Die Desurbanisierung Ostdeutschlands und die Zersiedelung der Schweiz
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Während Städte in der Schweiz bewusst klein gehalten werden, stagnierten die Städte Ostdeutschlands bereits in der DDR. Nach der Wende setzte dann ein regelrechtes Stadtsterben ein. Die ostdeutschen Städte verloren nicht nur an Bevölkerung, sondern auch an Status angesichts des neuen Kontexts der BRD. Die Gründe für diesen urbanen Niedergang sind vielfältig, die Wirkung war und bleibt verheerend.
Alte Kanäle und Spinnennetze
«Ohne den Zweiten Weltkrieg und die DDR wäre Leipzig eine Millionenstadt», sagt der Stadtführer, während er uns in seinem Boot über die Kanäle schippert. Die Leipziger Industrieviertel Plagwitz und Schleußig sind mittlerweile angesagte Wohnlagen. Anstelle von Produktionsmaschinen beherbergen die ehemaligen Fabrikgebäude weiträumige Loftwohnungen. Noch vor wenigen Jahren allerdings zerfielen die Gründerzeitbauten an der Könneritzstrasse. Industrieruinen zwischen den sanierten Häusern erinnern immer noch an das letzte Jahrhundert. Leipzig ist eben (noch) keine Millionenstadt.
Noch sind die Gebäude jedoch nicht so possierlich saniert wie an den Wasserstrassen. (© Fabian Schwitter)
Dass die magische Grenze einer Million Einwohner:innen für den Wohlstand einer Stadt allerdings nicht massgeblich zu sein braucht, zeigt die Schweiz. Wie eine fette Spinne, das macht die politische Landkarte überdeutlich, sitzt sie mitten im Handelsnetz Europas. Im Zentrum des blauen Gebiets, das die europäische Union abbildet, bleibt ein weisser Fleck zurück. Die Schweiz ist der europäischen Union ferngeblieben und hat noch früh genug auf die sogenannt bilateralen Verträge gesetzt, um dennoch Teil des grössten Binnenmarkts der Welt sein zu können. Grossbritannien, das dieses Modell mit dem Brexit nachahmen wollte, kam nicht nur zu spät, sondern ist als staatliches Gebilde auch viel zu gross für eine solche Position.
Kapitalismus und Zentrum
Ein wesentlicher Effekt der kapitalistischer Wirtschaftsweise und zugleich eine Bedingung seiner Existenz ist Urbanisierung. Das Zentrum akkumuliert die – materiellen und immateriellen – Investitionsressourcen, die dazu dienen, die ressourcenintensive Wirtschaft zuungunsten des Hinterlands voranzutreiben. Kaum braucht erwähnt zu werden, dass sich diese Konstellation auch in rassistischen Kategorien fassen lässt. Ausgesprochen pointiert illustrierte der englische Philosoph Nick Land die kapitalistische Logik mit dem Apartheidsstaat in Südafrika und beschrieb das Verhältnis zwischen der «Kapitalmetropolis» und ihren «Bantustans». Bezeichnenderweise tat er dies an der unscheinbaren University of Warwick im Niemandsland zwischen den Metropolen Birmingham und London kurz vor der Wende. Die Apartheidsfrage allerdings hat aufgrund der US-amerikanischen Politik gegenüber Südafrika wieder an Brisanz gewonnen. Das Verhältnis der Schweiz mit ihrer Arbeitsgruppe südliches Afrika zum ehemaligen Apartheidsstaat wirft bis heute Fragen auf. Und das Selbstverständnis der Schweiz, die das übrige Europa darin noch übertrifft, jederzeit auf Arbeitskräfte aus dem Ausland zurückgreifen zu können, spricht Bände.

