Rassistischer Nationalismus: Stunde Null der Neunziger (Teil IV)

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Hatte der Mauerfall im November 1989 den Anfang von europaweiten Umwälzungen eingeläutet, bildete sich in den Neunzigern eine neue Ordnung in Europa. Im rechtsfreien Raum Ostdeutschlands der Wendezeit grassierte ein gewaltbereiter Rechtsradikalismus. In der Schweiz etablierte sich der Rechtspopulismus vollends.

 

Gescheiterter DDR-Nationalismus

 

Die nationalistische Rhetorik der Achtzigerjahre verfehlte offenbar ihre intendierte Wirkung, die DDR als Staat zu erhalten. Die Gesellschaft, das belegt etwa die steigende Zahl der Ausreiseanträge in den Achtzigern, die der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch «Die Übernahme» (2019) konstatiert, zerfiel bis zum Mauerfall und darüber hinaus zunehmend. Die rasche Bedeutungsverschiebung der prominenten Protestparole im Herbst 1989 – «Wir sind das Volk» – versinnbildlicht den eigentlichen Bezugspunkt des deutschen Nationalismus jenseits der DDR. Hatte die anfängliche Parole – «Wir sind das Volk» – noch den Protest der Menschen gegenüber der DDR-Regierung zum Ausdruck gebracht, wandelte er sich rasend schnell ab. Der adaptierte Aufruf – «Wir sind ein Volk» – forderte zunächst sowohl die Protestant:innen als auch die Polizei dazu auf, angesichts der angespannten Lage auf Gewalt zu verzichten. In der Folge war es ein Leichtes, diesen Spruch zum Slogan der Wiedervereinigung umzudeuten.

 

Mittlerweile ist der damalige Slogan angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus ins Satirische gekippt. (Alex Schnapper, CC BY 2.0)

 

Dahingestellt sein mag, welche unterschiedlichen Interessen diese Verschiebung vorangetrieben hatten. Wie leicht sich die anfängliche Parole instrumentalisieren liess, zeigt, dass sich die gesellschaftlichen Banden innerhalb des ehemaligen deutschen Staatsgebiets durch die vierzigjährige Teilung weder vollständig gelöst, noch dass die jeweiligen Teilstaaten den gesamtdeutschen Nationalismus zugunsten eines anderen Selbstverständnisses überwunden hatten. Kam der Zeitpunkt vielleicht auch überraschend, scheint die Wiedervereinigung bei aller Kritik an ihrem Vollzug folgerichtig.

Die Geschichte der angestrebten Einheit deutschsprachiger Gebiete ist lang. Während des Kalten Kriegs war die Fragmentierung des deutschsprachigen Raums im Vergleich mit anderen Sprachgebieten Europas besonders ausgeprägt. Begleiten – wie in den Jugoslawien-Kriegen der Neunziger – meist ethnische Säuberungen, die Vertreibung von vermeintlich ‹anderen› Menschen, die Herausbildung von Nationalstaaten, tut sich der deutschsprachige Raum dagegen seit der Zeit des Heiligen Römischen Reichs schwer, sich unter ‹Seinesgleichen› zusammenzufinden. Was aus nationalistischer Sicht als bedauerlich erscheinen mag, ist jedoch auch eine permanente Infragestellung des nationalstaatlichen Konzepts, die jederzeit angebracht ist. Warum genau sollten Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, auch in einem gemeinsamen Grossstaat vereint sein?

 

Wer vereinigte sich da eigentlich mit wem?

