Kinderbetreuung als gesellschaftliche Aufgabe: Ob Männer zur Gesellschaft gehören? (Teil III)

3105 Wörter / ca. 17 Minuten

 

Zur Zeugung eines Kinds, so will es ein Sprichwort, brauche es nur zwei Menschen. Zum Austragen – und das soll nicht verschwiegen sein – nur und vor allem eine Frau. Ein ganzes Dorf allerdings brauche es, um ein Kind aufzuziehen. Wo der westliche Individualismus die Kinder in die alleinige Obhut der Kleinfamilie – und vor allem der Mütter – zwang, eignete sich im Osten gleich der ganze Staat die Organisation der Generationenfolge an. Beide Modelle, das sticht sofort ins Auge, zielten mit ihren Grössenordnungen am Dorf vorbei.

 

35 Jahre nach der DDR

 

«Den Müttern, die vor dem dritten Lebensjahr ihres Kinds wieder arbeiten gehen, wird ein schlechtes Gewissen gemacht,» erzählt mir eine Mutter noch im Januar 2025 in einem zufälligen Gespräch in eine Leipziger Kita. Erleichterung äussert sie, mittlerweile nicht mehr in Stuttgart, sondern Leipzig zu leben. Und ich erinnere mich, dass die Bezeichnung ‹Schlüsselkind› auch in meiner Kindheit in den Achtziger- und Neunzigerjahren in der Schweiz noch prägend gewesen war. Ich gehörte damals nicht zu diesen ‹Schlüsselkindern›.

Während die Aufarbeitung von Auswüchsen der sozialistischen Kollektivierung wie etwa die Wochenkrippen in der ehemaligen DDR in der Öffentlichkeit ankommt, fällt nach wie vor ein schiefes Licht auf den Umgang mit der Erwerbsarbeit von Müttern in den alten Bundesländern und den Staaten im Westen insgesamt. Symptomatisch ist eine Anekdote, die ich über einen ostdeutschen Künstler hörte. Er frage die Gattinnen seiner westdeutschen Förderer mittlerweile nicht mehr danach, was sie in ihrem Leben gemacht hätten, weil er meist betretenes Schweigen ernte.

 

Das Bild der adretten Hausfrau zu Diensten ist wirkmächtig. Die DDR versuchte zumindest, sich davon zu verabschieden. (© Mohamed Hassan)

 

Dass ich dagegen in Hoyerswerda in Bodos Elternhaus mit seiner Mutter, einer über achtzigjährigen Mathematikerin, am Tisch sass, die im Rechenzentrum des Gaskombinats Schwarze Pumpe und nach der Wende in Berlin als Informatikerin gearbeitet hatte, bedeutet im Osten nichts Aussergewöhnliches. Gerade ältere Frauen haben im Osten oft ein anderes Selbstverständnis als ihre Altersgenossinnen im Westen. Die Selbstverständlichkeit der Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern zeigt noch heute ihre Wirkung.

 

Zweifelhafte Freiheit der Frauen

 

Führte die Frauenpolitik der DDR zwar zu finanzieller Unabhängigkeit der Frauen, weckte die Begegnung mit Bodos Eltern doch auch eine Ahnung von der Doppelbelastung, über die sich Frauen im Westen wie im Osten nach wie vor beklagen. Was allzu oft unter der Flagge der Emanzipation segelt, betraf in der ehemaligen DRR wie im wiedervereinigten Deutschland meist nur eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Progressive Massnahmen in der DDR wie das umfangreiche Kinderbetreuungsangebot oder das weltweit erste Abtreibungsgesetzt von 1972 änderten wenig am «kleinbürgerlichen Familienmodell» (Steffen Mau) mit seiner Rollenverteilung. Die zunehmende Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs zum Schutz der Kinder vor allzu früher Fremdbetreuung ab den Siebzigern und weitere Massnahmen zur dringend nötigen Erhöhung der Geburtenrate tendierten jedoch verstärkt in Richtung der kleinbürgerlichen Familie, wie sie auch im Westen üblich war.

