Frankfurt an der Oder: Längst eine Stadt an der Grenze (Sascha Macht)

1’724 Wörter, ca. 10 Minuten

 

Ob die Stimmung in Frankfurt a. d. Oder Sascha Machts Vorliebe für das Groteske erklärt? Der gebürtige Frankfurter Schriftsteller nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch seine Kindheitsstadt im Schatten Berlins. Während Seeed das «Dicke B, Home an der Spree» 2001 besingt, träumt Macht 2002 von der Zukunft.

 

von Sascha Macht

 

Der Traum vom Verlies am Ort meiner Kindheit

 

Wir feiern die Veröffentlichung meines neuen Romans Spyderling vor einem Café auf der unteren August-Bebel-Strasse in Frankfurt (Oder), zwischen diesen verkackten Strässlein Immenweg und Heimchengrund, dort drüben ein Netto, daneben die Russenkaserne: Marina und Fabi und ich und noch irgendwer (Meine Schwester?). Plötzlich stehe ich wortlos auf und bewege mich eilig die Bebel-Strasse ostwärts entlang, ein Hügelchen hinauf bis zur Ampelkreuzung mit dem grün gestrichenen Eckhaus, wo ich kurz nach meiner Geburt mit meinen Eltern und Grosseltern gelebt habe. Hier fällt mir ein, was ich will: Tabak kaufen im DHL-Presseshop von Frau Schlasse! Doch sofort weiss ich, dass ich meine EC-Karte vergessen habe und also jetzt wieder zurück zu meiner Jacke müsste, und weil ich glaube, einen Schleichweg zwischen den Kleingärten zu kennen, schlage ich mich nach rechts und gelange auf einen weiteren Hügel, um den sich glitzernd und grün die Kleingärten ausbreiten wie in einem Fantasy-Tal. Von hier aus blicke ich nach links und sehe alle Wolken sich in einem einzigen leuchtenden Wirbel über der Stadt drehen, und ich blicke nach rechts und sehe am Himmel ein dickes, blaues Stierungeheuer im Kampf mit einem Ritter (das alles sieht aus wie voll professionell animiert).

Die Gegend um Frankfurt (Oder) hat ihre wilden Seiten. Zwischen den Parzellen von unübersichtlichen Kleingartenanlagen lässt sich ebenso der Verstand verlieren wie in der Weite der leeren Landschaft, wenn die Oder Hochwasser führt und die Insel Ziegenwerder zu verschlucken droht. (© Sascha Macht)

 

Halb sieben Uhr morgends, um das Jahr 2002 herum

 

Ich sitze mit einer Schale Schoko-Pops und dem aufgeschlagenen Horrorroman «Es» von Stephen King auf der Sitzbank in unserer Küche, also in unserem Haus am See, also in unserem Dorf Kliestow, also am Rand unserer Stadt Frankfurt (Oder). Mein Vater packt geschälte Gürkchen und eine Milchschnitte in meine Brotbüchse. Ein bisschen lese ich noch was, aber dann muss ich mit dem Rad los, eine Viertelstunde etwa dauert es von Zuhause bis zum Friedrichsgymnasium, das riesengross ist und aus rotem Backstein gebaut. Zu dieser Zeit fahre ich schon längst nicht mehr mit dem Schulbus, weil: Zu voll, zu laut, zu stickig, zu … naja, nicht wirklich gefährlich, aber mit meinen rot gefärbten Haaren muss ich mich vor den Nazis hüten, denn die – so sagt man – lauern überall in der Stadt. Mein Freund Hannes erzählte erst letztens von einer Gruppe, der er hinter der Ruine des Möbelkaufhauses begegnet sei, nicht weit vom Grenzfluss mit seinen gefährlichen Strudeln entfernt – erst tauchte einer von ihnen aus einem Gebüsch auf, dann kamen die anderen aus Hauseingängen und Hinterhöfen herbei: Die «Werwölfe» – so nannten diese furchterregenden Schwachköpfe sich. Wollten aber nur Angst und Schrecken verbreiten, also kam Hannes ungeschoren davon. Keine Ahnung, ob da überhaupt etwas dran ist, denn von denen habe ich nie einen gesehen. Trotzdem fahre ich nur noch mit dem Rad: An der Brauerei vorbei, wo es morgens immer nach verkochten Möhren riecht, den Berg hinunter, die Karl-Marx-Strasse entlang bis zur Ampel vor der Hauptpost. Nicht weit davon entfernt lauert vor dem Haus der Künste die eiserne, nackte Muse des Bildhauers Roland Rother, in deren tiefe, schwarze Augenhöhlen ich nicht hineinschauen kann, ohne einen panischen Schwindel zu spüren. Nicht weit davon entfernt wartet Caro schon auf mich, um mit mir ihre erste Zigarette für diesen Tag zu rauchen. 

