Als Griechenland nicht aufholte (Deutsche Einheit Teil II)

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In Deutschland erscheinen Wende und Wiedervereinigung trotz kritischer oder enttäuschter Stimmen sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen meist als Erfolgsgeschichte. Zweifelsohne brachte der Fall des Eisernen Vorhangs etwa zerrissene Familien wieder zusammen. Aber ob er auch das neue Europa im erhofften Mass zusammengebracht hat?

 

Von drohenden Kurzschlüssen

 

Kurzschlüsse prägen die Politik nicht nur, wenn es um den Abriss symbolträchtiger Gebäude wie des Palasts der Republik geht. Dass die Wende und der Fall des Eisernen Vorhangs Europa verändern würden, lag auf der Hand. Wie konkret die neue deutsche Binnenpolitik jedoch die europäische Integration beeinflusst hat, gerät gut dreissig Jahre nach den getroffenen Entscheidungen allmählich in Vergessenheit.

Ganz vom Tisch war die Wiedervereinigung nie und selbst Forderungen nach einer Rückkehr der Vertriebenen in die deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie hielten sich beharrlich. Nach Konrad Adenauers Rücktritt als erster Kanzler der BRD 1963 arrangierte sich eine pragmatische Politik jedoch mehr und mehr mit der Tatsache, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs zwei deutsche Staaten – die BRD und die DDR – hervorgebracht hatte. Nach Jahren eines jeweiligen Alleinvertretungsanspruchs aller «Deutschen» erfolgte Anfang der Siebzigerjahre die gegenseitige Anerkennung der beiden Deutschen Staaten und ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen.

 

Von drängenden Fragen

 

Natürlich wäre jeder Kanzler der Bonner Republik seit der Teilung Deutschlands gerne der Kanzler der Wiedervereinigung geworden. Und als sich Helmut Kohl 1989 unverhofft die Chance bot, war die Versuchung, zugunsten der Wiedervereinigung Deutschlands auch europapolitisch eine Wende zu vollziehen, nicht mehr von der Hand zu weisen. Im Herbst 1989 drängte die Zeit. Die zahlungsunfähige DDR drohte zu implodieren und die DDR-Bewohner:innen suchten in Scharen das Weite. In Berlin schlugen die Menschen mit Vorschlaghämmern auf die Mauer ein, währende die Volkspolizei verblüffenderweise ebenso tatenlos zuschaute wie das Militär. Was war angesichts dessen zu tun? Wie lange, wenn überhaupt, würde Moskau dieses Treiben dulden? Die Erinnerungen an die militärischen Interventionen der Sowjetunion in der DDR (1953), in Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) waren mitnichten verblasst.

 

Von draufgängerischen Kompromissen

 

Den Menschen in Deutschland die Wiedervereinigung zu verwehren, wäre unmenschlich gewesen. Zugleich hatte jedoch kaum ein Staat in Europa ein Interesse an einem wiedervereinigten Deutschland. Im Gegenteil: Die Ängste vor der Macht und dem Expansionswillen des potenziell grössten Staats Europas geisterten nach wie vor durch London und Paris. Und auch die Staaten des Warschauer Pakts – insbesondere das mehrfach aufgeteilte Polen – hatten mit Blick auf die Geschichte Grund zu Befürchtungen. Die – friedliche – Wiederveinigung Deutschlands würde also ihren diplomatischen Preis haben.

Wie hoch dieser Preis auch gewesen sein mag: Es wäre einer übermenschlichen Verzichtsleistung gleichgekommen, hätte Kohl sich nicht um eine rasche Wiedervereinigung bemüht, auch wenn tragfähige Kompromisse, der Kern demokratischer Politik, üblicherweise Zeit brauchen. Und so wissen wir heute: Vom Fall der Berliner Mauer im November 1989 bis zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 verstrichen kaum zwölf Monate. In diesen zwölf Monaten handelten Vertreter:innen der Bonner Repbulik und Vertreter:innen der DDR einen Beitrittsvertrag aus, der die ehemalige DDR der BRD angliederte. Das horrende Tempo war möglich, weil de facto und de jure eben eine Angliederung war, was Wiedervereinigung heisst.