Aufgrund der Arbeitszeiten nutzten auch viele Künstler:innen die Wochenkrippen, wie Amina Gusner ausführt. (Screenshot)

Trotz der formalen Gleichberechtigung der Geschlechter, die in der Gründung der DDR inbegriffen war, blieben Kinder und Hausarbeit Frauensache. Amina Gusner, die Regisseurin des Spielfilms «Wenn Mutti früh zur Arbeit geht» (2022) in Anlehnung an das bekannte Pionierlied, beschreibt den Alltag in der DDR: «Tatsächlich ist es wirklich so gewesen, dass die Frau zwar gleichberechtigt galt, aber die Rollenverteilung blieb, also sie sollte jetzt einfach nur arbeiten. Also der Mann blieb in seiner Rolle verhaftet und spielte in der Familie leider gar keine Rolle.» Und so pendelte die Kinderbetreuung im Osten zwischen den Polen Mutter und Vater Staat hin und her. Bedenkenswert ist dabei auch, «dass der Beruf der Krippenerzieherin oft von jungen Frauen aufgenommen wurde», wie Florian von Rosenberg in seinem Buch über die Wochenkrippen «Die beschädigte Kindheit» (2022) bemerkt. Auch die professionelle Betreuung vor allem der kleinen Kinder lag in der DDR – wie auch heute – wenig überraschend hauptsächlich in den Händen von Frauen.

 

Bombenhagel? Hauptsache Mutti ist dabei!

 

Was in der DDR ein blinder Fleck blieb, unterlag im Westen dagegen der bewussten Propaganda von Wissenschaft, Politik und Popkultur. Merkt die Historikerin Karen Hagemann an, dass die «Notwendigkeit der uneingeschränkten mütterlichen Zuwendung» für Kinder oft «unüberprüft» behauptet worden sei, hebt Rosenberg noch 2022 die Mutter-Kind-Beziehung hervor. In seiner Empörung über die Ignoranz der DDR-Führung angesichts von Warnungen aus Fachkreisen (Kinderärzt:innen, Krippenforscher:innen) vor den Gefahren der Wochenunterbringung greift Rosenberg zu einem besonders dramatischen Beispiel: «Die Bindungsforscher hatten in ihren frühen Studien erkannt, dass die Leiden und Schrecken des Zweiten Weltkriegs – wie beispielsweise ausgiebige Bombardierungen – bei den Säuglingen nicht zu einschneidenden Traumata führten, sondern kompensiert werden konnten, solange die Säuglinge und Kleinkinder eine innige Beziehung zu ihren Müttern aufrechterhalten konnten.»

 

Schon der Titel lässt eine tendenziöse Haltung erahnen. Anstelle von wissenschaftlicher und politischer Zurückhaltung legen Rosenberg und der C.H. Beck-Verlag Entsetzen über die Zustände in der DDR-Kinderbetreuung an den Tag. (© Fotografie Fabian Schwitter)

 

So sehr die Erkenntnisse der Bindungstheorie zutreffen, wonach gerade in den ersten Monaten und Jahren stabile Bezugspersonen und ausreichend Kontakt zu erwachsenen Personen für die Entwicklung der Kinder unerlässlich sind. So sehr verblüfft Rosenbergs unkommentierte Verengung des Blicks auf die Mütter. Trugen etwa alle Kinder, deren Mütter im Bombenhagel auf die Städte Deutschlands im Zweiten Weltkrieg umkamen und die dann womöglich allein mit ihren Vätern gross wurden, die besagten «einschneidenden Traumata» davon? Dass es diesbezüglich wohl keine Vergleichsstudien gab, sollte nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen verleiten.

 

Zweifelhafte Wissenschaft bis dato

 

Der Furor, mit dem Rosenberg noch Jahrzehnte nach dem Mauerfall mit dem DDR-Regime abrechnet, als hätte er – Jahrgang 1980 in Nordrhein-Westfalen geboren – selbst die ersten Monate und Jahre seines Lebens in einer DDR-Wochenkrippe verbracht, befremdet. Weil jede Kontextualisierung fehlt, wirkt Rosenbergs Buch immer wieder wie eine Apologie der Kleinfamilie im Kalten Krieg. Und es beschleichen mich Zweifel, ob es Rosenberg und dem C.H. Beck Verlag nur um eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte und das Wohl von Kindern ging – oder doch um eine bestimmte Familienideologie. Dass diese Ideologie nicht zwingend die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt, liegt auf der Hand.