 

Dass die Tendenz zur ethnischen Homogenität allerdings auch in der Wende-Zeit spürbar wurde, schilderte Sanem Kleff, Lehrerin in Westberlin und türkische Migrantin in zweiter Generation, anhand ihrer Wende-Erlebnisse im Band «BRD – DDR. Alte und neue Rassismen im Zuge der deutsch-deutschen Einigung» bereits 1990. Das euphorische Gefühl sich ausgelassen vereinigender Menschen verschwand für die Migrant:innen so schnell, wie es gekommen war. Die Aneignung des Wendeslogans durch die ausländische Wohnbevölkerung vor allem Westberlins – «Wir sind auch das Volk!» – verhallte. Die «Annahme», am «Sieg der kleinen Fische, die sich zusammengetan hatten, über den großen, bösen Hai anteilnehmen zu dürfen», erwies sich für die Migrant:innen Westberlins allzu schnell als «Irrtum», resümierte Kleff konsterniert.

Die Schilderung ihrer Erlebnisse auf dem Kurfürstendamm fasst zusammen, was vor allem im Osten der Wende vorausgegangen war und was ebenfalls im Osten noch kommen sollte:

Die Ereignisse dieses Abends hinterließen zweierlei in meiner Erinnerung: Zum einen die Erfahrung, von den aus der DDR kommenden Menschen schon auf den ersten Blick wegen meines ‹fremdländischen› Aussehens als ‹Nichtdazugehörige› wahrgenommen zu werden und zum anderen die Erkenntnis, daß alle, die vielleicht nicht äußerlich, aber ‹innerlich› nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt waren wie sie, auf der gleichen Seite der Front stehen, wie ich.

 

Wenn Welten aufeinandertreffen

 

Dass ausländische Menschen die Blicke der DDR-Bürger:innen auf sich zogen, musste nicht zwingend einen explizit rassistischen Hintergrund haben. Vielmehr waren ausländische Menschen in der DDR einfach selten. Zur Wende betrug der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung in der DDR, wie etwa Kowalczuk darlegt, gerade einmal 1% (ausgenommen sowjetische Armeeangehörige), von denen nach der Wende viele die Aufenthaltsberechtigung verloren. Im Gegensatz dazu wohnten gemäss Friedrich Ebert Stiftung etwa 30% Menschen mit Migrationshintergrund in Westberlin.

 

Auf wen genau sie nach dem Mauerfall im Westen treffen würden, war wahrscheinlich nicht einmal den Demonstrant:innen auf dem Alexanderplatz klar – geschweige denn allen anderen DDR-Bewohner:innen. (Bernd Settnik, CC-BY-SA 3.0)

 

Selbst wenn die Zahl von 30% in Westberlin deutlich zu hoch gegriffen sein sollte, prallten dennoch Welten aufeinander. Entsprechend gross war die Unbeholfenheit im Umgang miteinander. Die Homogenität der DDR, die viele DDR-Bürger:innen ungern gestört sahen, kommt nirgends so pointiert zum Ausdruck wie in Gundermanns Hoywoy-Lied. Weniger der weitverbreiteten Freikörperkultur wegen erscheint die DDR darin als Paradies der freien Liebe, als einer weitreichenden Gleichheit wegen, die es sogar egal sein lässt, wer sich zu wem ins Bett legt.

Animositäten zunächst zwischen DDR-Bürger:innen und migrantischen Westberliner:innen, die gemäss Kleffs Schilderung wohl von DDR-Bürger:innen ausgegangen waren, erzeugten aufseiten der Migrant:innen Abwehrreflexe. Die martialische Stimmung war ein Vorgeschmack auf das Kommende. Die Euphorie der Wende machte überdies bei der Bevölkerung Westberlins die Anwesenheit ausländischer Mitbürger:innen schnell vergessen. Ihre Anliegen gingen angesichts des ausgesprochen deutschen Ereignisses der anstehenden Wiedervereinigung unter. Unter den Migrant:innen, so Kleff, machten bald Gerüchte die Runde: «Ich habe gehört, daß in zwei Monaten alle Ausländer Berlin verlassen müssen.»

