Westdeutsche Menschen sind deutsch, und ostdeutsche?

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Mitten in der Coronapandemie feierte Deutschland im Herbst 2020 das dreissigjährige Jubiläum der Wiedervereinigung von BRD und DDR. So sang- und klanglos wie die Jubiläumsfeierlichkeiten den Coronarestriktionen zum Opfer fielen, so verhalten bleibt die Einheitsrhetorik im Osten. Was steht hinter dem Unbehagen im deutschen Einheitsstaat?

 

Polit-Theater im Göttinger Theater-Café

 

Die Vöglein zwitscherten in den gepflegten Bäumen vor dem Göttinger Theater-Café und die Sonne schien von einem stahlblauen Himmel, an dem malerische Schäfchenwolken hingen, als wollte uns die gütige Vorsehung gleich in Watte packen. Wir sassen über reichlich gefüllten Tellern beim Mittagessen, als ein empörter Ausruf des Ekels wie ein Blitz in unser westdeutsches Mittagsklischee sauste: «Die Ostdeutschen mit ihrer AfD, also wirklich…» Mein Kiefer klappte herunter, zugleich blieb mir die Kartoffel, die ich mir eben in den Mund gesteckt hatte, auf halbem Weg im Hals stecken und ich suchte, während ich zu ersticken drohte, krampfhaft nach einer angemessenen Reaktion: Wut, Trauer oder doch gut Schweizerische Gleichgültigkeit?

Verblüfft stellte ich fest, dass mich die Sache etwas anging. Der herablassende und zugleich voyeuristische Ton mit dem zwei Berlinerinnen an unserem Tisch die Ostdeutschen einteilten wie europäische Kolonialbeamt:innen im 19. Jahrhundert exotische Völker, liess mich reflexartig Partei ergreifen. Von Göttingen zur ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen den Bundesländern Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sind es nur gerade 30 Kilometer. Und ich wohne seit fünf Jahren im sächsischen Leipzig, ich habe Freund:innen und eine Partnerin mit ostdeutscher Herkunft. Mit der ostdeutschen Befindlichkeit bin ich in den letzten Jahren einigermassen vertraut geworden.

Selbstverständlich waren die beiden Berlinerinnen aus dem Westen zugezogen und zählten sich zu einer linksurbanen Hauptstadtintelligenzija – umgeben von Primitiven in den Wäldern und Auen Brandenburgs. Natürlich arbeiteten sie – akademisch-reflektiert – in der Kulturbranche. Und doch landeten innert kürzester Zeit die Bewohner:innen der Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen im braunen Eintopf der AfD. Kurz und gut: Alles Nazis – oder wenigstens hinterwäldlerische Tölpel, die gedankenlos Rattenfängern hinterherlaufen. ‹Die Ostdeutschen› – eher kleinstädtisch oder gar ländlich, aufgrund ihrer DDR-Prägung anfällig für Propaganda und entsprechend denkfaul, in jedem Fall sozialistisch eingestellt (ob national oder international) – bildeten offenbar die Anti-These zur linksliberalen Urbanität der beiden Berlinerinnen mit ihrem kulturell verbrämten Konsumindividualismus. Und ich wurde die Vermutung nicht los, dass das Bild, das die beiden Berlinerinnen von Ostdeutschland hatten, ein rein mediales war. Ob sie sich jemals in die brandenburgischen Wälder vorgewagt hatten? Ob sie die Stadtgrenze Berlins jemals in östlicher Richtung überquerten?

 

Das Deutsche Theater Göttingen gebaut im 19. Jahrhundert: auch heute noch ein imposantes Symbol des modernen Nationalstaats (© Ilka Daerr).
Das Deutsche Theater Göttingen gebaut im 19. Jahrhundert: auch heute noch ein imposantes Symbol des modernen Nationalstaats (© Ilka Daerr).

 

Noch eine Weile schaukelten sie sich gegenseitig in ihrer einträchtigen Empörung hoch. Mit jedem Satz verdichtete sich der Eindruck, dass das ganze Ritual vor allem der Selbstvergewisserung diente, als müsste die alte Dialektik von Marx und Lenin auferstehen, damit West und Ost sich ihrer Daseinsberechtigung sicher sind. Aber der eine Pol im Gleichgewicht des Kalten Krieges hatte sich aufgeblasen, während der andere in sich zusammengeschrumpft war. Und wie die russische Propaganda mit ihrem Bodensatz von Kränkung erst seit dem Überfall auf die Ukraine in Deutschland wieder wahrgenommen wird, so wurden die Stimmen Ostdeutschlands mit dem Aufstieg der AFD in den neuen Bundesländern in Westdeutschland unüberhörbar. Die deutsche Einheit, was ist das?

