Deutscher werden: eine Frage von Zeit und Raum

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Seit einigen Jahrzehnten teilt sich Deutschland in Ost und West. Dass Menschen im Süden die gleiche – oder gar dieselbe – Sprache sprechen, aber nicht Deutschland angehören, kommt in Deutschland dagegen selten in den Blick. Die Annäherung an dieses Thema, legt der Südtiroler Dichter Oswald Egger nahe, verlangt nach literarischen Mitteln.

 

Vom Süden

 

Der Südtiroler Dichter – und da ist Dichter angebracht, auch wenn er sich vielleicht und sicher seinen Vater als Paschgänger (Schmuggler) vorstellt – Oswald Egger, verkörpert die Spannung zwischen Nord und Süd wie wenige. Er, der mittlerweile (auch) in Deutschland lebt und an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel lehrt, verfasste 2013 eine kleine Schrift von 23 Seiten: «Deutscher sein». Mehr Raum braucht nicht, wer sich bescheiden an die Frage macht, wer (die Menschen) oder was (die Wörter) denn deutsch sei. Warum aber drängt sich da – wie schon zu Zeiten Hölderlins – der Süden vor?

Friedrich Hölderlin in einem Porträt Franz Karl Hiemers von 1792. (gemeinfrei, zeno.org)

In einem Brief an Casimir Ulrich von Böhlendorff von 1802 berichtet der Württemberger Dichter über seine Reise nach Bordeaux, er sei von «Apollo geschlagen» worden. Fortan – ob Einsicht oder doch Sonnenstich – sollte er bald vom Mittelmeer und von Griechenland singen, bald von beiden halluzinieren und sie zeitlebens doch nie sehen. Auch Egger erinnert sich der «vaterländischen Gesänge» Hölderlins und rekurriert – selbst wie Hyperion aus dem Süden nach Deutschland kommend – auf den gleichnamigen Roman des schwer zu fassenden Dichters: «Ich forderte nicht viel und war gefasst, noch weniger zu finden (sagt Hölderlin): So kam ich unter die Deutschen.» Warum will ich, vor einigen Jahren selbst unter die Deutschen gekommen, gerade Egger lesend nicht – und doch –, nur Tirol oder Deutscher sagen? Immerhin hält Egger selber fest: «Deutschland, Deutschland singt und sagt etwas ganz anderes über alles als – Tirol, Tirol

 

In den Osten

 

«Dunkelheit und Tiefe: sie fehlen dem Wald gewiß nicht.» – So fängt Egger an und wandert auf verschlungenen Pfaden – «in bivio», aber nicht etwa nach Canossa – von Verzweigung zu Verzweigung durch die Äste und Gabeln eines Dickichts über Wurzelstock und Steinblock hinauf – ein Paschgänger – zu den Pässen zwischen den heutigen Staaten Italien, Österreich und Schweiz: Grenzgebiet und Schmugglerland. Dunkel – «fast übergangslos ist die Nacht über den Wald herabgesunken» – bricht sich die Ahnung Bahn, Antwort auf die Frage – in welcher Sprache auch – zu geben, ist nicht leicht. «Wir Deutsche tun uns» – ohnehin, zurückgewandt schreibt Egger dies zu Adenauer und dem Schlager «Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien» – «schwer leichter.» Aber wer (die Menschen) oder was (die Wörter) sind wir? Dem Schmuggler, von einem Ort zum anderen unheimliche Ware für gleichgültiges Geld tauschend, ist Dunkelheit – fürwahr – ein Geschenk.

Nicht von ungefähr beginnt Egger seinen Weg in einem von nur drei italienischsprachigen Dörfern nördlich der Alpenwasserscheide. Das Dorf Bivio (der Name geht auf die Herberge – stabulum – an der Wegscheide – bivium – der beiden Pässe Septimer und Julier zurück) mag – halb katholisch, halb protestantisch – als Ort mit der grössten Sprachenvielfalt in der vielsprachigen Schweiz gelten. Es verbindet über den Julierpass das Albulatal mit dem rätoromanischen Engadin, über den Septimerpass das italienischsprachige Bergell mit dem Albulatal unter dem bischöflichen Einfluss der – seit dem 15. Jahrhundert deutschsprachigen – Stadt Chur. Dass entlang der Albula seit den Neunzigern neu gewiss auch albanisch gesprochen wird, will ich – Schmuggelei hin oder her – nicht unterschlagen.