 

Der ignorante Westen

 

Auch auf gesetzlicher Ebene tat sich eine Zweiklassengesellschaft auf, die zwischen Inhaber:innen eines deutschen Passes und den anderen unterschied. Diese anderen hatten, wie Kleff hervorhebt, höhere Gebühren für die Erstellung eines temporären Lichtbildausweises bei Grenzübertritten zwischen West- und Ostberlin zu entrichten. Statt einer Übernahme progressiver Ausländer:innengesetze der DDR – Kleff führt «das kommunale Wahlrecht für Ausländer» an – brachte die Wiedervereinigung nicht nur in Westberlin eine ungleiche Behandlung von deutschen und migrantischen Menschen hervor, sondern koinzidierte auf Bundesebene mit einer Verschärfung der Migrationsgesetzgebung im Westen.

Von der Wiedervereinigung hatte sich die ausländische Bevölkerung – sowohl im Westen als auch in der ehemaligen DDR – nach der anfänglichen Euphorie entsprechend wenig zu erhoffen. Viele Bürger:innen der ehemaligen DDR glaubten die spärlicher werdenden Arbeitsplätze aufgrund der massenhaften Betriebsschliessungen im Osten gegen Ausländer:innen verteidigen zu müssen. In der Euphorie und dem Chaos dieser aussergewöhnlichen Zeit fand ein feinfühliges Gespür für geteilte Verlusterfahrungen von ehemalige DDR-Bürger:innen und Migrant:innen kaum Raum.

 

Ein rechtsfreier Raum

 

Dass der deutschsprachige Raum trotz seiner eigenen Einigungsschwierigkeiten nie frei von ethnischen Säuberungsbestrebungen war, machte vor allem die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs schmerzlich bewusst. Die besondere Situation der Zeit während und nach der Wiedervereinigung bot Raum, solche Ansinnen wieder in die Öffentlichkeit zu tragen, nachdem sie – sowohl in der BRD als auch in der DDR – rund 40 Jahre unter dem Deckel gehalten worden waren.

Der Zerfall der staatlichen Strukturen der DDR sorgte für einige Jahre für ein Machtvakuum, das erst allmählich durch die Übertragung der BRD-Strukturen auf die Gebiete der ehemaligen DDR gefüllt werden konnte. Insbesondere das staatliche Gewaltmonopol war für einige Zeit in Frage gestellt. Hinzu kam die Zerrüttung der Gesellschaft aufgrund der umfangreichen Betriebsschliessungen mit der entsprechenden Arbeitslosigkeit und dem Wegfall vieler zivilgesellschaftlicher Strukturen (Sport- und Kulturvereine zum Beispiel), die über die Betriebe organisiert gewesen waren. Die Atomisierung der Gesellschaft schlug auf beide Generationen durch.

 

Davon, dass es die Volkseigenen Betriebe mit den angegliederten Sozialstrukturen einst gegeben hat, zeugen heute nur noch verwaiste Schriftzüge wie in der Leipziger Innenstadt. (© Fabian Schwitter)

 

War die Elterngeneration aufgrund der Arbeitslosigkeit häufig mit sich selbst beschäftigt, griff in der jüngeren Generation Halt- und Orientierungslosigkeit um sich. Die alte Staatsordnung war weg, die neue noch nicht etabliert und die Eltern hatten wenig Reserven, sich der sozialen Sinn- und Identifikationssuche der Jugendlichen anzunehmen. Subkulturelle Milieus florierten und tendierten zu Extremen. Wer seine «Springerstiefel» – so der Titel eines Podcasts von Hendrik Bolz und Don Pablo Mulemba über die Neunziger in Ostdeutschland – wie trug, konnte über Leben oder Tod entscheiden. Im Untertitel stellt der Podcast die existenzielle Frage: «Fascho oder Punk?» Griffen die einen – die Neonazis – aggressiv zu gewalttätigen Mitteln, bedienten sich die anderen zur Verteidigung – teils genötigt, teils eigenmotiviert – derselben gewalttätigen Mittel. Ungezügelt kamen die tradierte Ideologie des Nationalsozialismus sowie die repressiven Gewalt- und Militarisierungserfahrungen aus der DDR zum Ausdruck.