Ist London auch ein globales Zentrum, kann Grossbritannien als Ganzes nie ein Zentrum werden. Die Schweiz allerdings hat es geschafft zumindest mit der geografischen Region des Mittellands einen zusammenhängenden Urbanisierungsraum hervorzubringen, der das gesamte Land von Südwesten nach Nordosten durchzieht. Da tut es dann wenig, dass die einzelnen Städte in der Schweiz verschwindend klein sind im Vergleich mit den Millionenmetropolen Westeuropas und erst recht der Welt. Die beliebte Mundart-Rockband «Züri West» aus Bern diagnostizierte die Situation bei ihrer Gründung 1984 durchaus richtig und begriff mit ihrem Bandnamen die Hauptstadt Bern als Vorort von Zürich – trotz einer Distanz von knapp hundert Kilometern Luftlinie zwischen den beiden Städten.
Grosse Kleinstädte von Weltrang
Die Hauptstadt der Schweiz beherbergt eine Wohnbevölkerung von unter 150’000 Menschen. Zürich, die mit Abstand grösste Stadt der Schweiz wiederum, bringt es nicht annähernd auf eine halbe Million Menschen. In der zweitgrössten Stadt der Schweiz, dem weltbekannten UNO-Sitz Genf, leben lediglich gut 200’000 Menschen. Genf ist kleiner als die Hauptstadt Thüringens. Zürich kommt nicht an die sächsischen Grossstädte Leipzig und Dresden heran. Magdeburg, die Hauptstadt Sachsen-Anhalts, übertrifft Basel als drittgrösste Stadt der Schweiz bei weitem.
Mit dem Zug allerdings reisen die Menschen von Zürich nach Genf in drei Stunden. Und während sie nicht einmal mit der Hochgeschwindigkeit eines ICE durch die Landschaft brausen, müssen sie sich bisweilen anstrengen, die Grenzen der Dörfer oder Grünstreifen zwischen den bebauten Gebieten ausmachen zu können. Die Kehrseite dieser ungeheuren Infrastrukturdichte ist eine Zersiedelung der Landschaft, die anstelle von einzelnen Städten das ganze Mittelland in Wohnraum verwandelt. Der sogenannte ‹Dichtestress›, das Unwort des Jahres 2014, drückt gerade in Zusammenhang mit der Sorge um das Verschwinden natürlicher Landschaften die beständige Angst vor Übervölkerung aus. Die besten Chancen auf Natur – oder zumindest Agrarland – haben die Reisenden zwischen Bern und Lausanne, wo die Sprachgrenze verläuft. Da lässt sich die Berührungslosigkeit erahnen, die wahrscheinlich weltweit das Mittel der Koexistenz nur schon geringfügig unterschiedlicher Kulturen ist.

Die Schweiz, insbesondere wenn die unbewohnbaren Gebiete der Alpen noch subtrahiert werden, ist ein singulär dichtes Wohlstandsgebiet in Europa. Sie ist klein genug, eine lückenlose Infrastruktur hervorzubringen. Und diese wurde in keinem der Weltkriege in Mitleidenschaft gezogen wie etwa in den ebenfalls äußerst dicht besiedelten Ländern Niederlande und Belgien. Sie ist gross genug, im Gegensatz etwa zu einem europäischen Stadtstaat wie Monaco, eine nennenswerte Industrie zu beherbergen. Zugleich ermöglicht ihr die Zentrumsfunktion, im Handel – von der Finanz- bis zur Rohstoffbranche – eine Schlüsselrolle einzunehmen, sodass sie sich letztlich den bewussten Erhalt der historischen Kleinräumigkeit ihrer politischen Geografie leisten kann. Ganze 26 Kantone oder Halbkantone stehen den 16 deutschen Bundesländern gegenüber. Eine Millionenstadt weist die Schweiz keine auf. Die Fläche einer Kommune in Deutschland ist fast doppelt so gross wie in der Schweiz.
Zahlen und ihre Interpretation
Wer strikt auf die Zahlen schaut, wird zwar feststellen, dass die Schweiz in Sachen Bevölkerungsdichte hinter Deutschland und Grossbritannien rangiert. Der Mittelwert verschleiert dabei jedoch, dass in diesen Ländern – im Gegensatz zur Schweiz – enorme Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen bestehen. Gleichzeitig ist fast das ganze Territorium bewohnbar (und wird auch bewohnt), während in der Schweiz ein signifikanter Teil der Fläche – rund ein Viertel der gut 40’000 Quadratkilometer Staatsgebiet – gar nicht bewohnbar ist.