Diese Verhandlungen benötigten auf Seiten der Bonner Republik kaum Kompromisse und auf Seiten der DDR eher eine Kapitulation als irgendwelche Kompromisse. Wolfgang Schäuble, als Innenminister Verhandlungsführer der BRD, habe einen Vertrag mit sich selbst geschlossen, kommentierte der westdeutsche Philosoph Jürgen Habermas am 11. Dezember 1992 sarkastisch in der «Zeit». Kein Wunder allerdings angesichts der Umstände, wie sie der Historiker Philipp Ther noch dreissig Jahre später in seinen Essays «Das andere Ende der Geschichte» (2019) in einem pointierten Bild festhält: «Die Asymmetrie der Macht zwischen Ost und West war jedem Fernsehzuschauer bewusst, der den riesigen, massigen Helmut Kohl neben dem zierlichen, zerbrechlichen Lothar de Maizière sah, der nach den Volkskammerwahlen vom März 1990 als letzter Ministerpräsident der DDR die Verträge zur deutschen Einheit aushandeln musste.»

Kompromisse waren dagegen mit Blick auf Europa nötig. Die Oder-Neiße-Linie sollte, nicht zuletzt zur Beruhigung der Sowjets, selbstverständlich nicht angetastet werden. Immerhin hatten die Sowjets einer Wiedervereinigung Deutschlands zuzustimmen, sollte ein Krieg in Europa verhindert werden. Und um die Beziehungen zu Frankreich nicht zu belasten, kam Deutschland dem französischen Begehren bereitwillig nach, an der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands teilzuhaben. Das Fundament dieser wirtschaftlichen Stärke ortete François Mitterrand, der damalige Präsident Frankreichs, in der D-Mark. In der Folge sollte die ohnehin beschlossene Währungsunion beschleunigt werden. Der Historiker Heinrich August Winkler resumiert in seiner «Kurzen Geschichte der Deutschen» (2022) unmissverständlich: «In der Praxis hieß das, der monetären Einigung Westeuropas den Vorrang vor der politischen Einigung einzuräumen. Hatte die Bundesrepublik bisher auf einem Junktim von Währungs- und Politischer Union bestanden, so lockerte Kohl diese Verbindung dadurch, dass er der Behandlung dieser Themen in getrennten Regierungskonferenzen zustimmte.» 1999 erfolgte die Einführung des Euro als Buch- und drei Jahre später als Bargeld in zwölf Staaten. Eine europäische Verfassung dagegen scheiterte 2005 am Veto der französischen und niederländischen Bevölkerungen. Weder die Europäische Union noch das wiedervereinigte Deutschland ruhen auf einer gemeinsam erarbeiteten und von den Stimmberechtigten auch gutgeheissenen Verfassung.

 

 

Die Bonner Regierung hatte die politische Entwicklung Europas im Blick gehabt, bis das Schicksal ihr mit der Wende eine nationalistische Versuchung vor die Nase setzte, die sich als unwiderstehlich erwies. Auch für die sittlichen Musterschüler:innen in Deutschland, die sich häufig noch heute durch einen besonderen Moralismus von der Verlegenheit zu befreien versuchen, die Schuld an zwei Weltkriegen in die Schuhe geschoben zu kriegen und die Nachkommen des Nazi-Regimes zu sein, bewahrheitete sich die kapitalistische Weisheit: Alles hat seinen Preis. Die Katastrophe allerdings bahnte sich an. Europa gleicht bislang eher einer gigantischen Freihandelszone mit teilweise gemeinsamer Währung als einer politischen Union. Die Diskrepanz zwischen den Sachzwängen der wirtschaftlichen Integration und den mangelnden politischen Steuerungsinstrumenten sollte sich bemerkbar machen.