In der Zeit, die seit einem Twitter-Aufruf Christian Bangels 2019 unter dem Begriff der «Baselballschlägerjahre» bekannt ist, gehörten tätliche Auseinandersetzungen vor allem unter jungen Menschen und die damit einhergehende Angst in Ostdeutschland zum Alltag. Durch die zahlreichen Antworten auf Bangels Tweet erfuhren Manja Präkels preisgekrönter Roman «Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß» (2017) sowie Bangels eigener Roman «Oder Florida» (2017) nachträglich eine breite Beglaubigung. Mit fast dreissigjähriger Verspätung war das Thema in der Öffentlichkeit angekommen. Die existenzielle Frage von Bangels Protagonist in Frankfurt a. O. ist bis heute nicht abschliessend beantwortet: «Ist das der wilde Osten der unbegrenzten Möglichkeiten oder nur eine öde Brache, die fest in der Hand der Angst und Schrecken verbreitenden Nazis ist?»

 

Pogrome

 

Der Wilde Osten – in Anlehnung an die Rechtsfreiheit des Wilden Westens – entfaltete für gewisse Kreise eine besondere Anziehungskraft. Fehlte es Neonazi-Strukturen im Westen an Gefolgschaft, agierten dagegen eine Vielzahl von Jugendlichen im Osten in isolierten Gruppen. Nazi-Grössen aus dem Westen bot sich im Osten endlich der langersehnte Kampfplatz. So verübten Neonazi-Gruppen unmittelbar nach der Wiedervereinigung vom Herbst 1991 (Hoyerswerda) bis zum Sommer 1992 (Rostock-Lichtenhagen) Pogrome gegen Ausländer:innen um Wohn- und Asylheime. Deren Geschichte reicht in der DDR gemäss den Recherchen des Historikers Harry Waibel, der im Buch «Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED» (2014) darlegt, bis 1975 zurück, als in Erfurt erstmals ein Wohnheim von Vertragsarbeiter:innen angegriffen worden war.

Wurde Hoyerswerda nach der obrigkeitlich beschlossenen ‹Evakuierung› der ausländischen Vertragsarbeiter:innen und Asylsuchenden durch die Behörden, anders seien sie nämlich nicht zu schützen, von den Neonazis zur ersten «ausländerfreien Stadt» erklärt, wirft Grit Lemkes Beschreibung in ihrem Buch «Kinder von Hoy» ein Licht auf die Umstände, die so etwas überhaupt möglich gemacht hatten. Da waren die «völlig überforderten Polizisten» angesichts eines Mobs, der zu Teilen noch von der Bevölkerung angefeuert wurde. Da waren auch die strukturellen Probleme der Wiedervereinigung:

Später wird man erfahren, dass die eilig aus Leipzig hinzugezogenen Einheiten keinen Kontakt mit der Zentrale herstellen konnten. Die eine Seite hatte noch mit DDR-Technik und auf alter Frequenz, die andere schon westlich und auf neuer Frequenz gefunkt.

 

Das Volk und seine Folgen

 

Die anfänglichen Provokationen und gewalttägigen Pöbeleien aus der lokalen Bevölkerung in Hoyerswerda zogen, wie Lemke schreibt, bald einen rechten ebenso wie linken Demonstrations- und Gewalttourismus (vermutlich aus ganz Deutschland) nach sich, der zu dem Zeitpunkt nur noch bedingt mit der einheimischen Bevölkerung zu tun hatte. Lemke erinnert sich an Autokonvois von Neonazis und vermummten Antifaschist:innen, die in Hoyerswerda Einzug gehalten hatten. Diese medienwirksamen Ereignisse dürfen allerdings nicht über den bedrohlichen Alltag hinwegtäuschen, der in weiten Teilen Ostdeutschlands nach der Wende herrschte. Die Aggression der selbsternannten Volkshüter:innen richtete sich nicht nur gegen Ausländer:innen, sondern gegen alle Menschen, die nicht in ihr Bild passten.