Tragen die grossen Länder also auch für Landstriche eine kostspielige Verantwortung, die sehr dünn besiedelt sind, ist es ökonomisch natürlich einträglich, diese Verantwortung gar nicht erst tragen zu müssen und dennoch über ausreichend Anziehungskraft zu verfügen, um Ressourcen zu akkumulieren. Das heisst im Hochlohnland Schweiz etwa, dass qualifizierte Arbeitskräfte aus Deutschland abwandern, um in der Schweiz wesentlich mehr Geld zu verdienen, als sie dies insbesondere in Ostdeutschland könnten. Die bekannten Steuer- und Bankenpraktiken wiederum sorgen für einen konstanten Kapitalzufluss aus der ganzen Welt.
Dass die geringe Grösse – hinsichtlich der Geografie ebenso wie der Population – auch der politischen Verantwortung zu entheben scheint, ist das Sahnehäubchen auf einem üppigen Kuchen. Wen interessiert es, was die Schweiz tut? Ohne Deutschland – oder eben auch Grossbritannien, ob vor oder nach dem Brexit – ist in Europa hingegen nichts zu machen. Und seit der Wiedervereinigung gehören auch die neuen Bundesländer zu diesem Machtblock, während sie zugleich dazu verdammt sind, fast machtlos mitzuschwimmen.
Lieber eine blaue Banane als gar keine Bananen
Dass die Schweiz – im Gegensatz zu weiten Teilen Ostdeutschlands – schon früh eine Zentrumsfunktion innehatte, illustriert ein Ballungsraum in Europa, der von den norditalienischen Häfen über das Rheintal und die niederländischen Häfen bis zu den englischen Metropolen reicht. Die sogenannte blaue Banane als Handelsraum etablierte sich auf dem Fundament des antiken römischen Reichs bereits im Mittelalter, wie der Wirtschaftshistoriker Tobis Straumann in einer Dokumentation des Schweizer Fernsehens erklärt. Und die Schweizer Städte – von Genf bis Zürich – befinden sich mittendrin. Zur Dynamik dieses Wirtschaftsraums, der bis heute das wirtschaftliche Rückgrat Europas bildet, war Ostdeutschland – trotz der historisch starken Position Sachsens als Drehscheibe des aufkommenden Handels mit Nord- und Osteuropa – peripher.

Nach der Teilung Deutschlands waren die Gebiete der DDR von diesem Wirtschaftsraum abgeschnitten und hatten eben keinen – oder höchstens einen stark erschwerten – Zugang zur blauen Banane. Der sprichwörtliche Mangel an Bananen im DDR-Sozialismus erscheint angesichts dessen als hintergründige Pointe. Das Blau der EU wiederum referiert nicht zu Unrecht auf diesen Wirtschaftsraum, der im Zusammenschluss der Benelux-Länder, Westdeutschlands, Frankreichs und Italiens einst den Kern der Europäischen Union bildete. Dass der Begriff der Blauen Banane just in dem Augenblick vom französischen Geografen Roger Brunet geprägt wurde, als Ostdeutschland aufgrund der Wende wieder in den Blick kam, entbehrt nicht der Ironie. Kaum wieder mit Westeuropa verbunden, rutscht Ostdeutschland in die Peripherie.
DDR und BRD nach dem Zweiten Weltkrieg
Zu behaupten, die ostdeutschen Städte hätten unter den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg mehr als die westdeutschen gelitten, wäre sicher überzogen. Die Royal Air Force und die US Air Force flogen hunderte von Einsätzen, um Bomben über deutschen Städten und Industriezentren abzuwerfen. Mit Ausnahme von Görlitz und Neubrandenburg wurden allerdings alle der zwanzig größten Städte in der späteren DDR angeflogen. Wesentlicher als diese Bombardierungen waren im Vergleich mit Westdeutschland aber sicher die weit geringeren Ressourcen für den Wiederaufbau.