 

Von dramatischer Liberalisierung

 

Der Sozialist Mitterrand nahm damit auf europäischer Ebene ideell vorweg, was Staatsoberhäupter wie der Labor-Politiker Toni Blair oder der Sozialdemokrat Gerhard Schröder auf nationaler Ebene umsetzen sollten: eine neoliberale Lösung der Wirtschaft von der Politik. Noch vor Blairs New Labor (1994-2010) in Grossbritannien und Schröders Agenda 2010 (2003-2005) mit ihrem Sozialabbau zugunsten eines flexibleren Arbeitsmarkts, der Deutschlands Exportmacht gegenüber anderen Ländern in Europa zementierte, fungierten die neuen Bundesländer als «Labor der Globalisierung» (Ilko-Sascha Kowalczuk).

Zur Linderung der Massenarbeitslosigkeit im Zuge der fortschreitenden Abwicklung der DDR-Wirtschaft durch die eigens dafür geschaffene Treuhandanstalt wurde bei den Löhnen da und dort ein Auge zugedrückt. Prekäre Arbeitsverhältnisse wurden schon einmal in Kauf genommen. Ebenso findige wie windige Unternehmer:innen aus dem Westen fanden nicht zuletzt im Wilden Osten vortreffliche Geschäftsbedingungen. Selbstredend wirkte sich das auch auf die Arbeitsrechte in Deutschland insgesamt aus. Seither denkt, wer Deutschland hört, nicht selten an ein Billiglohnland, das tiefe Arbeitslosenquoten mit schlechten Löhnen bezahlt, auch wenn sich das aufgrund der Einführung des Mindestlohns 2015 womöglich gerade wieder ändert.

Die massive Arbeitslosenunterstützung wiederum, die den Menschen im Osten nach der Wende nicht nur das Überleben, sondern auch die Partizipation am westlichen Konsum sicherte, wurde mit Transferzahlungen finanziert, was de facto eine Umverteilung im Westen bedeutete. Die staatlichen Transferzahlungen wanderten über den Konsum der Menschen in Ostdeutschland zurück in die Industrie im Westen, deren Produkte die Regale in den Supermärkten und Kaufhäusern füllten.

Denn von der Industrie im Osten war kaum mehr etwas übriggeblieben, nachdem die Einführung der D-Mark durch die Wiedervereinigung eine Abwertung der ostdeutschen Währung zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit verunmöglicht hatte. Woher hätten die Produkte nach der Wende also kommen sollen, wenn nicht aus dem Westen? Das kurbelte im Westen die schwächelnde Konjunktur an. Was zunächst allen willkommen war, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gewinne aus dem neuen Absatzmarkt in Ostdeutschland im Westen in private Taschen flossen.

Trotz der stiefmütterlichen Behandlung Ostdeutschlands, das exemplarisch für den Umgang mit Osteuropa nach der EU-Osterweiterung stehen kann, bestand erst einmal wenig Grund zur Sorge. Die Türme des World Trade Centers stürzten schliesslich in den USA ein, während sich die europäischen Schwergewichte immer noch selbstgerecht zum Fall des Eisernen Vorhangs und einer neuen Partnerschaft mit Russland gratulierten. Sorgten nach wie vor die Vereinigten Staaten für militärische Sicherheit, konnte sich die alte EU bedenkenlos mit der Osterweiterung überfordern. Erst die Krise auf dem Hypothekenmarkt, die Finanzinstitute wie die Investmentbank Lehman Brothers in den Ruin trieb, trübte das Bild merklich.

   

Von darbenden Griech:innen

 

Wie keine Krise zuvor erschütterten die Folgen der sogenannten Subprime-Krise Europa. 2010 drohte Griechenland – wie einst der DDR – die Zahlungsunfähigkeit. Aufgrund der gemeinsamen Währung konnten Instrumente wie die Abwertung der Währung zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit, die Griechenland traditionell zur Verfügung gestanden hatten, nicht mehr greifen. Und ein Austritt aus der Eurozone schien unabsehbare Konsequenzen zu haben. Wirksame politische Mittel, um Griechenland zu mehr Budgetdisziplin zu bewegen, standen jedoch auch nicht zur Verfügung.