 

Die turbulente Geschichte des deutschen Nationalstaats

 

Deutschland kennt als Nationalstaat keine fünfzig Jahre Kontinuität. Das Kaiserreich unter preussischer Vorherrschaft kollabierte 47 Jahre nach seiner Gründung 1871 mit der Kapitulation am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Weimarer Republik, unter erheblichen Gebietsverlusten – insbesondere im ehemaligen Preussen – der Nachfolgestaat des Kaiserreichs, ging fünfzehn Jahre nach seiner Gründung im Dritten Reich der Nationalsozialist:innen auf. Den vierzig Jahren einer Teilung in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nach dem Zweiten Weltkrieg folgten bislang gut dreissig Jahre Wiedervereinigung. Die Hauptstadt wechselte von Berlin nach Weimar und wieder zurück nach Berlin, aber auch nach Bonn, um im vereinigten Deutschland endlich ganz in Berlin zu sein. Und jetzt tobt der Krieg wieder in Europa – vorderhand allerdings erst im Osten.

Aus historischer Perspektive scheint es manchmal, als hätte in Deutschland die Zeit vor der Vereinigung des Flickenteppichs deutscher Fürstentümer durch Otto von Bismarcks strategisches Geschick nie aufgehört. Im Vergleich mit vielen – gerade einflussreichen – westeuropäischen Staaten ist die nationalstaatliche Tradition Deutschlands so kurz und fragmentiert, dass sie kaum als Tradition gelten kann. Alle Bestrebungen einer Staatsbildung – wie grotesk sich die Grossspurigkeit eines tausendjährigen Reichs der Nazis wirklich ausnimmt, wird erst vor diesem Hintergrund deutlich – erschöpften sich nach ein bis zwei Generationen. Und auch wenn die Aussichten auf eine stabilere Entwicklung seit der Wiedervereinigung durchaus vielversprechend sind, so sind seither eben doch erst gut dreissig Jahre vergangen. Nach wie vor ringt dieses verhältnismässig junge, aber enorm potente Staatsgebilde mit seiner offenen Flanke im Osten um sein Selbstverständnis und seine Rolle im europäischen Staatenverbund. Die anhaltenden Diskussionen über eine angemessene Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland und die pazifistischen Appelle einiger Intellektueller rufen dies deutlich ins Bewusstsein.

 

Es geht um die Wirtschaft…

 

Die historischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind erheblich. Während etwa die amerikanischen Kredite des Marshall-Plans die neu gegründete BRD nach dem Zweiten Weltkrieg mit satter Rendite wieder aufbauten, demontierten die Sowjets die DDR, um das kriegszerstörte Russland in Schwung zu bringen. Mit der Folge, dass beispielsweise Metropolen wie die westdeutschen Millionenstädte München, Köln oder Hamburg im Osten fehlen, obwohl Köln oder München vor dem Zweiten Weltkrieg nicht grösster als Leipzig waren. Mit Ausnahme der Hauptstadt Berlin, die als geteilte Stadt ihre ganz eigene Geschichte hat, bleiben alle Städte Ostdeutschlands weit unter einer Million. Einzig in Sachsen liegen mit Leipzig und Dresden zwei Städte mit gut einer halben Million Einwohner:innen. Die thüringische Hauptstadt Erfurt (gut 200’000) gleicht neben ihrer bayerischen Nachbarin München (knapp 1,5 Millionen) einem Dorf. Hamburg allein ist dreimal so gross wie die Hauptstädte Sachsen-Anhalts, Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns, Magdeburg, Potsdam und Schwerin, zusammen. Zur Wendezeit standen gut 60 Millionen Westdeutsche rund 15 Millionen Ostdeutschen gegenüber. Und die darauffolgende Abwanderung aus den ostdeutschen Gebieten in den Westen, so das Statistische Bundesamt Deutschlands, kehrte sich erst 2017 um. Davor verliessen rund zwei Millionen Menschen Ostdeutschland in Richtung Westen. Angesichts dieser Relationen mag die ehemalige DDR aus westdeutscher Sicht tatsächlich insgesamt zur Provinz verkommen – allerdings zu einer Provinz mit einst eigenständigem Staat.