Seit 1991 hat Frankfurt (Oder) nicht nur das ehemalige Friedrichsgymnasium aus rotem Backstein, sondern auch wieder eine Universität. Zur Strukturförderung im Osten und zur europäischen Integration wurde die 1811 geschlossene und nach Breslau verlegte Viadrina als Europa-Universität neu eröffnet. Das Motto der Universität – ex oriente lux (Aus dem Osten kommt das Licht.) – klingt vielversprechend. (© Sascha Macht)

 

Ich wandere durch das Tal

 

Und derweil denke ich an die, die ich vor der Kneipe zurückgelassen habe, mache mir aber keine Sorgen, weil ich ja noch nicht so lange weg bin und bald wiederkommen werde. Jetzt biege ich hier unten irgendwo ab und gelange in ein bläulich funkelndes Verlies, das ich im Traum schon aus früheren Träumen zu kennen glaube, ein Labyrinth für Kinder, worin man sich nicht verlaufen kann, sondern einfach nur dem Weg bis an sein Ende folgen muss. Hier stosse ich in einer weiten Höhle auf vier Jungs auf einem Podest, die gemeinsam ein altes japanisches Videorollenspiel spielen, Chrono Trigger vielleicht: Jeder von ihnen stellt einen kämpferischen Charakter dar, dessen pixelige Gestalt an die gewölbte Decke des Verlieses geworfen wird, eine Art Bildschirm, auf dem das Spielgeschehen zu sehen ist; eine Konsole oder Controller kann ich bei ihnen nicht erkennen und freue mich einfach, dass sie so gut mit dieser neuen, mir völlig unbekannten Technologie umgehen können. Ihre Avatare scheinen sich auf ein neues Abenteuer vorzubereiten und unterhalten sich fröhlich miteinander, was nichts anderes bedeutet, als dass die Jungs sich fröhlich miteinander unterhalten, doch dann höre ich aus der Finsternis um uns herum die Stimme der Mutter eines der Jungen, die alle auffordert, das Spiel abzubrechen und weiterzugehen, sie hätten ja jetzt genug gespielt und es sei auch schon längst Nachmittag. Die Jungs protestieren kurz, willigen aber schliesslich ein, und auch ich setze meinen Weg fort.

Hochhäuser markieren Urbanität, doch der Oderturm, der 1992-1994 renoviert und mit Einkaufszentrum versehen wurde, erscheint im Abendlicht düster und bläulich wie das Verlies. (© Sascha Macht)

 

Horror-Zirkus kommt in die Ossi-Stadt!

 

So zumindest denke ich es mir aus, da oben auf meinem Fahrrad, unter mir die Stadt, Stephen Kings «Es» auf dem Esstisch zuhause, ein leichter Wind auf dem See gegenüber vom Küchenfenster und ein weisser Kleinwagen, der im Sommer vor unserer Einfahrt anhält, darin: Ein Haufen geschorener Mistkerle in grauen Pullovern, der unisono fragt, ob hier denn eine von diesen «dreckigen Zecken» wohne. In einer Schublade irgendwo liegt sicher noch meine mir aus dem Gesicht geschlagene Brille, die ich aufgehoben habe vom nächtlichen Beton des Brunnenplatzes, während die Polizei mit Blaulicht herangekommen ist, sich umgeschaut  hat und wieder davongefahren ist. Nicht eine Zeile schrieb ich damals darüber, aber immerhin dachte ich eine Zeit lang wütend über all dies nach und machte eben das, was jemand so macht, wenn er jung ist und schreibt, und zwar ein Setting zu entwickeln aus ein paar Gefühlen und ihren Umständen heraus – Zorn und Angst und Traurigkeit und lustige Musik: Auf der Karl-Marx-Strasse zieht der Horror-Zirkus durch die Innenstadt, angeführt von einem blutrünstigen Clown, dahinter die Albino-Kamele, dahinter der Feuerspucker ohne Unterleib auf einem hölzernen Wägelchen, dahinter ein räudiger Tanzbär aus den rumänischen Wäldern, dahinter ein Zauberer mit einem Maschinengewehr in der Hand. Ihr grosses Zelt errichten sie auf einem Kartoffelacker neben dem Einkaufszentrum mit der Glaspyramide, das bei seiner Einweihung Anfang der 1990er Jahre streng auf eine altägyptische Dekoration gesetzt und sein Netz aus Laufwegen für die Kundschaft mit Bezeichnungen wie «Osiris-Allee» und «Anubis-Promenade» markiert hat. Vormittags wird eine Vorstellung für die braven Kinder des sturmumtosten Ostens gegeben, nachts zieht der mörderische Terror-Clown mit seinen Zirkusmonstern los in Richtung Zentrum, zu massakrieren die verbohrten Arbeitslosen, die westdeutschen Grossschnauzen und die aufmüpfigen Nazi-Mitläufer, sodass hier endlich mal jemand zu Sinnen kommt! Damals wurden die Strassen von Frankfurt (Oder) für mich zu einem Schlachtfeld, auf dem das Blut der Wendeverlierer knöcheltief stand; Jahre später zur leeren Oberfläche des Mondes, eiskalt und grau verstaubt; im Traum dann erst letztens zum Verlies. (Übrigens konnten meine Eltern niemals entspannt mit mir in den Zirkus gehen: Immer habe ich mich vor plötzlichen Pistolenschüssen, abstürzenden Artisten, hungrigen Tigern und dem unheimlichen Aussehen der Kartenabbreisser gefürchtet, weinend, strampelnd, schreiend …)     