 

Die Stadt- oder Polenmauer in Hoyerswerda erlangte aufgrund der Pogrome im Herbst 1991 traurige Berühmtheit, ein Teil im Hintergrund ist schon abgebrochen. (© Fabian Schwitter)

 

Im Chaos der zerfallenen und erst allmählich wieder hergerichteten staatlichen Strukturen etablierte sich auf der Strasse eine Normalität, die parteipolitisch zunächst kaum Widerhall fand und zunächst verschwunden schien. Erst durch die schrittweise Übernahme der anfänglich neoliberalen und euroskeptischen AfD fanden nationalistische und rechtsextreme Kreise ein Vehikel, das geeignet war, ihre Botschaft in den politischen Betrieb zu tragen und retrospektiv auch die Gewalt in den Neunzigerjahren zu legitimieren. Insbesondere die Flüchtlingskrise 2015 im Zuge des Bürgerskriegs in Syrien verlieh der AfD Auftrieb und gerade im Osten breiten Zuspruch.

 

Rückkehr in die Zukunft

 

Der vermeintliche Neuanfang im Osten der Neunziger bedeutete bisweilen eine Rückkehr zu Verdrängtem. Ähnlich wie bereits 1945 nach dem Ende des Hitler-Regimes fälschlicherweise – und vor allem motiviert von viel Wunschdenken – die Stunde Null ausgerufen worden war, erwies sich auch die Wende mit der darauffolgenden Wiedervereinigung nicht allein als glorreicher Schritt in eine blühende Zukunft. Hüben wie drüben – im Osten wie im Westen – kehrten die Umwälzungen alte Gespenster mit ihrer Hoffnung auf einen Sturz der Demokratie an die Oberfläche, die ihr Unwesen bis heute – und vor allem im Osten – treiben. Prominentestes Beispiel karrieristischer Ideologen aus dem Westen, die in der Verteidigung einer vermeintlich intakten Volksgemeinschaft im Osten gegen den westlichen Multikulturalismus, ihre persönlichen Fantasien in der ostdeutschen Wahlheimat ausleben, ist der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke.

Eine Stunde Null ganz anderer Art erlebte die Schweiz. Während sich in Ostdeutschland die gewalttätige Realität des Rechtsextremismus offenbarte, begann sich in der Schweiz der moderne Rechtspopulismus in Form der Schweizerischen Volkspartei (SVP) bequem einzurichten. Hervorgegangen aus der kleinen Bauern-, Gewerbe und Bürgerpartei gab sich die SVP zwar bodenständig und nationalkonservativ. Aus strategischem Kalkül duldete sie rechts von sich jedoch keine Parteien und geriet rasch zum Sammelbecken nationalistischer und xenophober Kräfte. Manche mochten gewusst, manche nur geahnt haben, welche Geister sie damit heraufbeschworen. Viele taten es nicht und sind bis heute dem braunen Bodensatz gegenüber naiv geblieben.

 

Die Schweiz und das rassistische Regime Südafrikas

 

Das rassistische Fundament des Rechtspopulismus in der Schweiz zeigte sich nicht zuletzt in Kontakten zum Apartheidregime in Südafrika noch während des Kalten Kriegs. Im Umfeld der Partei gründete sich in den Achtzigerjahren die Arbeitsgruppe südliches Afrika (ASA), deren Ziel die Stärkung des Apartheidregimes als antikommunistisches Bollwerk war. Dass Rassismus die Basis des Regimes in Südafrika war, wurde billigend in Kauf genommen oder sogar befürwortet. Namhafte Mitglieder waren unter anderem der Gründer der Arbeitsgruppe Christoph Blocher, Nationalrat der SVP und Präsident der Zürcher Kantonalpartei, sowie Ulrich Schlüer, später ebenfalls SVP-Nationalrat und einstiger Privatsekretär James Schwarzenbachs, der Galionsfigur der Überfremdungsinitiative von 1970.

