Wenn die Kultur des Feinds Freundschaft stiftet
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Der Ukraine-Krieg stellte die Beziehung Deutschlands zu Russland auf den Kopf. Dass Ostdeutschland ein anderes Verhältnis zu Russland hat als Wesdeutschland, liegt auf der Hand. Der russische Abend in der Sauna im See in Markkleeberg verrät, was von dieser besonderen Beziehung zum grossen Bruder Russland übrig geblieben ist.
Sanfte Einführung: Kultur oder Politik?
Ob es an der «Kultur» liegt? Oder doch am Vodka, der vor der Sauna die Runde macht? Die beiden Saunameister Uwe und Ronnie versprechen bei der Einführung zum russischen Abend, nein sie fordern geradezu, gelöste Stimmung. Zugegeben: Ich kenne Saunabesuche eher als ernste Angelegenheit, aber ich war lange nicht mehr in der Sauna. Und meine Berührung mit Russland beschränkt sich weitgehend auf das Gerücht, die russische Mafia – die berüchtigten Oligarchen: Abramowitsch, Chodorkowski, Prigoschin, Deripaska und wie sie alle heißen – sei im Grand Hotel Quellenhof in Bad Ragaz ein- und ausgegangen. Meine Familie kommt aus der Gegend und wir waren früher oft im Thermalbad. Wirklich zu Gesicht bekommen hat die Oligarchen aber niemand und in der Sauna im See in Markkleeberg gibt es auch keine. Kurz vor der ersten Vodkarunde, auf einem Tablett werden gut gefüllte Schnapsgläser und mit Kaffeepulver bestreute Zitronenschnitze herumgereicht, bringen die Besucher:innen noch zum letzten Mal scheue Fragen vor: «Ist es denn opportun, angesichts des Ukrainekriegs…?» Die beiden Saunameister beschwichtigen unisono im Brustton vollster Überzeugung: «Es geht um die Erhaltung und Praktizierung der russischen Saunakultur, mit Politik hat das nichts hier zu tun.»
Noch Fragen? Auf die Pritschen!
Wenig später verteilen sich vierzig nackte Körper auf die Holzpritschen in der Panoramasauna. Vor dem Fenster liegt das Wasser Mitte Januar eisig und ruhig in der Dunkelheit, drinnen herrscht im Dämmerlicht erwartungsvolle Spannung. Die Temperatur steigt. Aus den Lautsprechern plärrt russische Musik – oder was wir dafür halten. Die Saunameister schließen die Tür, geben einige Erklärungen zu den gebundenen Birkenbüscheln ab und fragen nach dem russischen Wort für Freundschaft. Zögerlich gehen ein paar Hände in die Höhe, die ersten Schweißperlen kullern die Arme hinunter und ein paar Stimmen murmeln Unverständliches. Die Mehrheit der Besucher:innen ist alt genug, vor der Wende in der Schule noch so viel Russisch gelernt zu haben, dass es zumindest für ein «Spasibo» reicht. Noch ist die Stimmung verhalten. Ronnie hilft nach: «Druzhba. Wenn wir die Birkenzweige mit voller Wucht auf den Ofen hauen, dann ruft ihr alle laut Druzhba, Druzhba, Druzhba.» Was es genau zu beweisen gilt, weiss ich nicht, aber Uwe schiebt noch hinterher: «Wenn die Schmerzen zu gross werden, drehen wir einfach die Musik lauter – dann geht’s noch eine Weile.» Schon pfeffern die beiden Saunameister aromatisiertes Wasser auf die Steine und fuchteln wie wild mit den Birkenbüscheln. Die Hitze ist schier unerträglich, der Atem brennt in der Luftröhre. Kaum eine Minute später wechseln wir von der obersten auf die unterste Bankreihe und ringen nach Luft. Bald drängen sich all die schwitzenden und glänzenden Leiber auf den unteren Pritschen zusammen. In der Sauna zumindest herrscht jetzt eine besondere Nähe – ob diese Nähe auch zur russischen Kultur besteht? Dann ist der erste Aufguss auch schon vorbei. Wir springen in den eiskalten See und lassen uns hinterher mit Birkenbüscheln auspeitschen. Danach gibt’s eine weitere Runde Vodka. Erschöpft legen wir uns hin. In Kürze würde der zweite Aufguss beginnen.
