuversicht, die der Wahlspot der Grünen für einen Augenbblick imaginierte, wirklich auszustrahlen. Stattdessen suggeriert die Bildsprache das Schwarz-Weiss einer halbausgeleuchteten Schuld, die noch heute die Welt in Gut und Böse aufteilt. In den links-grünen Innenstädten Leipzigs und Dresdens reden die Leute vom Wegzug aus Sachsen. Aber die richtige Gesinnung allein taugt für ein demokratisches System nicht. Im Gegenteil: Der unbedingte Geltungsanspruch jeglicher ‹richtiger Gesinnungen› ist für eine Demokratie Gift.

Keine Frage: Die deutsche Demokratie hat ihre Fehler. Überhaupt sind die westlichen Demokratien wohl höchst reformbedürftig. Die alten Parteienlandschaften repräsentieren die Realität der Bevölkerung nur noch ungenügend. Das traditionelle System von Regierung und Opposition stösst im diversen 21. Jahrhundert an seine Grenzen. Und mehr Beteiligung der Bevölkerung über den Wahlturnus hinaus stünde wahrscheinlich auch an.

Aber: Trotz des Kriegs in der Ukraine herrscht in Deutschland keine Hyperinflation wie vor hundert Jahren. Keine kriegsversehrten Bettler aus dem Ersten Weltkrieg säumen die Strassen. Ein Börsencrash wie 1929 blieb trotz Bankenkrise 2008/2009 aus und Deutschland zahlt keine Reparationen. Das alles gilt für den Osten genauso wie für den Westen. Mag die AfD auch Nazi-Schläger in ihren Reihen haben, so ziehen dennoch keine SA-Horden durch das Land. Und die Kommunist:innen verteidigen Berlin nicht mit Waffengewalt.

 

Mahnfinger und moralische Schuld

 

Anstelle der Unterschiede zur Situation in der Weimarer Republik werden jedoch mit Vorliebe – paternalistischer Mahnfinger und hysterische Warnstimme im Repertoire – die Ähnlichkeiten herausgestrichen. Kein Mensch braucht zu vergessen oder zu verharmlosen, was die zwölf Jahre Nazi-Herrschaft bedeutet haben. Aber wer aus Übergrösse der moralischen Schuld den Slogan «Nie wieder» zur Staatsräson erklärt und sich so auf Gedeih und Verderb an ein Ereignis bindet, das achtzig Jahre her ist, hat sich die Zukunft längst verbaut.

Egal, welche Politik betrieben wird: Es gibt keine Wiedergutmachung. Die Aufgabe angesichts von moralischer Schuld – so gross sie auch sein mag – ist, mit ihr zu leben. Moralische Schuld als das stehenzulassen, was sie ist, statt mit ihr Politik zu machen, erfordert allerdings mitnichten, diese – im Sinne Höckes – hinter sich zu lassen oder sogar zu negieren.

Politik – zumal demokratische – zu machen, heisst immer, einen Umgang mit dem Risiko zu finden. Es kann unter demokratischen Voraussetzungen keine Option ausgeschlossen werden, so sehr manche sich das auch wünschen mögen. Entweder eine Demokratie schafft es, mit demokratischen Mitteln eine Diktatur zu verhindern, oder sie untergräbt sich selbst. Wenn sich eine Demokratie aber keinem Härtetest wie der AfD mehr aussetzen will, ist das wahrscheinlich eine Bankrotterklärung.

 

Bezüge jenseits des Dritten Reichs

 

Jenseits der unseligen Ost-West-Dichotomie als Folge des Zweiten Weltkriegs müsste es nach dreissig Jahren gemeinsamer Geschichte im wiedervereinigten Deutschland ausreichend Bezugspunkte geben, um zukunftsträchtige Politik zu machen. Stattdessen bleibt offenbar auch den mittlerweile traditionellen Parteien nur der Rückgriff auf die Nazi-Zeit. Ob all des Aufarbeitungsbedarfs – Nazi-Zeit, DDR-Zeit – scheint Deutschland keine Zukunft, sondern nur eine Vergangenheit zu haben. Vielleicht aber ist das in Europa überhaupt der Fall. Gerade dieser historische Bezugspunkt unterscheidet die deutschen Rechten und Neonazis jedoch von all den braunen Gruselgestalten im übrigen Europa. Das Vorbild Hitler für die einen, das absolute Schrechgespenst für die anderen. Dieses Schreckgespenst muss weg, nicht Hitler, aber das Schreckgespenst. Keine Politik mit Hitler, statt Kuschen vor Hitler und der Tatsache des Dritten Reichs.

 

Bei keiner Partei wird die defensive Haltung deutlicher als bei den Grünen. (Fotografie Fabian Schwitter)

 

Vor dem Hintergrund dieses stets dramatischen Rückbezugs auf das Dritte Reich jedoch, bleibt trotz aller Bekenntnisse zur Demokratie in Deutschland immer ein Restverdacht: Wollen die Menschen am Ende nicht doch etwas Wichtiges, etwas Aussergewöhnliches, etwas von welthistorischer Bedeutung erleben? Stehen sie lieber am «Scheideweg», als jahrein jahraus die banalen Mühlen der Demokratie über sich ergehen zu lassen? Dafür bräuchten sie freilich achtzig Jahre nach Hitler einen Höcke als Bundeskanzler und nicht bloss als thüringischen Minister für Waldwirtschaft.

 

 

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  1. Hallo Fabian,

    ein toller Kommentar und eine der besten Analysen die es in nach den Wahlen gibt. Während viele, leider auch der ÖRR, aufgeregt über das absehbare Ergebnis diskutieren und in den Talkshows immer öfter polarisierende Personen für die Einschaltquote eingeladen, ihre kruden und populistischen Talking Points die Grenzen des sagbaren fleißig beweglich halten.

    Ich danke Dir sehr und freue mich, mehr von Dir zu lesen.

    Herzliche Grüße aus Dresden,
    Rolf

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