Die Kontinuität zwischen der SVP und Schwarzenbachs Bewegung ist offenbar nicht nur geistig, sondern auch personell gegeben. Die anhaltenden Abschottungsbestrebungen sollten sich zunächst, bevor die kulturkämpferischen Kampagnen gegen Ausländer:innen für Furore sorgten, in spektakulären Abstimmungen über die Zugehörigkeit der Schweiz zu internationalen Organisationen zeigen. Noch vor der wegweisenden EWR-Abstimmung unter der Ägide Blochers von 1992 führte die SVP 1986 eine erfolgreiche Abstimmungskampagne gegen den UNO-Beitritt der Schweiz. Dieser – an sich eine Unausweichlichkeit in einer globalisierten Welt – sollte erst im neuen Jahrtausend nachgeholt werden. Mit der EWR-Abstimmung stieg die SVP zur dominanten Kraft und Blocher zur prägenden Figur der Schweizer Politik auf. Bis Ende der Neunzigerjahre sollte die SVP die wähler:innenstärkste Partei werden.

 

Keine internationale Einbindung, keine Ausländer

 

Entspannte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt ab den Siebzigern, verschob sich die fremdenfeindliche Debatte bis in die Neunziger hinein mehr und mehr von den Gastarbeiter:innen zur besonders verletzlichen Gruppe der Asylsuchenden. War die Schweiz, wie Thomas Buomberger in seinem Buch «Kampf gegen unerwünschte Fremde» (2004) festhält, «früher als alle anderen europäischen Länder mit einem massenweisen Zustrom von Menschen aus dem Ausland konfrontiert», so gilt umgekehrt bis heute, dass die Schweiz besonders restriktive Bestimmungen gegenüber Ausländer:innen aufrechthält oder einführen möchte.

 

Selbst für Menschen, die schon Generationen in der Schweiz leben, bleibt der Schweizer Pass bisweilen unerreichbar. (© Fabian Schwitter)

 

Die hohen Einbürgerungshürden sorgen nach wie vor für einen Ausländer:innenanteil von rund 25% an der Wohnbevölkerung. Sind ausländische Arbeitskräfte für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz jedoch unabdingbar, eignen sich einerseits Asylsuchende als Zielscheibe und andererseits kulturelle Symbole als Aufhänger für Stimmungsmache. Wie bereits in den Sechzigerjahren sollte die ausländische Präsenz in der Schweiz möglichst unsichtbar sein. Neben personenbezogenen Initiativen wie der Initiative «Gegen Masseneinwanderung» (2004), die sich an den Grundgedanken der Schwarzenbach-Initiative lehnt, sticht die Initiative «Gegen den Bau von Minaretten» (2009) hervor. Beide Initiativen wurden in einer Volksabstimmung angenommen.

 

Da scheiden sich die Geister

 

Den Abschottungsbestrebungen liegt eine Geisteshaltung zugrunde, die gleichwohl auf vergangen Geglaubtes zurückgreift. Die fortschreitende Modernisierung und Globalisierung hat in der Schweiz auf der einen Seite zwar zu einer «Einstellungsänderung hin zu mehr Offenheit gegenüber Fremden beigetragen», wie Buomberger festhält. Auf der anderen Seite rief ein zunehmend «distanzierteres Verhältnis zur schweizerischen Identität und den mythologisierenden Vorstellungen der Geistigen Landesverteidigung» auch ihre Verfechter:innen auf den Plan.