Sowjetunion als Friedensmacht
Ich bilde mir ein, dass es in der ehemaligen DDR tatsächlich noch eine besondere Nähe zu Russland gibt. Im Pavillon ist ein liebevolles Buffet mit Süssem und Salzigem aufgebaut. Auch Samoware fehlen nicht. Zwei Männer stehen in ihren Bademänteln am Buffet, klauben Brocken russischer Lieder aus ihrem Gedächtnis und stellen die Behauptung in den Raum, alle hier könnten diesen oder jenen russischen Gassenhauer noch mitsingen. Dass Birken, diese genügsamen Pionierpflanzen, die Neuseenlandschaft im Leipziger Südwesten zu Hauf kolonisieren, passt zum russischen Ambiente. Karelien und Bilder aus dem Film «Doktor Schiwago» kommen mir in den Sinn. Merkel, so wird behauptet, hätte sich mit Putin einigermassen verstanden, weil sie russisch spricht und er deutsch. Ob das eine Freundschaft war?
Die ostdeutsche Journalistin Jessy Wellmer versuchte dieser speziellen Beziehung zwischen Ostdeutschland und Russland in der ARD-Dokumentation «Russland, Putin und wir Ostdeutsche» im vergangenen Oktober auf den Grund zu kommen. Der ehemalige Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR, Reinhard Bartz, sieht in Russland nach wie vor die Friedensmacht aus der Sowjetpropaganda. Die alten Sympathien – er verbrachte während seiner Ausbildung einige Monate in Russland und pflegt die entstandenen Freundschaften heute noch – wirken nach, keine Rede von der sowjetrussischen Intervention in Afghanistan in den Achtzigern. Auch kein Wort über die Tschetschenienkriege der Neunziger und Zweitausender. Da und dort findet Wellmer Bestätigung für diese Sicht bei alten Ostdeutschen auf der Strasse, wenn diese das Gespräch mit den Medien nicht rundheraus verweigern. Das Misstrauen ist gross, zu negativ wurde die DDR in den Jahrzehnten seit der Wende offenbar dargestellt, sodass sich ostdeutsche Menschen in dieser Darstellung nicht wiedererkennen.
Zu wenig sei die Rede von den Leistungen Ostdeutschlands seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, findet die Leipziger Journalistin Antonie Rietzschel. Stattdessen droht in den Augen einiger älterer Ostdeutscher der Ausverkauf Deutschlands an die USA. Die Schuld am Ukrainekrieg trägt die Nato-Osterweiterung. Für Gregor Gysi, die oberste Autorität in Sachen Ostdeutschland und Russlandbezug, dagegen war der Einmarsch Russlands in die Ukraine, so Wellmers Film, ein Bruch. Noch bevor ich, aus dem kapitalistischen Ausland zugezogen, meine Gedanken sortieren kann, geht’s in der Markkleeberger Sauna weiter.
Erbarmen! Nicht die Pritschen…
Wieder diese russische Musik aus den Boxen. Eine Frau singt. Und die Saunameister nennen ihren Namen: Svetlana. Wie könnte es auch anders sein. Alle beten in diesem unverkennbar-rolligen Ton, der einer diffusen Vorstellung von der Ausdrucksweise lüsterner Russen entspringt, im Chor «Svetlana». Die Birkenbüschel wirbeln, die Fächer der Saunameister jagen heisse Luft bis in die hintersten Winkel der Sauna. Das rhythmische Klatschen zur Musik löst die Stimmung zusehends. Wahrscheinlich vergessen tatsächlich einige die unerträgliche Hitze. Und als alle – Russland hin, DDR her – Druzhba schreien, kommt eine Ahnung von besinnungs-, äh, ich wollte natürlich sagen, bedingungsloser Freundschaft auf. Am Ende des Aufgusses peitschen sich schon die ersten, als gälte des die Freundschaft zu beweisen, Mitten in der Sauna gegenseitig mit den Birkenbüscheln aus.