Ausgerechnet die äusserst umstrittene Treuhandanstalt, die sozialistisches Staatseigentum privatisiert hatte, feierte in dieser ausweglosen Situation eine Auferstehung. Jean-Claude Juncker, damals noch Ministerpräsident Luxemburgs, pries 2011 «die Treuhandanstalt als erfolgreiches Vorbild» an, wie der Historiker Marcus Böick, der die Debatte um die Treuhandanstalt in seinem Buch «Die Treuhand» (2020) aufgearbeitet hat, ins Gedächtnis ruft. Tatsächlich sollte eine solche Treuhandgesellschaft ab 2015 griechisches Staatseigentum privatisieren, um Geld in die klammen Kassen des griechischen Staats zu spülen. «Bezeichnenderweise», so Böick weiter, «mied Bundeskanzlerin Angela Merkel jedoch den vorbelasteten Terminus ‹Treuhandanstalt› auf der Pressekonferenz in Berlin – eine Vorsicht, die Bände über das schwierige Image der Treuhand spricht: Die Treuhandanstalt sollte effektiv historisches Vorbild für Griechenland sein, durfte aber nicht offen als solches benannt werden.» Was einem neoliberalen Westen als Erfolgsmodell erscheinen mochte, sorgte in Deutschland für die wohlbekannte Verlegenheit und in Griechenland für Wut und Ohnmacht.

Dennoch sollte derselbe Schäuble, der 1990 bei der Wiedervereinigung Deutschlands einen Vertrag mit sich selbst geschlossen hatte, als gestrenger Finanzminister des verantwortungsbewussten Gläubigerstaats Deutschland von 2009 bis 2017 die griechischen Schuldner:innen massregeln, damit sie sich der deutschen Produktivität und Effizienz in der Steuerverwaltung annäherten, und massgeblich eine europäische Vergemeinschaftung der Schulden verhindern, um eine alternativlose Politik wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit zu verteidigen. Die disziplinlosen Südeuropäer:innen Griechenlands, aber die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Griechenland und Deutschland wurde hauptsächlich um die Nazi-Vergangenheit geführt, waren in seinen Augen offenbar um keinen Deut besser als die unproduktiven Sozialist:innen der DDR. Unzweifelhaft erscheint daher auch der Umstand, dass die Europäische Zentralbank als Symbol europäischer Prosperität in Frankfurt am Main und nicht etwa in Thessaloniki in den Himmel ragt.

 

Die glorreiche Vergangenheit, auf die sich manche Griech:innen gerne berufen, liegt weit zurück. Übrig geblieben sind davon meist Ruinen wie die Akropolis in Athen. (© Christo Anestev, pixabay.com)

 

Was für die Zentralbank gilt, trifft auch auf andere Institutionen der Europäischen Union zu. Das Europäische Parlament (Legislative, grosse Kammer) befindet sich in Strassburg, Brüssel und Luxemburg, der Rat der Europäischen Union (Legislative, grosse Kammer) in Brüssel, die Europäische Kommission (Exekutive) ebenfalls in Brüssel, der Europäische Gerichtshof (Judikative) in Luxemburg und eben die Europäische Zentralbank in Frankfurt a. M. Das ominöse Strategiegremium der Regierungsoberhäupter, der Europäische Rat, ist natürlich auch in Brüssel angesiedelt. Dass die EU historisch gewachsen ist und ihren Ursprung in Westeuropa hat, müsste jedoch nicht zwingend zur anhaltenden Ballung der institutionellen Machtzentren führen. Sicher, die kurzen Wege vereinfachen die administrativen Abläufe. Und erschweren sie für diejenigen mit längeren Wegen. Von Rumänien oder Bulgarien jedenfalls ist selten etwas zu hören, aber da befinden sich auch keine der dezentralen Agenturen der EU, die immerhin über die Länder der EU verteilt sind. Und der Euro wurde ihnen – im Gegensatz zu Griechenland, das mit Hilfe von Investmentbanken vom Kaliber der Lehman Brothers unter der Hand die Staatsschulden beschönigte – vorenthalten.