Ging der Historiker Thomas Maissen mit seinem Buch «Schweizer Heldengeschichten» (2015) gegen vereinfachende Geschichtsklitterung in die Offensive, beschwor Blocher dagegen nicht nur in seiner Auseinandersetzung mit Maissen ein ums andere Mal die einigende Kraft nationaler Mythen. In mehreren Fernsehdebatten – etwa beim Schweizer Fernsehen – sassen sich Blocher und Maissen gegenüber und verkörperten eine nach wie vor gespaltene Schweiz zwischen Weltoffenheit, die Mitarbeit in internationalen Organisationen einschliesst, und Unabhängigkeit, die in politischen (wohlgemerkt: nicht in wirtschaftlichen) Verflechtungen auf dem internationalen Parkett jederzeit eine Gefahr wittert.

 

Das Gesicht des Populismus

 

Als hätten sich griechische Helden im 13. Jahrhundert zusammengetan, schwören drei Männer in Johann Heinrich Füsslis Darstellung den berühmten Schwur. Vielleicht wäre es mittlerweile an der Zeit, weitere Einflüsse bei der Zusammenstellung der Nationalmythen zuzulassen. (Gemeinfrei)

Bei aller einigenden Kraft bleibt auch in dieser Auseinandersetzung – ähnlich wie bei der Wiedervereinigung – unklar, wer da vereinigt werden soll. Offenkundig ist, dass die angeführten Mythen längst nicht mehr von allen geteilt werden. Nicht zuletzt, weil signifikante Bevölkerungsgruppen – die unsichtbar gewünschten Ausländer:innen in der Schweiz etwa – von der Mythenbildung ausgeschlossen werden. Anstatt ihre Erzählungen in die Diskussionen einfliessen lassen zu können, bleibt ihnen nach Ansicht der Rechtspopulisten lediglich die bedingungslose Annahme der herrschenden Mythen. Unter diesen Voraussetzungen bedeutet die Beschwörung von Mythen jederzeit ihre Instrumentalisierung.

Verblüffend ist allerdings, dass gerade diese Mythen eine konservative Bevölkerung jenseits der Städte, wo die SVP ihre grössten Wähler:innenanteile hat, und schwerreiche Industrielle wie Blocher zu einigen vermag. Dafür allerdings hatte Angelo Maiolino in seinem Buch «Als die Italiener noch Tschinggen waren» (2011) über die italienische Arbeitsmigration in die Schweiz eine treffende Erklärung:

Wenn das Volk eher bereit ist, die Fremden zu bestrafen als die Reichen, so weil es wahrscheinlich die Macht der Reichen fürchten muss und die eigenen demokratischen Entscheidungen dieser Furcht anpasst.

Zum Milliardär Christoph Blocher gesellte sich schon in den Neunzigern der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Besonders unverstellt sind jüngst diese kleptokratischen Machenschaften im Fall des Präsidenten der Vereinigten Staaten Donald Trump aufgetreten. Gegenwärtig zeigt sich die Verquickung faschistischer Politik mit persönlicher Bereicherung allerdings nirgends perverser als in Putins Rhetorik, sich als reichster Russe gegen Faschist:innen in der Ukraine zur Wehr setzen zu müssen. Immer offener tritt zutage, dass persönliche Bereicherung jederzeit ein Kernmotiv rechtspopulistischer Politik ist.

 

Schweiz und Deutschland

 

Richtig ist, dass rassistische Gewalttaten in der Schweiz nicht im selben Mass denkbar sind wie in Ostdeutschland. Richtig ist, dass eine antidemokratische Rhetorik in der Schweiz, einer hundertfünfzigjährigen und äusserst wohlhabenden Demokratie, schwer zu vertreten ist. Aber die Verschiebungen im politischen Gefüge, die zu einem zunehmend skrupelloseren Umgang mit Minderheiten wie Ausländer:innen führten und immer noch führen, gibt es dennoch. Und die Schweiz hat definitiv, das zeigen die internationalen Reaktionen auf die erwähnten Initiativen und die entsprechenden Plakatkampagnen, die Grenzen des Tolerierbaren – weltweite Nachahmung inbegriffen – verschoben, wenn es um die politische Rhetorik und vor allem die Bildsprache geht.

 

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