Verordnete Freundschaft
Eine Besucherin erzählt mir, dass die Freundschaft mit dem großen Bruder Russland in der DDR doch eher aufgezwungen gewesen sei. Von ihrem Russisch sei nicht viel übriggeblieben. Und die staatlich verordnete Brieffreundschaft mit einer Schülerin aus Moskau habe sich nach der Schulzeit rasch verloren. Ob das allen in ihrer Klasse so gegangen sei, will ich wissen. Sie meint schon. Die Eltern meiner ostdeutschen Partnerin wiederum haben sich in Moskau während eines Studienaufenthalts kennengelernt. Zwei Leipziger Freund:innen in meinem Alter kennen das Wort Druzhba noch aus Propagandaliedern, werde ich später herausfinden, und auch, dass nach der Erzählung meiner rund sechzigjährigen Mitbewohnerin nur unbescholtene DDR-Bürger:innen, die sich einen solchen Aufenthalt verdient hätten, ins Herz des Kommunismus gereist seien. Diese besondere Nähe zu Russland hat offensichtlich auch etwas Elitäres. Sie scheint Student:innen und Offizieren vorbehalten. Für die jüngere Generation allerdings gilt das alles ohnehin nicht mehr. Die Lage bleibt für mich unübersichtlich.
Einmal Pritschen, immer Pritschen!
Beim dritten Aufguss gibt es dann kein Halten mehr. Wer weiß schon, ob davor noch einmal der Vodka die Runde gemacht hat. Die Rede ist plötzlich von Kondomen, die jetzt verteilt werden müssten. Und ein bislang zurückhaltender Mann um die Sechzig sagt: «Du weisst aber schon, wie wir zu den Mützen gesagt haben.» – «Nein», gibt Uwe mit einer Schapka, einer dieser russischen Fellmützen, auf dem Kopf zurück. – «Bärenfotze!», klärt der Sechzigjährige auf. – Ob das nun die sprichwörtliche DDR-Freizügigkeit ist oder doch einfach sexistischer Blödsinn? Die Frauen sind jedenfalls in der Unterzahl. Die Saunameister dreschen die Birkenzweige auf die Steine, die Besucher:innen klatschen und johlen. Die Saunameister tanzen um den Ofen, von der Decke hängt auf einmal eine Discokugel. «Keine Kosten, keine Mühen werden gescheut», ruft Ronnie. Das Spektakel erreicht seinen Höhepunkt. Derweil wird munter geschwitzt und immer wieder Eis durch die Sauna geworfen. Dann wird die Tür aufgerissen, die meisten eilen, als wäre der Teufel mit dem Kochtopf der Hölle hinter ihnen her, nach draußen. Einige Männer – keine Frauen – tanzen nun ihrerseits zu russischem Gefidel um den Ofen. Für die Auspeitschungen mit den Birkenbüscheln auf den Pritschen der Sauna ist jetzt Andras, der ungarische Saunameister, zuständig. Und der langt mit der gestählten Schönheit seines Vorzeigetorsos ordentlich zu. Dabei mimt er mit seiner schweissglänzenden Glatze – unfreiwillig – einen russischen James-Bond-Bösewicht. Eigentlich ist er heute nur als Gast hier. Was soll’s. Die Freundschaft verwischt alle Grenzen. Auf meine Nachfrage hin erklärt er sichtlich ungehalten, seine Familie habe Ungarn noch vor der Wende in Richtung England verlassen. Seit ein paar Jahren lebe er aber in Leipzig. Nach einer Nähe zu Russland wage ich gar nicht zu fragen. In der Zürcher Uni hängt noch eine Dankestafel der Ungaren, die 1956 vor der Roten Armee in die Schweiz geflüchtet waren.