Mag die unmittelbare Wirksamkeit des Marshall-Plans, nach dem die Vereinigten Staaten umfangreiche Wiederaufbauhilfe leisteten, bezüglich des Wirtschaftswunders der Fünfzigerjahre auch umstritten sein, so ist dennoch bezeichnend, dass die UdSSR den Bezug von Hilfen aus den USA nach anfänglichen Verhandlungen ablehnte und auch den osteuropäischen Staaten unter ihrem Einfluss die Partizipation daran verbot. Dass der westliche Wirtschaftsraum – insbesondere mit Blick auf die USA – insgesamt weniger versehrt war als der osteuropäische, dürfte auch ohne dieses pikante Detail einleuchten. Zudem wurden die osteuropäischen Staaten nach der Teilung Europas weitgehend vom westeuropäischen Wirtschaftsraum abgeschnitten.

Sinnfällig für die unterschiedliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland ist das Bevölkerungswachstum. Während die westdeutsche Bevölkerung (nicht zuletzt aufgrund von Zuwanderung) von der Staatsgründung der BRD bis zum Mauerfall 1989 um rund zehn Millionen Menschen wuchs, verzeichnete die DDR abgesehen von wenigen Jahren unmittelbar nach dem Mauerbau eine konstant sinkende Bevölkerung. Dass die Schrumpfung der Bevölkerung nach der Wende noch einmal dramatisch zunahm, braucht kaum mehr erwähnt zu werden.
Der gesamtdeutsche Kontext nach der Wende
Vor dem Hintergrund dieser sehr verschiedenen Bevölkerungsentwicklungen in Ost und West konnte die Wende ihre zersetzende Kraft erst recht entfalten. Ungeachtet der spezifischen Ursachen für die Desurbanisierung im Einzelnen sticht ins Auge, dass die verhinderten Millionenstädte Leipzig und Dresden (neben Berlin wohl die einzigen Kandidatinnen im Osten) durch die Wiedervereinigung in tatsächlicher Konkurrenz mit den Millionenstädten Westdeutschlands standen. Hatten diese beiden Grossstädte im neuen Staat schon um Status zu ringen, gilt dies erst recht für regionale Zentren.

Einst wichtige Produktions- und Verwaltungszentren wie Cottbus verschwanden nach der Wende in der Versenkung. Im neuen Bezugsrahmen des wiedervereinigten Deutschlands hatten sie nicht annähernd mehr die Bedeutung, die sie in der DDR gehabt hatten. Überdies ergriff der industrielle Strukturwandel, der im Westen mit der allmählichen Stilllegung der Schwerindustrie bereits Ende der Fünfzigerjahre eingesetzt hatte, nun auch den Osten. Die Verzögerung, mit der Prozesse den Osten erfassten, verstärkte die dramatischen Umwälzungen aufgrund der Geschwindigkeit zusätzlich.
Verlust des städtischen Lebensgefühls
Die Desurbanisierung betraf jedoch nicht nur diese harten demografischen und ökonomischen Fakten, sondern – als eine Art Provinzialisierung – wesentlich auch das urbane Lebensgefühl. Da das soziale Leben in der DDR über die Betriebe organisiert war, zerfielen diese Strukturen mit der Abwicklung der sozialistischen Wirtschaft. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk listet auf, was in der DDR alles unmittelbar mit der Betriebsstruktur zusammenhängen konnte: «Einkommen, Freizeit, Urlaub, Gesundheitsvorsorge, Krankenbetreuung, Kultur, Rentnerbetreuung, Freundschaftsbeziehungen, Liebe und Sexualität, Feierkultur, Kinderbetreuung.» Übernahmen andere Einrichtungen die basale Versorgung wie Gesundheitsvorsorge oder Rentner:innenbetreuung, verloren die Städte an Lebendigkeit, als Musik-, Sport- und Kulturvereine zusammen mit den Betrieben untergingen.