Wer nun auf dem Septimer nicht gleich hinuntersteigt, sondern sich westlich haltend zur Forcellina – eine Heugabel zum Beispiel, auch ‹Furgge› genannt, wiewohl verniedlicht, also zum Gäbelchen – hinaufsteigt, erreicht das Averstal mit der Walsersiedlung Juf, dem auf 2126 m. ü. M. höchstgelegenen Ort in den Alpen, der ganzjährig bewohnt ist. Vor dreissig Jahren, wir kamen mit der ganzen Familie von Maloja her – damals weder Egger noch Büchner im Gepäck – «durchs Gebirg», ich war vielleicht zwölf, gab es in Juf sogar noch eine Jugendherberge. Wir logierten in einem umfunktionierten Geissstall und assen abends Leber, während draussen der Averserrhein – ein rechter Nebenfluss des Hinterrheins, der sich bei Reichenau mit dem Vorderrhein zum Rhein vereinigt – in Richtung Nordwesten talwärts floss. Dieser Rhein, den Hölderlin in seiner Hymne «Der Rhein» als deutschen Fluss schlechthin verstand, speist sich, darauf wies mich Charles de Roche unvergesslich hin, aus mindestens neun – mehr oder weniger grossen – Quellflüssen, von denen keiner in Deutschland entspringt. Aber ich schweife ab und, Egger wendet sich nach Osten, gerate – wie könnte es angesichts der Frage auch anders sein – auf Abwege.

 

Aus dem Norden

 

Also zurück, auf den kaum zu erahnenden Wegspuren der alemannischen Walser womöglich, die vor tausend Jahren schon die deutsche Sprache vom Oberwallis her über die Pässe – und so verblüffender Weise nicht selten von oben statt von unten her in die Täler kommend – vom Westen, im Süden des Sprachraums selbstredend, in den Osten getragen hatten, über den Septimer zum Bernina- und dann über den Violapass vielleicht hinunter nach Bormio, über den Passo del Tonale endlich in Richtung Val di Non im Südtirol, wo Egger dem eingegrabenen Bett der Novella, sozusagen eine dem Bach gleiche Sprachgeschichte, entlang – in einem Untal wie einer Utopie, einem Unort, wahrscheinlich – als zwölfjähriges Kind geschmuggelten Wein wortreich mit Gewinn an teutonische Touristen im Trentino-Alto Adige verschachert und im Unding derselben, aber ich (als Schweizer) kenne nur die gleiche, Sprache dem angereisten Volk aus dem Norden nur mit Mühe – gewissermassen tautologisch, wie er heute augenzwinkernd festhält – nach dem Mund zu reden weiss, aber sich natürlich kaum verständlich machen kann.

Tauto bedeutet am Belt Volk, aber der Etsch entlang: seinesgleichen selbstredend.

Tausend Jahre vor den alemannischen Walsern, etwa 120 v. Chr., wanderten die germanischen Völker der Teutonen und Kimbern auf ver-schlungenen Pfaden vom Belt her, den Meerengen um Dänemark und Norddeutschland, durch halb Europa. Es waren dann allerdings nur die Kimbern, die bei der Etsch, einem Fluss im heutigen Südtirol, die römischen Legionen schlugen, bevor sie selbst auf den Raudischen Feldern restlos aufgerieben wurden. Die gut zweitausendjährige Klammer um die nördlichsten und südlichsten Gebiete eines Sprachraums jedoch versinnbildlicht – teils deutsch, teils deutlich – die Erschwernis des Verstehens und weckt in Anbetracht der Dinge im Zentrum kein Lied, sondern allenthalben den Wunsch nach grammatischer Reglementierung zu Zwecken der reibungslosen Verständigung auch an den Rändern eines Reichs, wo der Raum wie die Sprache – wenn in der Vertikalen schroffe Bergketten oberhalb der Waldgrenze in den Himmel ragen oder in der Horizontalen salzig-baumlose Landzungen und Sandbänke ins Meer – ausfranst.

Ich mach mir solche Sorgen um die Gäste: Wollen sie die Sprache nicht verstehen, nur beherrschen?

