Ausgerechnet Ostdeutschland, wen interessiert das schon? Eben!
2’132 Wörter / ca. 12 Minuten
Warum gerade über Ostdeutschland schreiben? Was als kontingenter Umstand einer Biografie begann, könnte sich als weit mehr herausstellen. Im bevölkerungsreichsten Land Europas widerspiegeln sich die Gräben des ganzen Kontinents. Dabei die andere Seite hautnah mitzuerleben ist eine lehrreiche Erfahrung.
Zum Jubiläum Rudolf Bahro: Bitte, wer?
Natürlich hätte ein solcher Blog 2020 zum dreissigjährigen Jubiläum der Wiedervereinigung von BRD und DDR starten müssen. Das leuchtet ein. Natürlich hatte ich anlässlich dieses Jubiläums etwas geplant und bereits bei der NZZ als Vorschlag deponiert: eine Rückschau auf Rudolf Bahros Buch «Die Alternative – Zur Kritik des real existierenden Sozialismus». Bahro, einst überzeugter DDR-Sozialist und später prominenter Dissident, versuchte dem verkrusteten Funktionärsstaat dringend nötige Reformen nahezulegen. Das Buch erschien, nachdem das Manuskript vorher in den Westen geschmuggelt worden war, 1977. Bahro verliess die DDR nach zweijähriger Haft 1979, um sich – mit mehr oder weniger guten Ideen – bei den Grünen zu engagieren. Zehn Jahre später kollabierte die DDR, während im Westen die neoliberale Agenda Thatchers und Reagans Fahrt aufnahm und von Linken wie Blair oder Schröder in Form von Arbeitsmarktreformen und einer strategischen Hinwendung zur Mittelklasse zu Ende geführt wurde. Das erlebte Bahro (†1997) allerdings nicht mehr. Manche seiner Überlegungen hingegen wären, obwohl der real existierende Sozialismus längst Geschichte ist, wahrscheinlich auch im Kapitalismus der letzten Jahrzehnte noch bedenkenswert.
Zum Jubiläum Corona: Bitte, was!?
Hätte… wäre… zur Rückschau auf Bahros Alternative kam es nicht. Corona vereitelte das Vorhaben. Schliesslich verfügte ich aufgrund der Lockdowns plötzlich nur noch über die Hälfte meiner Arbeitszeit. Also fiel das eine oder andere Projekt über die Schreibtischkante. Aber vielleicht lässt sich das dereinst nachholen. Von DDR-Erfahrungen und Ostgeschichten zu lernen, stünde längst an. Dass der Osten nämlich bereits – ob wohl oder übel – vom Westen lernen musste, ist eine Tatsache, die einige begrüssen und andere bedauern. Dass der Westen die Gelegenheit ergriffen hätte, auch vom Osten zu lernen, lässt sich dagegen nicht mit derselben Sicherheit sagen.
Die Kontraste im ersten Text – so selektiv die Beispiele auch sein mögen und so selbstverständlich sie gerade für Menschen aus Ostdeutschland sind – machen mehr als deutlich, dass sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zwei unterschiedliche Geschichten ereignet haben, deren Auswirkungen nach wie vor spürbar sind. Mehr noch, diese Kontraste, die im geteilten Deutschland ihr historisches Symbol finden, betreffen Europa insgesamt. Das Zusammenwachsen des europäischen Kontinents bleibt auch Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein fragiler Prozess.
Während manche Staaten in Europa die Wahl hatten, sich dem Projekt EU zu verweigern (darunter prominent die Schweiz), verhungerten andere Staaten am langen Arm. Der Gradient verläuft – nicht unberührt vom Kalten Krieg – von Nordwesten, wo sich auch Norwegen – nicht zuletzt dank seines Ölreichtums – einen eigenen Weg leisten kann, nach Südosten über die ehemaligen Ostblockstaaten Rumänien und Bulgarien bis in die Türkei. Die Beitrittsbestrebungen der Türkei zur Europäischen Union, immerhin ist die Türkei Nato-Mitglied, wurden allerdings über Jahre hinweg systematisch hintertrieben. Natürlich wollte in der Hauptstadt Bruxelles niemand öffentlich Klartext reden: 80 Millionen Türk:innen, von denen die meisten muslimisch sind, wollen wir nicht in der EU – und erst recht keine Schafhirten aus Ostanatolien. Verlöre Deutschland bei einem Beitritt der Türkei zur EU knapp den Status als weitaus bevölkerungsreichstes EU-Land, wird dagegen umso deutlicher, wie zentral Deutschland in Europa ist: geografisch wie politisch. Deutschland allerdings gibt es eben nur mit diesen unterschiedlichen Hintergründen. Sie im Westen nach wie vor zu ignorieren ist, wenn nicht gar schlimmer, zumindest eine vertane Chance.