Keine Frage, es lief bei der Abwicklung der DDR-Wirtschaft weit besser als beim Verscherbeln des sowjetischen Tafelsilbers. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass die westdeutsche Finanzkraft dazu beitrug, in Ostdeutschland das Wohlstandsniveau mittels Transferzahlungen und sozialstaatlichen Leistungen zu halten. Dennoch muss es befremdlich anmuten, wenn ausländische Spitzenbeamte im Auftrag der sogenannten Treuhandanstalt, der Verwaltungsgesellschaft zur Überführung der Volkseigenen Betriebe der DDR in die Marktwirtschaft der BRD, das Investitionspotenzial anpreisen. 1992 setzte beispielsweise der ehemalige Präsident der Schweizer Nationalbank, Fritz Leutwiler, im Auftrag der Treuhand in Zürich Wirtschaftsführer:innen die «Chancen für schweizerische Investoren in den neuen Bundesländern» auseinander. Selbstredend kam es auch im Umfeld der Treuhand wie bei der Auflösung der Sowjetunion zu Wirtschaftskriminalität und Veruntreuung, wenn auch in viel geringerem Ausmass.

 

Der Containerhafen: Hamburgs Wohlstandsfundament (© Karsten Bergmann).
Der Containerhafen: Hamburgs Wohlstandsfundament (© Karsten Bergmann, pixabay.com).

 

Die Distanz zwischen einem eigenen Staat, der ehemaligen DDR, und der wirtschaftlichen ebenso wie politischen Bedeutungslosigkeit ist gross. Die Stadt Hamburg allein verzeichnete gemäss Statista 2022 ein etwa gleich hohes BIP wie die beiden Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg zusammen. Dass der Wirtschaftsminister Brandenburgs, Jörg Steinbach, Elon Musk mit offenen Armen empfing, erscheint folgerichtig. Über den umweltschützerischen Widerstand der lokalen Bevölkerung hinweg und noch ohne definitive Baugenehmigung begann Tesla 2020 mit dem Bau einer wasserintensiven E-Autofabrik, obwohl Brandenburgs Böden sandig und trocken sind. Dieser Fabrik wichen in Zeiten des Klimawandels knapp 200 Hektaren Kiefernwald. Die ersten Autos rollten 2022 vom Band. Entschieden wird eben doch trotz Demokratie, so muss es dem einen oder der anderen scheinen, hüben wie drüben von oben her.

 

… oder doch um Politik?

 

Auch Spitzenpositionen in Ostdeutschland sind allzu häufig mit westdeutschen Führungskräften besetzt. Gemäss einer Studie des Centrums für Hochschulentwicklung von 2019 stammte nicht eine:r Rektor:in an den 81 Universitäten in Deutschland aus den neuen Bundesländern. Selbst bei den AfD-Politiker:innen, über welche die beiden Berlinerinnen so gekonnt die Nase rümpften, ist nicht von der Hand zu weisen, dass namhafte Grössen im Westen geboren wurden. Götz Kubitschek, der rechtsnationale Vordenker in seinem Anhaltinischen Schlösschen ist ein Schwabe. Björn Höcke, Scharfmacher und Vorsitzender der AfD Thüringen, ist in Nordrhein-Westfalen geboren. Vertreter:innen des rechten Flügels der AfD wie Hans Thomas Tillschneider (in Rumänien geboren, aber in Baden-Württemberg aufgewachsen, heute AfD Sachsen-Anhalt) oder Andreas Kalbitz (München, heute AfD Brandenburg) wurden allesamt im Westen sozialisiert. Wie die Wirtschaftsführer:innen haben auch Politstrateg:innen gewisser Couleur die Chancen in den neuen Bundesländern gewittert. Einer ARD-Umfrage zufolge verstehen sich viele Menschen in Ostdeutschland als ostdeutsch, während die überwiegende Mehrheit der Menschen in Westdeutschland einfach ‹deutsch› ist. In einem prekären Akt der Selbstbehauptung allerdings wähnt nun so mancher Mensch in der ostdeutschen Provinz, die Ostdeutschen seien die wahren Deutschen.