 

Von denkwürdigen Retourkutschen

 

Die Staaten im Südosten Europas jedoch dachten sich fortan – und wohl überhaupt – ihren Teil ob der alternativlosen Wettbewerbs- zuungunsten einer Vergemeinschaftungspolitik. Während im Norden händeringend um Kooperation ersucht wurde, liessen die Griech:innen Geflüchtete trotz des Dublin-Abkommens, das de jure die Zuständigkeiten bei Asylanträgen innerhalb der EU regelt und de facto die Staaten mit EU-Aussengrenzen insbesondere im Süden (Spanien, Italien, Griechenland) übervorteilt, ziehen. Zu Hundertausenden erreichten die Geflüchteten im Sommer 2015 Deutschland. Die Apelle an die Solidarität bei der Bewältigung dieses Andrangs verhallten jedoch in den Staaten Osteuropas – insbesondere in den zunehmend selbstbewussten Ländern wie Polen oder der Slowakei – damals wie heute genauso, wie die Hilferufe aus dem Süden (Italien, Griechenland, Spanien) im Norden regelmässig auf taube Ohren stiessen.

Hatten die europäischen Exportverhältnisse – etwa im Fall von Rüstungsgütern – für einen zügigen Rückfluss der Gelder aus den Rettungskrediten aus dem Süden in den Norden gesorgt (wie bei der geschilderten Umverteilung zur Wendezeit), so mochte es scheinen, als zahle Griechenland seine Schulden in Form von Geflüchteten ab (wie bei der Migration von Ost nach West zur Wendezeit). Sollte es davor noch Zweifel gegeben haben, war nun klar: Auch das wiedervereinigte Deutschland ist ein Einwanderungsland und sollte schleunigst überkommene nationalstaatliche Homogenitätsfantasien auf den Misthaufen der Geschichte befördern. Da politische Rechte bis dato jedoch nur im Nationalstaat garantiert sind, bleiben internationalistische Ansprüche – etwa an die Europäische Union – demokratisch prekär und völkische Regressionen wie in der AfD folgerichtig.

Noch kurz bevor die Flüchtlingskrise den Aufstieg der AfD zu einer ernstzunehmenden Partei befeuern sollte, marschierten grüne Männchen mit der nötigen Feuerkraft in die Ostukraine ein. Das konsolidierte Russland nutzte die Zerstrittenheit Europas, um sich unter einem Mäntelchen historischer Argumente, dessen Fadenscheinigkeit keinem russischen Winter standhält, angesichts der auslaufenden Pacht des Militärhafens von Sewastopol klammheimlich die Halbinsel Krim einzuverleiben. Das ostdeutsche Dilemma mit der Einwanderungsfrage – lieber grüne Männchen aus Sibirien oder Geflüchtete aus Syrien? – sprengte die alte Parteienlandschaft Deutschlands endgültig.

Wie war das noch einmal gewesen mit der Migration? Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr, hatte ein erpresserischer Wende-Slogan gelautet. Kommt der Euro nicht zu uns, gehen wir zu ihm, dachten sich die Maghrebiner:innen und schickten schon einmal Leute über das Mittelmeer. Ein EU-Beitritt mit entsprechender Personenfreizügigkeit würde dann ja blosse Formsache sein, auch wenn das Beitrittsgesuch zur EWG von 1987 noch abgelehnt worden war. Übrigens gehörte Algerien als Kolonie Frankreichs 1952 zur Gründungsgemeinschaft der Montanunion, der ersten Vorläuferorganisation der heutigen EU.  Ob das die EU von ihrem Ursprung her ebenso islamisch wie christlich macht?