Seither hat nichts diese sozialen Strukturen adäquat ersetzt. Scheinen zwar die Unterschiede hinsichtlich der Vereinsdichte zwischen Ost- und Westdeutschland weniger dramatisch zu sein, als vielleicht zu erwarten gewesen wäre, so ist doch augenfällig, dass diese Vereine über deutlich weniger Ressourcen verfügen als ihre Pendants im Westen. Das zeigt etwa die Entwicklung des Fussballs in Ostdeutschland seit der Wende und auch die deutlich geringere Stiftungsdichte lässt darauf schliessen.
Provinzialisierungstendenzen in der DDR
Mit den Umwälzungen der Wende verstärkte sich eine Provinzialisierung in Ostdeutschland, die ihre Wurzeln schon in der DDR hatte. Nikolai Okunew beispielsweise spricht in seiner Darstellung der Heavy-Metal-Subkultur in der DDR von staatlichen «Ordnungsvorstellungen, nach denen man sich nach Feierabend in der Nähe des Wohnorts aufzuhalten habe.» Diese Ordnungsvorstellung steht einer urbanen Zentralisierung entgegen, wie sie üblicherweise stattfindet, wenn Menschen aus dem Umland für kulturelle Veranstaltungen die weitreichenderen Möglichkeiten einer Stadt nutzen und lässt eine im Vergleich mit Westeuropa immobile Bevölkerung vermuten.

Die aufgrund ihrer anstössigen Aufmachung ungern gesehenen Heavy-Metal-Fans, legt Okunew dar, «verletzten […] durch ihre Mobilität» zwar diese Ordnungsvorstellungen, nahmen sie doch häufig einen erheblichen Aufwand auf sich, um zu Konzerten zu fahren. Selten allerdings suchten sie dabei «die großen Ballungszentren auf», weil «Konzerte in die Bezirke und Kreise schlecht informierter Sicherheitskräfte verlegt wurden», um «Richtlinien» zu umgehen. Die geografische Provinzialisierung resultiert aus einem bereits innerhalb der DDR bestehenden organisatorischen Gefälle zwischen Stadt und Land. Pointiert hält Okunew fest: «In der Stadt Leipzig verzeichnete das MfS 1989 selbstzufrieden keine Orte, an denen Heavy Metal gespielt wurde oder wo Heavys in ihrer Kleidung Einlass erhielten.» Dafür wurde im «Leipziger Umland» Metal gespielt.
Die Welt ist eine Stadt, die DDR ein Dorf
Verfügte die DDR über schwächere urbane Zentren als die BRD, so verloren auch die Kleinstädte nach der Wende ihre Anziehungskraft, als der Wegfall staatlicher Restriktionen das Ausweichen wie der Heavy-Metal-Szene in die Provinz unnötig erscheinen liess. Im Vergleich mit den Entwicklungen im Westen prägt Ostdeutschland eine Provinzialisierung auf mehreren Ebenen. Angefangen bei den internationalen Reiserestriktionen über die erwähnten Ordnungsvorstellungen im Inland bis hin zu einem ganz anderen Verhältnis zwischen Stadt und Land, das daraus resultiert. Dieses spiegelt sich etwa in der Aussage des Torgauer Punks Fitze, der von einer einstmaligen Dichte von Konzertlokalitäten alle dreissig Kilometer spricht.
Insgesamt bediente sich die Staatsideologie in der DDR, die ihrem Selbstverständnis nach progressiv war, mit diesen Mobilitätsrestriktionen eines erstaunlich konservativen Mittels. Seit dem ausgehenden Mittelalter sorgten unterschiedliche Prozesse für eine sukzessive Lösung der dörflichen Bevölkerung von ihrem Land, an das sie ökonomisch und oft auch juristisch gebunden war. Die staatlichen Vorgaben gerade in der späten DDR zielten trotz sozialistischer Planstadtgründungen verblüffenderweise auf eine Rückkehr zu dörflich-kleinstädtischen Verhältnissen.