Ohne Zweifel wurde die nationalsozialistische Vergangenheit in der DDR nur selektiv betrachtet. Eher glich die sogenannte Entnazifizierung in der DDR einer staatlichen Phrase. Zwar wurden im Gegensatz zum Westen manche kompromittierten Entscheidungsträger:innen rasch und entschieden aus ihren Positionen entfernt. Eine zivilgesellschaftliche Aufarbeitung, wie sie im Westen vor allem ab den Sechzigern Fahrt aufgenommen hatte, fand in der DDR aber kaum statt. Der Nationalsozialismus verwandelte sich in der DDR allmählich in eine subkulturelle Protestkultur. Und so durchbrachen diese Subkulturen nach der Wende die sozialistische Oberfläche. Jugendlich gaben sich in den Städten und Dörfern als Punks, Autonome oder Neonazis aufs Maul. Für Furore sorgten die Neonazis mit ihren Überfällen auf Asylunterkünfte – etwa in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Autonome Racheaktionen allerdings – oft von auswärts – heizten die Gewalt an. Erst Jahre später fand auch diese Realität über Schlagzeilen hinaus Gehör, als Romane wie Manja Präkels’ «Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß» (2017) die Verwahrlosung in der zerfallenden DDR vor der Wende und die Gesetz- und Orientierungslosigkeit im ‹Wilden Osten› nach der Wiedervereinigung zu schildern begannen.

Anhand der AfD zeigt sich besonders deutlich, wie viel westlicher Politopportunismus hinter der Wiedervereinigung stand. Zugestanden werden muss natürlich, dass 1989 für wohlüberlegte Entscheidungen kaum Zeit war. Anstatt eine Reform der DDR, damals von vielen Menschen in Ostdeutschland angestrebt, resultierte aus der Friedlichen Revolution eine überstürzte Angliederung an Westdeutschland: Umkremplung des wirtschaftlichen Systems, wertlos gewordene Diplome, zerstörte Berufskarrieren im Tausch für Reisefreiheit und eine dürftige Mitbestimmung in der Politik. Ach, und den ökonomisch unhaltbaren, aber wohlstandssichernden Wechselkurs von 1:1 für den Tausch der Ostmark eines bankrotten DDR-Staats in die Westmark einer prosperierenden BRD-Wirtschaft.

Für ostdeutsche Menschen sind biografische Brüche, von denen Menschen in Westdeutschland nichts spürten, selbstverständlich. Dafür, das zeigte eine ZDF-Umfrage zum Wiedervereinigungsjubiläum, gingen Errungenschaften der DDR wie die fortschrittlichere Geschlechtergleichstellung verloren. In Cottbus, der zweitgrössten Stadt Brandenburgs, bestand noch 2016 ein leichtes Lohngefälle zugunsten der Frauen, stellt die Politologin Angela Saini fest. Der Verlust von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland allerdings ging zu grossen Teilen zulasten der Frauen.

 

Der Euphemismus der Wiedervereinigung

 

Sicher konnten auch Menschen von den neuen Möglichkeiten durch die Wiedervereinigung und die Überführung der Plan- in eine Marktwirtschaft profitieren. Aber die Stasi, die gefürchtete Geheimpolizei der DDR, zum Teufel zu wünschen, musste nicht zwingend bedeuten, westdeutsche Wirtschaftsinteressen willkommen zu heissen. «60 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich wie Bürger zweiter Klasse behandelt», behauptete eine Studie der Bertelsmann Stiftung zum Wiedervereinigungsjubiläum 2020. In ostdeutschen Ohren, und ich habe diese Töne auch hören gelernt, klingt die pathetische Wiedervereinigung, die juristisch ohnehin nur ein Beitritt war, – wirtschaftlich wie politisch – bisweilen wie ein Euphemismus für Übernahme.

 

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  1. Spannend, ich reise heute Abend in die Sächsische Schweiz! So kann ich als Tourist im Osten vielleicht ganz praktisch verifizieren, wovon Du schreibst. Bis zum Nächsten – und toll, dieses Feuilleton. Ich freue mich auf die Fortsetzung zum Thema. – Stephan

  2. Ein sehr guter Text, der die leider häufig anzutreffende westdeutsche Arroganz sehr gut analysiert.
    Es gibt aber auch eine Riesenmenge besserer „Wessis“ als der hier beschriebenen.
    Die haben sich jedoch meistens auch etwas intensiver mit dem Osten Deutschlands beschäftigt.

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