Allerdings: Die disziplinierten Legionen Roms, die gerade deswegen andere Völker ihrer Zeit jahrhundertelang zu beherrschen vermochten, waren streng reglementiert. Und doch bekamen auch sie Tiefe und Dunkelheit des Walds zu spüren, als rund hundert Jahre nach der Schlacht auf den Raudischen Feldern, nunmehr nach Christus, die drei Legionen des Varus – von Arminius und seinem zusammengewürfelten Haufen halbromanisierter Germanen im Teutoburger Wald in einen Hinterhalt gelockt – zwischen den nebelumwaberten Stämmen spurlos verschwanden. Verschwendet im ungeschwendeten Wald ein Achtel des römischen Gesamtheeres, beendeten die – linksrheinischen – Kaiser Roms fortan ihre Versuche, die rechtsrheinischen Gebiete bis zur Elbe zu einer Provinz Roms zu machen. Ob die Schlacht nun beim saltus teutoburgensis, wo der römische Historiker Tacitus das Geschehen verortete, stattgefunden hat und ob dieser Wald nun Teutoburger Wald (also Wald bei der Teutonenburg) oder Osning (also Wald auf dem Bergrücken) zu heissen hat, wissen bloss die Wälder. Und die schweigen spätestens seit Matthias Claudius (1740-1815) wie die Götter höchstselbst: «Der Wald steht schwarz und schweiget.» Die Teutonen ihrerseits hatten das Gebiet weit nördlich des Teutoburger Walds schon seit zweihundert Jahren verlassen, als Tacitus rund hundert Jahre nach Christus von der Varusschlacht berichtete.

 

Weg vom Westen

 

Deutschsprachig und doch nicht deutsch: Der Südtiroler Dichter Oswald Egger lotet mit seinen Texten beharrlich den deutschen Sprachraum aus. (© Katharina Hinsberg)

Wiederum einige hundert Jahre später sollten die Kaiser Roms rechtsrheinisch leben und den Haupttheil ihres Reichs, der sich von der Ostsee im Norden bis zu den Alpen im Süden erstreckte, regnum teutonicum nennen, wiewohl sie beständig nach dem geringeren Teil des sogenannten Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation in Italien mit seiner päpstlich verliehenen Kaiserkrone schielten, während linksrheinisch die romanisierten Westfranken im westlichen Teil des germanischen Frankenreichs das Königreich Frankreich begründeten. Seit der Krönung des Sachsen Otto I. zum – ersten teutonischen – König des Ostfrankenreichs und 962, nach der Eroberung Italiens, zum Kaiser zogen daher immer wieder – deutsche – Könige teils im Waffenrock, teils im Büsserhemd über die Alpen, um die Päpste in Rom unter Berufung auf Karl den Grossen, der als erster Frankenkönig an Weihnachten 800 zum Kaiser gekrönt und an dessen Hof die erste vereinheitlichende Sprachreform (allerdings des Lateinischen) im Mittelalter durchgeführt worden war, davon zu überzeugen, die Kaiserkrönung vorzunehmen. Und die Teutonen? Die gehen auf eine lateinisch-griechische Fremdbezeichnung zurück und scheinen nichts mit den Deutschen zu tun zu haben, die seit der gotischen Bibelübersetzung Wulfilas aus dem 4. Jahrhundert nach Christus einfach zum Volk gehören. Muss sich also «eins gesagt sein lassen», wer das Volk als ein Volk begreift? Teutonisch – oder eben deutsch – versteht sich in Abgrenzung zum Lateinischen vom Gotischen bis zum Fränkischen einzig als volkssprachlich. Also: die Sprache der einfachen Leute ohne – rex teutonicorum oder primus imperator theutonicorum – lateinische Bildung. In seiner althochdeutschen – und auch heute noch verständlichen – Form «diutsch» erstmals belegt ist es jedoch bei Notker dem Deutschen, einem Schweizer Benediktinermönch in St. Gallen, aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Die erwähnten Könige und Kaiser wiederum residierten kaum, sondern zogen – ich stelle sie mir wie Paschgänger der Macht vor – als Wanderkönige von Pfalz zu Pfalz – so sagt das Kinderlied: «Wir wandern, wir wandern von einer Stadt zur andern.» – durch das Reich, um die väterliche Autorität gegenüber ihren untertänigen Kindern in den böhmischen, piemontesischen oder savoyischen, aber vor allem sächsischen, hessischen, thüringischen oder, meinetwegen, ostwestfälischen – also teutoburgischen – Wäldern zu behaupten, wo ihre Machtbasis ihre Wurzeln hatte, nicht aber ihre Kaiserwürde.