Zum Jubiläum: Kein Grund zum Feiern
Mögen die russischen Aggressionen gegen die Ukraine osteuropäische Staaten aus Sicherheitsgründen auch weiter nach Westen treiben, die russischen Verhältnisse bleiben für manche dennoch eine Alternative. Auch wenn sich der ungarische Präsident Viktor Orban kaum wie zu Zeiten des Warschauer Pakts russischen Machtinteressen – oder ‹Spezialoperationen› – unterwerfen möchte, so scheint auch für die Bevölkerung die sogenannt ‹illiberale› Demokratie nach russischem Vorbild plausibler zu sein als eine liberale Demokratie im westlichen Sinn. Dabei hat das nicht in erster Linie mit einer Demokratieunfähigkeit der Menschen auf dem Gebiet des ehemaligen Warschauer Pakts zu tun, wie manche seit der Wende regelmässig von Fernseh- und Redaktionssesseln oder sogar vom Posten des sogenannten Ostbeauftragten aus diagnostizieren. Mag sein, dass demokratische Prozeduren in diesen Regionen – auch institutionell – weniger verankert sind als in Westeuropa und entsprechend leichter über Bord geworfen würden. Die Rechnung ist insgesamt dennoch viel einfacher: Wenn die Demokratie keine Dividende mehr abwirft, verliert sie in den Augen der Menschen ihre Daseinsberechtigung.
Der englische Politologe David Runciman hob in seinen Überlegungen zu einem möglichen Ende der Demokratie (Wie die Demokratie endet, 2018) zwei wesentliche Versprechen demokratischer Staatswesen hervor: Anerkennung durch Mitbestimmung und Verbesserung der materiellen Lebensumstände. Demokratie ist – das müssen wir wahrscheinlich eingestehen – eine Staatsform, kein Selbstzweck. Und wenn beide Versprechen ihrer Einlösung harren, wenn also der Lebensstandard kaum steigt, die soziale Unsicherheit im Vergleich mit den rückblickend glorifizierten Jahren des real existierenden Sozialismus stetig zunimmt und zugleich die eigene Position im politischen Grossprojekt Europa marginal bleibt, so ist ein pragmatischer Autoritarismus womöglich wünschenswerter als das Gängelband der westlichen Demokratie-Schulmeister:innen. Zumal in den westeuropäischen Staaten – insbesondere in Deutschland – die Politik konservativer und sozialdemokratischer Regierungen lange vor dem Schlagwort der Alternativlosigkeit schon zunehmend ununterscheidbar geworden war.
Ungeachtet der Frage nach den materiellen Lebensumständen scheint dem Osten darüber hinaus die Aufmerksamkeit erst sicher zu sein, wenn er sich widerspenstig gibt. Während der Flüchtlingskrise 2015 etwa sperrten sich die rechtskonservativen Regierungen Osteuropas – nicht zuletzt mit dem Verweis auf die Inkompatibilität der muslimischen mit der christlichen Kultur – gegen die Aufnahme von syrischen Geflüchteten, die wahrscheinlich ohnehin lieber in westeuropäischen Ländern untergekommen wären. Die westeuropäische Aufforderung zur Solidarität allerdings, die sogar mit juristischen Mitteln durchgesetzt werden sollte, klang reichlich schal. Seit Jahr und Tag ignorieren die wohlhabenden Staaten Nordwesteuropas die Bitten um Hilfe der Grenzstaaten im Süden Europas – Griechenland, Italien und Spanien – bei der Bewältigung der illegalen, wenn auch nicht illegitimen, Migration. Migrationsbewegungen von Südosten nach Nordwesten werden jedoch nicht abreissen. Der Wohlstand in den satten Staaten des Nordwestens ist zugleich ihre Achillesferse.
Im wiedervereinigten Deutschland zeigen sich diese Zusammenhänge wie unter einem Brennglas, verliehen die Ereignisse 2015 doch auch der AfD erst Schwung. Der Blick auf Ostdeutschland könnte dabei helfen, diese Zusammenhänge nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch zu verstehen. Bestimmte Haltungen primär abzutun und sie allenfalls mit dem Verfassungsschutz zu bekämpfen, hilft – zumal in einer Demokratie – ohnehin nicht. Sie werden trotz schulmeisterlicher Ermahnungen aus dem Westen, auch das hat der Umgang der antifaschistischen DDR mit dem Nationalsozialismus gezeigt, nicht verschwinden – im Gegenteil. Ostdeutschland ist dabei vertraut – vertrauter zumindest als Polen oder Bulgarien – und hat vor allem mit Blick auf die älteren Generationen dennoch in grossem Mass Teil an der jüngsten Geschichte Osteuropas. Während des Kalten Kriegs etwa fuhren die Menschen, die es sich leisten konnten, für den Sommerurlaub nicht ans Mittelmeer, sondern ans Schwarze Meer. Ostdeutschland trägt die europäischen Differenzen – bisweilen noch in zugespitzter Form – ins Herz des bevölkerungsreichsten Staats des Kontinents.