 

Von drei oder mehr Parteien

 

Der Aufstieg der AfD und der zunehmende Zerfall der SPD und der CDU brachten – etwa mit dem Team Sahra Wagenknecht, das sich von der Linken abspaltete, aber auch mit Splitterparteien im Dunstkreis der AfD – weitere Gruppierungen hervor. Die Regierungsbildung dürfte fortan im ehemaligen Zweiparteienstaat zusehends schwieriger werden. Hatte man, so Winkler, in der Bonner Republik nach den Erfahrungen mit der zersplitterten Parteienlandschaft der Weimarer Republik – gewürzt mit einer ordentlichen Portion Skepsis gegenüber dem sogenannten Volkswillen – auf zwei grosse Volksparteien für stabile Regierungen gesetzt, zerfällt das System in der ausdifferenzierten Interessenlandschaft des 21. Jahrhunderts. Schon die grosse Koalition der beiden traditionellen Volksparteien SPD und CDU, die unter der Kanzlerinnenschaft Angela Merkels mit einem Unterbruch von vier Jahren (Kabinett Merkel II, Koalition mit FDP) unter bewusstem Ausschluss der SED-Nachfolgerin Die Linke zwischen 2005 und 2021 regierte, war angesichts dessen eine Verlegenheitslösung gewesen.

Gegen den grauen Grokobrei, eine Art Machtkartell der alten Bundesländer, kochen im Osten mit der Linken und der AfD jedenfalls zwei Parteien ihr Süppchen, die von den etablierten Parteien CDU und SPD nicht als regierungsfähig angesehen werden und folglich auf Bundesebene als Koalitionspartner nicht in Frage kommen. Nach wie vor grassiert in Deutschland die Vorstellung, eher die Regierung vor dem Volk als das Volk vor der Regierung schützen zu müssen. Und zum zweiten Mal innerhalb von hundert Jahren, nachdem die wettbewerbsorientierte Freihandelspolitik des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege und das Nazi-Regime heraufbeschworen hat, erlebt Deutschland, dass eine vermeintlich alternativlose Politik des Wettbewerbs von selbst Alternativen hervorbringt, die dann ihrerseits keine Alternativen mehr dulden.

 

Angesichts solcher Bilder wie aus dem KZ Sachsenhausen kommt die Rede von deutschen Arbeitstugenden andernorts begreiflicherweise schlecht an. (© Brownphoto, pixabay.com)

 

Warum jedoch Volk und Regierung in einer Demokratie nicht Hand in Hand gehen sollen, bleibt fragwürdig. Nicht die Gesinnung mehr oder weniger demokratischer Menschen entscheidet über Wohl und Wehe der Demokratie, sondern die Eingebundenheit aller Menschen in ein tragfähiges System. An diesen merkwürdigen Einstellungen gegenüber demokratischen Verhältnissen änderte auch Angela Merkel, gleichermassen die erste weibliche und die erste ostdeutsche Kanzlerin, wenig.

 

Von dürftigen Bilanzen

 

Die Krisenkanzlerin bemühte sich zwar um europapolitische Stabilität und imaginierte Deutschland als Hort Europas, hatte aber von ihrem Ziehvater Helmut Kohl aufgrund seiner Entscheidungen bei der deutschen Wiedervereinigung mit grösster Wahrscheinlichkeit vor allem ein schlechtes Gewissen gegenüber Europa und die unausgegorene Eurozone geerbt. Gepaart mit der historisch geknebelten Aussenpolitik, die trotz der realen Macht Deutschlands aufgrund der eigenen Geschichte ständig zaudert, ergibt sich europapolitisch eine dürftige Bilanz der Regierungszeit Merkels. All die bewundernswerte Bedachtheit im Zirkus der krakeelenden Clowns von Boris Johnson bis Viktor Orban konnte weder den Brexit verhindern noch die europäische Einigung entscheidend voranbringen.

Die Griechenlandkrise zementierte das nationalstaatliche Denken anstelle von fiskalischer Vergemeinschaftung und verteidigungspolitisch verliess sich auch Merkel – wie alle anderen – auf die transatlantische Nato. So konnte Deutschland im Windschatten der Vereinigten Staaten weiterhin weniger einem Pazifismus der politischen Überzeugung als einem verlegenen Pazifismus des schlechten Gewissens frönen. Aber eine Union ohne gemeinsame Finanz- und Verteidigungspolitik ist eben nur eine Freihandelszone. Merkels Unaufgeregtheit vermied krampfhaft Kurzschlüsse, nur um am einzigen Schnellschuss ihrer Kanzlerinnenschaft zugrunde zu gehen. Angesichts der Ankunft der vielen Geflüchteten im Sommer 2015 hatte sie gefordert: «Wir schaffen das.» Menschlich ebenso richtig wie die Wiedervereinigung nährte es jedoch vor allem die Häme gleichgültiger und überzeugter Rassist:innen von rechts.