Słubice, die Schwesterstadt Frankfurts auf der polnischen Seite der Oder, ist im wiedervereinigten Europa trotz Europa-Universität bisweilen fast so weit entfernt von Deutschland wie die rumänischen Wälder. Die Deutsche Einheit allein macht aus Europa noch keine funktionierende Union. (© Sascha Macht)

 

Immer weiter und weiter gehe ich

 

Und irgendwann muss ich dringend aufs Klo – aber so etwas gibt es hier ja (das weiss ich noch aus dem vorherigen Traum): Eine kleine, mir japanisch vorkommende Toilette, frischgeputzt und duftend, mit Plüsch überall. Ich lasse die Tür offenstehen, klappe den Deckel hoch und pinkle. Kurz bevor ich fertig bin, kommt der Toilettenbesitzer, also der Klomann in seinem dunkelblauen Overall, an der Tür vorbei und stürzt schimpfend herein. Während ich mir meine letzten Tropfen verkneife, überlege ich, ob ich ihn auch aus dem früheren Traum kenne, denn sein ältliches Gesicht mit den kurzen, grauen Haaren kommt mir bekannt vor, aber nein: Ihn habe ich hier noch nicht gesehen. Er schreit mich an, dass ich ja wohl überhaupt kein Benehmen hätte, hier mit meinen ganzen «Fahrtwinden» die Luft zu verpesten, und droht mir eine richtig üble Strafe an. Damit bin ich einverstanden, obwohl ich mir ganz sicher bin, nicht ein einziges Mal gepupst zu haben, schon gar nicht laut. Der Klomann beginnt, irgendeinen mystisch klingenden Kram zu faseln, greift nach meinem Arm, schiebt den Ärmel hoch und fährt mit einem Gerät aus hellem Holz über meine Haut: Die ziemlich scharfe, aber nur sehr kurze Klinge ritzt so etwas wie ein Zeichen auf meinem Arm ein, dazu eine Schrift, die ich erst lesen kann, als das Blut aus der feinen Wunde tritt (es tut nicht weh, rein gar nicht) und in einer ganz dünnen Spur einen Satz bildet, der davon kündet, dass «mein Haus fallen werde, das Deutsche Literaturinstitut Leipzig», und irgendetwas noch mit Feuer und Regen und Schleim, und ich finde das alles echt okay und bin auch innerlich völlig ruhig, ausgeglichen und mit allem zufrieden.

 

Und heute?

 

Graffiti an der Stadtbrücke unterhalb des Grenzübergangs: Gerade junge Menschen können sich in Frankfurt (Oder) schon mal unter Druck fühlen. Stieg die Bevölkerungskurve Frankfurts in der DDR kontinuierlich und steil an, fiel sie nach der Wende im selben Stil. Die Ratten verliessen das sinkende Schiff an der Oder. Heute stagniert Frankfurts Bevölkerungszahl. (© Sascha Macht)

Still und starr ruht der See. Caro wohnt schon längst nicht mehr hier, während ich mir immer noch eine Zigarette nach der anderen anstecke. Auf dem Hügel, wo einst das Irish Pub stand und zu dessen Füssen meine Schwester vor knapp einem Jahr einen Autounfall hatte, wird mal wieder ein neues Pflegeheim gebaut. Heute musst du hier nur noch den natürlichen Tod fürchten, umsorgt von all den Schlechtbezahlten mit den lauten Stimmen, den künstlichen Fingernägeln und der Lust an den Programmen der Privatfernsehsender. Für sie wird auf dem Weihnachtsmarkt jetzt immer ein Autoscooter errichtet. Wer nicht gepflegt wird, wählt die AfD; der Rest schlägt sich so durch in den Gewerbegebieten der märkischen Nekropolis. Am zweiten Januartag des Jahres 2024 sterben in ihrem blauen Škoda Fabia der Bildhauer Roland Rother und seine Frau Rita auf einer Landstrasse unweit von Frankfurt (Oder), getötet vom Mercedes SL eines 28 Jahre alten YouTubers auf Kokain.Vor kurzem wollte ich mir drei höllische Grenzorte notieren, in denen der Krieg wütet und das Verbrechen blüht in einem fort – mir fielen aber nur zwei ein: Goma in der Demokratischen Republik Kongo und Ciudad Juárez in den Vereinigten Mexikanischen Staaten. Wenn ich heute an meinen eigenen Tod denke, dann fürchte ich mich nicht mehr, sondern wünsche mir bloss, als Poltergeist zurückzukehren. Bin ich das etwa, der da hinten unter einem grünen Himmel über die Stadtbrücke schlendert, um Zigaretten zu kaufen und dann in den Weiten Polens verloren zu gehen, zwei einsame Zeilen eines Liedchens im Ohr, das mein Freund Hannes selbst gedichtet oder bloss irgendwo aufgeschnappt hat?  

DICKES F AN DER ODER
IM SOMMER FAHR’N WIR CABRIO, IM WINTER ŠKODA

Nein, das kann nicht sein. Ich bin ja gar nicht mehr hier.

 

 

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