Innige Pflege der russischen Saunakultur? Ich weiss nicht…
Bei einem weiteren Glas Vodka vor der Sauna meinen die Saunameister, sie hätten schon allerlei ausprobiert, auch einen japanischen Abend zum Beispiel. Der russische Abend, stelle ich fest, zieht offenbar. Ob das am Verhältnis von Grüntee zu Vodka liegt? Ronnie erzählt, er habe einmal eine Saunatour durch Finnland gemacht, das sei geil gewesen. Uwe, etwas älter, widerlegt meine Vermutung, Ostdeutschland hätte sich während DDR-Zeiten die russische Saunakultur angeeignet. Saunakultur habe es in der DDR nicht gegeben, vielleicht die eine oder andere Betriebssauna, erklärt er. Der Begriff Wellness sei etwas Neues. In Russland sind beide nie gewesen. Am Ende erzählen noch ein paar Hartgesottene am Feuer Geschichten über die Mauer, Ost- und Westberlin.
Ob es nicht doch Politik war, was hier veranstaltet wurde? Kultur zu finden, tue ich mich jedenfalls schwer. Mit Wellness und vor allem Klischees, das hat die ehemalige DDR vom kapitalistischen Ausland längst gelernt, lässt sich gut Geld verdienen – oder Krieg führen. Sind aus Sicht der russischen Propaganda nicht alle Ukrainer:innen Nazis? Der russische Abend jedenfalls heisst jetzt Banja Abend. Was wissen wir schon von Russland. Die britisch-amerikanisch-italienische Verfilmung von Boris Pasternaks Roman «Doktor Schiwago» legte das Augenmerk auch mehr auf die romantische als auf die russische Geschichte. Die besondere Nähe der – älteren – Ostdeutschen zu Russland, das deuten Wellmers Recherchen an, besteht wahrscheinlich vor allem in einer Ferne zum Westen, wenn nicht gerade russische Gasmillionen in Mecklenburg-Vorpommern, wo die – mittlerweile zerstörte – Nordstream Pipeline ankommt, ihren Einfluss geltend machen. Einzig Uwe Hassbecker, Gitarrist der DDR-Rockband «Silly», war jedenfalls in der Lage, zwei Gedanken gleichzeitig zu denken und so etwas wie eine eigenständige Position zu formulieren: Die Ablehnung amerikanischer Dominanz bedeutet nicht gleich Nähe zu Russland. Und ich muss mir eingstehen: Was ich über Ostdeutschland weiss, weiss ich auch erst, seit ich in Leipzig lebe. Davor war Deutschland für mich, wenn ich ehrlich bin, gleichbedeutend mit Westdeutschland. Heute allerdings kann ich leidenschaftlicher Verteidiger Ostdeutschlands gegenüber westdeutscher Herablassung sein. Ostdeutschland und die DDR haben – für mich zumindest – das Geschichtsbuch verlassen und sind zu Menschen geworden, die auch im Schweisse ihres Angesichts saunieren.
Politik oder Kultur? Verbrenn dir bloss nicht die Finger…
Der Abend in der Sauna im See neigt sich dem Ende zu. In der Garderobe beäugen einige Besucher:innen verwundert rote Flecken an Schultern und Rücken, bevor sie in die Dunkelheit hinaus verschwinden. Leichte Verbrühungen bleiben, wenn es am Montagmorgen mit Kolleg:innen statt Freund:innen wieder diszipliniert zur Arbeit geht. Ob sozialistisch oder kapitalistisch: Das war – jedenfalls für die Mehrheit der Menschheit – damals nicht anders und das ist auch heute nicht anders.
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