 

Die Mathematik des Deutschen

 

Wer sieht da – heruntergestiegen aus den überschaubaren Alpentälern – in der weitaus ebeneren Weite dieser südmitteldeutschen Schwabenwälder den Baum vor lauter Wäldern noch? Wer kommt da nicht – fand nicht auch Hölderlin in Notzeiten vielmehr Zuflucht bei der Mutter (der Vater war früh gestorben)? – in Versuchung, ob all des Dickichts zu Zeiten hoffnungslos aufgesplitterter Fürstentümer am Vorabend der napoleonischen Kriege Ende des 18. Jahrhunderts mit vaterländischen Gesängen von einem fantastischen Vaterland zu träumen? Meint deutsch zum Volk gehörend, also völkisch, rasseln unweigerlich «die SS-Jeeps ordnungsdienstlicher Schritt-Hilfstruppen» durch die Täler, um nachzuholen, wogegen die germanischen Stämme sich erfolgreich gewehrt hatten, nämlich im mediterranen Weltreich Roms wie die gallischen Kelten aufzugehen, und was den deutschen Fürstentümern im Völkergemisch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation vergönnt war, nämlich unter dem doppelten Banner von Einheit und Freiheit einen modernen Staat zu bilden.

Aber ist nun – gut deutsch – besser, wer solche Szenen nicht – auf Schritt und Tritt – zu seinen Erinnerungen zählt? Der «Schnitt zwischen zwei Unrechtsstaaten» wäre demzufolge ganz anders zu ziehen, damit das ohnehin fluide Geschäft des Schmuggelns vergorener und gebrannter Wasser überflüssig würde. Geschmeidiger noch gingen diejenigen vor, die sich erprobt in biederer Buchhaltung statt auf Weinausschank – ungeachtet aller «gläsernen Grenzen» von Stilgläsern – umstands- und anstandslos auf Schmuggelgeschäfte mit unheimlichem Gold – «non olet» – im grossen Stil verlegten. Zieht Vorteil daraus, wer sich absondert, befindet sich dagegen im Nachteil, wer sich nicht früh genug dem grossen Ganzen zurechnet? Schnell mag das Nachsehen haben, wer angesichts einer solchen Vorsehung – den Abschluss vermasselnd – den Anschluss zu verpassen droht. Mal für Mal wogen solide Beweggründe schwer hin und zurück wölbten sich Schichten vom Oderbruch bis Bruchsal im Raum mit der Zeit aus gegeneinander verschobenen Fragmenten zu Abgründen der Fragwürdigkeit eins über alles. Abzuziehen bleiben, mit Riemann rein rechnerisch, nach wie vor bis auf Weiteres die Hänge im Süden von Halden- bis Wolkenstein. Verhaspelt sich unweigerlich, wer – deutsch und deutlich – zu sagen versucht, wer (die Menschen) oder was (die Wörter) – zeitlebens mehr selbstredend als -verständlich – dazugehören soll oder will? Die Obsession Eggers mit dem Mathematiker Bernhard Riemann verstehe ich mittlerweile – diskret, also unaufdringlich, aber stetig, also anhaltend – als Problem des Sprachraums, der sich wie ein Bergbach unaufhaltsam überschlägt:

Bernhard Riemann hatte das Reale aufgedeutscht, verdeutlicht, indem er es in areale Areale auseinanderdividierte: Er unterschied zwei Arten von Vielfalt (die Flocke und das Volk) – mit anderen Worten das Diskrete und, was er für noch ungewahrer hielt, das Stetige.

Haltlos allerdings – «daß die einzelnen Wörter und Sachen vielleicht wie eine einzelne Flocke aus allen Wolken fallen, aber ganz kein Volk ergeben» – bleibt die Realität einer voreiligen Einheit zu Teilen, als diente dies nach althergebrachter, lateinisch gebildeter, politischer Weisheit divide et impera bloss der Beherrschung, solange ihr nach wie vor die Areale eines modernen Westens und eines Ostens mit Nachholbedarf innewohnen. Heisst diese Einheit deutsch, so bleibt sie undeutlich. Ist sie deutlich, droht ihr Realitätsverlust und der unaufhaltsame Einbruch des Realen in das Simplifizierte. Verweigerung ist jederzeit zu bedenken. In Westfalen südöstlich der Nordsee erreichte die damalige Schweiz 1648 die Ausgliederung aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Österreich dagegen rettete sich nach der Gründung des Rheinbunds durch Napoleon in ein eigenes Kaiserreich. Franz II. hatte eine Krone auf dem Haupt, Franz I. trug deren zwei. Zählen Sie – «vom Futur III bis auf Hartz Sieben» – mit? Ruhten zwei Jahre zwei Kaiserkronen auf einem Kopf – von 1804 bis 1806 war dieser Kopf als Franz II. sowohl Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation als auch als Franz I. Kaiser der neuen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie –, sollten wenig später, nach der Gründung des Preussischen Kaiserreichs, zwei deutsch-dominierte Kaiserreiche zur selben Zeit bestehen. Im Südtirol dagegen verbot der italienische Faschismus die deutsche Sprache, damit der deutsche Faschismus nach der Vereinigung der Restbestände besagter Kaiserreiche die deutschsprachige Minderheit ‹heim ins Reich› holen konnte, nur um Südtirol dann doch für kurze Zeit in seine Gewalt zu bringen. Die Deutschschweiz blieb vor solchem verschont. Muss dagegen versuchen, «deutscher zu sein und dabei nicht Deutscher zu sein», wer in der Dunkelheit und Tiefe des Walds Deutschitaliens, das es nicht gibt, das Licht der Welt erblickt?