2022, noch bevor das Kabinett Scholz aus SPD, Grünen und FDP 100 Tage hinter sich hatte, verwandelte Putin den bewaffneten Konflikt in der Ostukraine in einen handfesten Krieg. Und die bequeme Fehleinschätzung, mit Putins billigem Gas sei problemlos Profit zu machen, setzte Merkels Bilanz die Krone auf. In der Zwischenzeit hatte sich Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder, mit seinen Mandaten bei russischen Energiekonzernen als oberster Lobbyist Putins verdient gemacht. Dennoch ist es mit der sogenannten Friedensdividende endgültig vorbei. Dass das friedliche Europa, für das die EU den Friedensnobelpreis erhalten hat, nie friedlich war, ging in den selbstgerechten Grossstaaten Westeuropas allzu leicht vergessen. Just Griechenland, das unter anderem deswegen auch deutsche Rüstungsgüter braucht, führt seit Jahrzehnten einen kalten Krieg gegen die Türkei, der eine EU-Mitgliedschaft schmackhaft gemacht wurde, nur um sie wegen Bedenken gegenüber dem Islam vom Tisch zu wischen. In den 80ern und 90ern sorgten separatistische Bewegungen in Spanien und Irland sowie die Jugoslawienkriege für Blutvergiessen. In den Nullerjahren beteiligten sich mehrere europäische Staaten am Krieg gegen den Terror. Und ab 2014 waren die europäischen Grenzen ob der russischen Aggression in der Ukraine wieder in Gefahr. Die Staaten in Osteuropa fürchteten nicht nur die historischen Expansionsgelüste Deutschlands. Insbesondere die baltischen Staaten, mittlerweile Teil der EU, fürchteten sich ebensosehr vor russischen Begehrlichkeiten.

Derweil bleibt die EU ein halbherziges Projekt ohne Handlungsspielraum. Wer auch immer aufzuholen hatte angesichts der europäischen Einigung, ob die neuen gegenüber den alten Bundesländern, Griechenland gegenüber Deutschland oder Ost- gegenüber Westeuropa: Fakt ist, dass die Geschichte die Nachkommen der Entscheidungsträger:innen einholt. Die deutschen Politiker:innen nahmen ihre Gestaltungsmacht nicht wahr, als es möglich und nötig gewesen wäre. Stattdessen opferten sie Europa zum wiederholten Mal auf dem Altar der deutschen Einheit.

Das Feilschen um die D-Mark gab 1989 die Entwicklungsrichtung der EU weit mehr vor als hehre Werte wie demokratische Mitbestimmung. Just in dem Moment, in dem sich die Bevölkerung der DDR mit Blick auf demokratische Freiheiten eines diktatorischen Regimes entledigte, griffen gierige Hände von allen Seiten nach der D-Mark. Und Kohl liess es bereitwillig zu. Die demokratischen Freiheiten aber waren fortan verkauft. Der Kalte Krieg hatte sie stark gemacht, mit der Öffnung der Mauer lösten sie sich in Luft auf. Ob sie sich rechtzeitig wieder manifestieren werden?

Die historische Tatsache der Einheit zu akzeptieren und ihre menschliche Richtigkeit anzuerkennen, kann nie heißen, ihren politischen Preis zu verschweigen. Die innerdeutschen Wendekosten sind das Paradigma für Europa. So könnte eine kurze Geschichte der Wiedervereinigung aus europäischer Perspektive klingen. Pervers bleibt angesichts all dessen jedoch, dass die Schweizer Politik der geschäftstüchtigen Neutralität gegenüber der EU – das wird im Nachhinein schmerzlich bewusst – einmal mehr Recht behalten sollte.

 

 

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