Dass sich westeuropäische Sichtweisen für diejenigen relativieren, die wirklich einmal nach Osten schauen, liegt auf der Hand. Auch westeuropäische Orientierungsgrössen wie Paris, neben Berlin wohl oder übel die zweite Säule der EU (immerhin verlor Frankreich innerhalb von 70 Jahren drei Kriege gegen Deutschland und tut also gut daran, die Freundschaft zu pflegen), bröckeln bedrohlich, wenn ich an die wiederkehrenden Banlieue-Unruhen denke. Und an den reaktionären Rändern Europas, die weit bedrohlicher sind als aufbegehrende Menschen im Erzgebirge oder im Thüringer Wald, kehrten nicht nur manche Russ:innen gerne zu alter Grösse zurück, auch wenn das British Empire längst untergegangen ist.
Zum Jubiläum: Kontraste statt Einheit
Bereits die wenigen Jahre, die ich in Ostdeutschland verbracht habe, lassen den Hochglanz meiner Herkunftsstadt – Zürich – in einem anderen, weit realistischeren Licht erscheinen, so sehr ich meiner Herkunftsstadt auch verbunden bleibe. Der vollständig in Besitz genommenen Limmatstadt stehen die Freiräume Leipzigs wohltuend entgegen, auch wenn hier Mülleimer im öffentlichen Raum spärlicher sind und Klos in den weitläufigen Parks fehlen. Sind mir die holprigen Kopfsteinpflasterstrassen – selbst in den Grossstädten Ostdeutschlands – längst zum liebgewonnenen Symbol meiner Wahlheimat geworden, so schleichen sich mittlerweile sogar Gundermanns Lieder unvermittelt in meine YouTube-Playlists ein.
Aus meiner Schweizer Perspektive kam dieser Osten jedoch kaum in den Blick. Deutschland, ebenso ungeliebt wie unumgänglich, war zwar eine zwiespältige Referenz für die kleine Deutschschweiz. Dass es Ostdeutschland überhaupt gibt, trat zumindest in meiner Generation kaum mehr ins Bewusstsein. Ansonsten wanderte der Blick west- (Frankreich) oder südwärts (Italien). Hinter dem östlichen Nachbarn Österreich, über den in der Schweiz Witze kursieren wie in Deutschland über die Ostfriesen, hörte die Welt auf. Mittlerweile verdichtet sich aber die Ahnung: Der Osten hält Erfahrungen bereit, die dem Westen abgehen.
Grund genug also, vom hohen Ross herunterzusteigen, den wohlfeilen Sensationalismus und den panischen Alarmismus hinsichtlich der politischen Zustände beiseitezuschieben und diese Erfahrungen ernst zu nehmen. Denn das vermeintliche Kuriosum Ostdeutschland zu verstehen, bedeutet womöglich nicht nur, einen ausgewogeneren Blick auf Europa zu gewinnen, sondern auch, die eigenen Verstrickungen nicht ausser acht zu lassen. Die Schweizer SVP etwa ist ein Vorbild für europäische Rechtsparteien wie die AfD und unterstützt diese wahrscheinlich nicht nur ideell (überhaupt gehört zur Schweizer Staatsraison – ähnlich vielleicht wie in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung – eine parteiunabhängige Trotzhaltung gegenüber den grösseren Nachbarländern sowie der EU). Die eigenen Verstrickungen liess die Schweiz jedoch historisch nur allzu gern ausser Acht. Darin übertrifft sie die Selbstgerechtigkeit noch, die in Westeuropa den Zusammenbruch des Ostblocks begleitete. 150 Jahre Vermeidung von Kampfhandlungen unter dem Deckmantel der Neutralität mögen zwar ein Segen sein. Dass sich die Schweiz dabei jederzeit vorbildlich verhalten hätte, ist – entgegen beharrlicher Nationalmythen – zumindest fraglich.
Ostdeutsche Erfahrungen könnten zu einem hilfreichen Korrektiv der westlichen Perspektive – nicht zuletzt derjenigen der Schweiz – werden, ohne dafür globale Ungerechtigkeiten heranziehen zu müssen. Soziale, um nicht zu sagen sozialistische, Anliegen sind nicht deckungsgleich mit der SED-Diktatur oder stalinistischem Terror. Diese Unterscheidung zu treffen, erleichterte es, eine zukunftsträchtige Politik zu betreiben. Statt die historischen Aversionen des Kalten Kriegs weiterzupflegen, überliessen wir die Suche nach Alternativen, beispielsweise mit Bahros Kritik am real existierenden Sozialismus im Hinterkopf, besser nicht der AfD – und ihren internationalen Partnerparteien – allein.