Von Überalterung zur Eingemeindungen und Dynamik
Diese Kleinstädte überaltern nun rapide. Es ist zwar nicht so, dass nur Ostdeutschland von diesem Problem betroffen wäre. Ländliche Gebiete in der Schweiz genauso wie in Westdeutschland haben zu kämpfen, weil der spärliche Nachwuchs auch noch häufig wegzieht. In Ostdeutschland allerdings zeigt sich das demografische Problem, das westliche Länder aufgrund der tiefen Geburtenraten insgesamt haben, besonders dramatisch. So verzeichnen die neuen Bundesländer eine noch tiefere Geburtenrate als die alten. Im äussersten Fall schrumpft die einst kinderreichste Stadt Ostdeutschlands, Hoyerswerda, im Verlauf von fünfzig Jahren um die Hälfte und wird zu einer Stadt der Alten.

Um den Bevölkerungsverlust zu kompensieren oder die positive Bevölkerungsentwicklung zu verstärken, greifen Städte zu Eingemeindungen. Was eine Stadt wie Cottbus über der Grossstadtgrenze von 100’000 Einwohner:innen hält, relativiert nach einer Publikation des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle die Erfolgsgeschichte Leipzigs. Hinzu kommt eine vergleichsweise tiefe Akademiker:innen-Quote in Ostdeutschland generell, wie die Studie «Ungleiches Deutschland» der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt. Ihre Wurzeln hat diese nicht zuletzt in Honeckers Politik, wie Steffen Mau in «Lütten Klein» darlegt: «Gegen den internationalen Trend drosselte die DDR den Ausbau von Erweiterten Oberschulen und Universitäten.» Von der Wohlstandszone zwischen den Städten Stuttgart und München ist die Provinz zwischen Leipzig und Dresden jedenfalls noch weit entfernt.
Auf der einen Seite hält die Provinzialisierung offenbar an, sodass Leipzig als Stadt die Struktur des Bundeslands widerspiegelt. Einst eine Grossstadt mit besonders hoher Bevölkerungsdichte ist Leipzig aufgrund der Eingemeindungen zu einer besonders flächengrossen Stadt geworden. Auf der anderen Seite können die Eingemeindungen aber auch als Zentralisierungsanstrengung betrachtet werden, um einer Stadt wie Leipzig das Gewicht zu verleihen, das sie braucht, um für das weitläufige und dünn besiedelte Umland die nötige Anziehungskraft zu entfalten. Leipzig rangiert dann gemäss Prognos-Ranking auch mit den weiteren ostdeutschen Städten Chemnitz und Jena unter den lebenswertesten zehn Städten Deutschlands. Die ostdeutschen Städte punkten mit ihrer Dynamik und nicht zuletzt mit der Kinderbetreuungsinfrastruktur. Dagegen stagnieren gerade die alten Industriezentren im Ruhrpott.
Der Weg bleibt weit
War Ostdeutschland schon historisch strukturschwächer, so rutschten die neuen Bundesländer mit der Wende noch weiter in die Peripherie ab. Die Stärke der Kleinstädte ging verloren, während die Städte in Ostdeutschland – trotz bisweilen hoher Lebensqualität – noch nicht die erforderliche Dynamik erreicht haben, um diesem Verlust entgegensteuern zu können. Ganz Ostdeutschland wurde aus westdeutscher Sicht zu einem Absatzmarkt und Arbeitskräftereservoir für Fliessbandarbeit in der Fertigung (z.B. Automobilindustrie) oder der Logistik (z.B. DHL, Amazon). Das ändert sich erst allmählich, wobei dieser Prozess von den politischen Entwicklungen vielleicht unterbrochen wird, noch bevor er richtig einsetzen kann. Sogar in den Innenstädten Leipzigs und Dresdens denken Menschen aufgrund der Wahlergebnisse bereits darüber nach, aus Ostdeutschland wegzuziehen. Ob Leipzig jemals die Millionengrenze erreichen wird?
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