Was im deutschen Sprachraum wie ineinander übergeht, ist auch im Zeitalter der Nationalstaaten weit weniger klar, als es bisweilen scheinen mag. (© Clerc Free Vector Images, pixabay.com)

 

Das Wörterbuch des Deutschen

 

Tatsache ist, dass in Frankreich, als Westfranken ehemals auch zu Teilen germanisch, alle Deutschen Alemannen – allemands – sind, während die Angelsachsen – Germans – auf die Germanen rekurrieren. Für die slawischen Nachbarn im Osten dagegen sind die Deutschen – nemec – bis heute Fremde geblieben. Einzig in Italien – tedesci – hat ein Gefühl für die Deutschen überdauert. Aber zumindest Norditalien war ja auch wesentlicher Bestandteil des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Für die Schweizer:innen dagegen, deren deutscher Name auf ein Tal zurückgeht, dessen Helle sich dem schimmernden Fluss Muota, mit seinem zornig erregten Gemüt  (Hölderlin schrieb es auch dem Rhein zu), verdanken könnte – eine andere Geschichte erzählte von den Bewohner:innen des Orts Schwyz, den Schwittern, die, ohne allerdings ins Schwitzen zu kommen, durch Brandrodung  Licht in die Dunkelheit des Walds gebracht und so für Helle im Tal gesorgt hatten –, sind alle Deutschen (Sau-)Schwaben. Diese wohnen in Württemberg oder Baden und bezeichneten die Schweizer:innen damals wiederum als Kuhschweizer. Schwaben liegt zu Teilen in Bayern. Aber zu Bayern zählen sich wiederum die Franken nicht, die sich bis heute – wie die meisten Völker – in Obere und Untere scheiden, was in jedem Fall zu einem internationalistischen Seufzer Anlass gibt: «Daß, alle Völker, alle, hörten die Signale…» Österreich, heute der westliche Rest des Habsburger Reichs, geht auf das östliche Gebiet des Herzogtums Bayern zurück. Im Dreiländereck Bayerns, Thüringens und Sachsens tummeln sich in den Wäldern jüngst bisweilen die wahren Deutschen. Weiter nördlich sagt «Die Partei» im Westen: «Leipzig raus aus Sachsen.» Im Osten sagen «Die freien Sachsen»: «Sachsen raus aus Deutschland.» Längst ausgewandert sind die Leute in Mecklenburg-Vorpommern, da lebt kaum ein Mensch mehr. Am Meer kommen auf den Quadratkilometer weiten, flachen Lands bloß noch 70 Menschen. Dreimal mehr zähle ich auf dem mehr zersiedelten als zersungenen Land im Süden zwischen den Steinen der Alpen und des Juras.

Wir, hier, wollen – das ist die crux – die Fahne um keinen Preis zu hoch hängen. Nach Wort für Wort sah hierzulande die Gedankenschlosserware längst nicht aus. Ohne überschwängliche Worte dagegen den Deutschen den Verlust unterzujubeln, oblag bis in jüngste Zeit den hiesigen Zahlmeistern. Denn nur ein- und dasselbe heisst das griechische Tauto (τὸ αὐτό), mitnichten das Volk. Allein die Neffen und Söhne der Väter und Onkel treibt am Mutterschoss womöglich das patriarchale Problem um, wer (die Menschen) oder was (die Wörter) zum indogermanischen ‹theut› – dem Volk – zählt. Dagegen: Eine Deutsche ist eine Deutsche ist eine Deutsche und braucht bei alledem – befreiend ist der Gedanke – um keinen Deut deutscher zu werden.

 

Alle unausgewiesenen Zitate im Text entstammen Oswald Eggers Schrift «Deutscher sein», erschienen als Band 4 der Reihe-Literaturhaus-Stuttgart 2013.

 

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