Zum Jubiläum: Wende oder Corona?
Um die Vielfalt einer Geschichte zu erfahren, taugen Vogelperspektive und Ferndiagnosen – wie in vielen öffentlichen Debatten und auch in diesem Text – allerdings kaum. Der unmittelbare Blick auf Orte, Begebenheiten und Generationen noch vor einer Einordnung oder Beurteilung ist angesichts der massiven Veränderungen, die Ostdeutschland in den letzten Jahrzehnten durchlebt hat, Voraussetzung für ein differenziertes Verständnis. Der direkte Kontakt erst, solange er gerade mit den älteren Generationen überhaupt noch möglich ist, plausibilisiert gemachte Meinungen – oder hebt sie aus den Angeln. Die tägliche Auseinandersetzung schärft den Blick und vertieft das Verständnis, so sehr Fragen auch jederzeit offenbleiben mögen.
Wer genau ist jetzt der erwähnte Gundermann? Und warum bietet Leipzig – noch – urbane Freiräume? Wie verhält sich sozialistischer Bergbau zu Konzernen wie Glencore in der Schweiz? Was sagt uns eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft der DDR über das Schweizer Subventionswesen in der Landwirtschaft? In welchem Licht sehen wir die Verhältnisse zu den historischen Schutzmächten USA und Sowjetunion? Könnte nicht die Überfremdungsinitiative James Schwarzenbachs Ende der Sechziger zum Verständnis der heutigen Situation im Osten beitragen? Sind Mütter, die ihre Kinder fremd betreuen lassen, um einer Arbeit nachzugehen, in den Augen ihrer Kinder tatsächlich Rabenmütter? Ist nun Corona einschneidender oder doch die Wende? Gerade die Beantwortung dieser Frage hängt nicht nur von Ost und West ab, sondern auch von Generationen. Die Antwort mag im Westen eindeutig zugunsten von Corona ausfallen. Im Osten dagegen war der Fall der Mauer für die sogenannte Wendegeneration wahrscheinlich einschneidender als Corona. Auf die Nachwendegeneration trifft das weniger zu.
Zum Jubiläum: Ode an die Wahlheimat
Werden diese Texte also meine Aneignung Ostdeutschlands dokumentieren, das mir in den letzten Jahren zur Wahlheimat geworden ist, so sind sie vielleicht auch eine kleine Liebeserklärung an diese Wahlheimat. Immerhin empfinde ich es mittlerweile als Vorzug, dass mich der Zufall nach Ost- und nicht nach Westdeutschland verschlagen hat. In Frankfurt a. M. oder in München würde ich, wie ich – vielleicht zu Unrecht – vermute, nur Zürich noch einmal erleben. Das interessantere Deutschland als die alte BRD, weil es der Schweiz zugleich ähnlicher und fremder ist, stellt Ostdeutschland mit seiner DDR-Vergangenheit dar. Und dieses Deutschland hoffe ich über die Landesgrenze hinweg weitergeben und damit das Entwickeln einer europäischen Perspektive auch in der Trutzburg Schweiz erleichtern zu können. Ganz nebenbei gelingt es mir damit vielleicht auch, eine Forderung einzulösen, die der ostdeutsche Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann jüngst in seinem Buch «Der Osten: eine westdeutsche Erfindung» (2023) vorbrachte: nicht nur vom Westen aus über den Osten zu reden, sondern auch vom Osten aus über den Westen. Dieser Westen allerdings – und das ist vielleicht auch in der innerdeutschen Debatte erfrischend – wird meist nicht der deutsche Westen sein. Mein «Ostbewusstsein» jedenfalls, wenn ich einen Begriff der ostdeutschen Nachwendejournalistin Valerie Schönian auch als Binnenmigrant im deutschen Sprachraum in Anspruch nehmen darf, ist – das sollte der erste Text ebenfalls gezeigt haben – erwacht. Und damit dieses Ostbewusstsein nicht zur Anmassung anwächst, werden künftige Gastautor:innen hoffentlich ein Korrektiv zu meinen Ansichten und Überlegungen bilden.
Danke für deine Aufmerksamkeit und denk daran, ich lebe nicht nur von Lob und Freude, sondern auch von Entlöhnung. Für deine Unterstützung bin ich dankbar.
Die Druckfassung dieses Texts als PDF findest du bei Patreon. Das Feuilleton F. kannst du per Paypal oder per Banküberweisung unterstützen.