 

Auch die Altehrwürdigkeit eines Verlags, der seit 1763 besteht, schützt nicht vor reisserischer Bewerbung entgegen den Annahmen. (Screenshot)

 

Sorgt insbesondre ein Forschungsprojekt zur DDR an der Universität Main für eine Relativierung der Vorurteile über das Kinderbetreuungssystem der DDR, gerät ob der öffentlichen Aufregung ein wesentlicher Punkt rasch aus dem Blick. Eine erfolgreiche Fremdbetreuung von Kindern steht und fällt mit der angemessenen Ausstattung der Einrichtungen. Litt das Betreuungssystem in der DDR entgegen den gesetzlichen Vorgaben an chronischer Unterversorgung, sind auch Zweifel an der heutigen Situation mehr als angebracht. Letztlich steckt hinter jeder Kinderbetreuung eine komplexe Ressourcenabwägung. Ist das Betreuungsverhältnis in Einrichtungen und Familien dasselbe, bestehen keine ökonomischen Anreize, etwas an der Situation zu ändern.

So billig es ist, aus westlicher Sicht auf die untergegangene DDR herabzuschauen, so viel Glaubwürdigkeit verleiht die Zurückhaltung des Krippenforschers Karl Zwiener seiner Beschreibung der Situation in den «Materialien zum 5. Familienbericht» des Deutschen Jugendinstituts 1994. Auf die nüchterne Feststellung, in den alten Bundesländern habe «gestützt durch die Bindungstheorie, die nur in der ausschliesslichen Familien- bzw. Mutter-Kind-Bindung eine gute Entwicklungschance für die Kinder» gesehen habe, «traditionell der Vorrang der Familienerziehung» dominiert, folgt eine vielsagende Relativierung: «Die Frage der Vereinbarkeit der Interessen aller Familienmitglieder bleibt dabei ungeklärt, zu der neben dem Wohlbefinden und den Bedürfnissen der Kinder auch die Vereinbarkeit von Kindesbetreuung und Berufstätigkeit beider Eltern gehören kann, ganz abgesehen von ökonomischen Zwängen, denen die einzelnen Teilfamilien unterliegen mögen.»

 

Wer spricht über wen?

 

Weit mehr Zurückhaltung als Florian von Rosenberg übt Karl Zwiener.

Zwischen Zwiener und Rosenberg liegen beinahe dreissig Jahre. In dieser ganzen Zeit jedoch sind die Stimmen aus dem Osten, die über den Westen sprächen weder häufiger noch lauter geworden. Die Blickrichtung ist üblicherweise eine andere. Das liegt einerseits daran, dass die DDR-Geschichte im Gegensatz zur anhaltenden BRD-Geschichte als vermeintlich abgeschlossen und zugänglich erscheint. Andererseits liegt das auch daran, dass etwa auf einem erziehungswissenschaftlichen Lehrstuhl in Erfurt eben eine Person aus dem Westen sitzt.

Die DDR-Geschichte bleibt im Osten ein entsprechend sensibles Thema. Eine Leserin des Wochenkrippentexts befürchtete, ich könnte das Betreuungs- und Erziehungssystems der DDR als Ganzes in Bausch und Bogen verwerfen, weil «aktuell Wochenkrippen als Negatives in aller Munde sind» und fragte sicherheitshalber nach, wie alt ich sei und ob ich in der DDR gelebt habe. Nach meiner Antwort verebbte das digitale Gespräch. Kaum verwunderlich ist das angesichts der Tatsache, dass beim Thema Kinderbetreuung nicht selten Männer über Freuen sprechen. Die Bindungstheorie bezog sich auf die Mutter-Kind-Beziehung und im Osten stehen hinsichtlich der Wochenkrippen vornehmlich Erzieherinnen in der Kritik. Gearbeitet haben in diesen Einrichtungen hauptsächlich Frauen. Eine andere Leserin wiederum machte mich zurecht darauf aufmerksam, dass für Mütter, die «Schicht gearbeitet» hätten, die Wochenkrippe oft die einzige Möglichkeit gewesen sei.

 

Aber was zeigt das?

 

Dieser Umstand allerdings zeigt vor allem, wie kinderfeindlich die industrielle Welt seit dem Aufkommen moderner Fabriken Anfang des 19. Jahrhunderts trotz etwa des Kinderarbeitsverbots geblieben ist. Und das hat sich mit dem Wandel zu Dienstleistungsgesellschaften nicht wesentlich verändert. Ungeachtet des Betreuungsmodells bleibt die Kinderbetreuung in einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft, die auf Produktivität rund um die Uhr setzt, ein Problem. Folgerichtig erscheinen umfangreiche Betreuungsformen, wie ein MDR-Bericht über eine 24h-Kita in Chemnitz zeigt, immer wieder als Ausweg aus dem Dilemma: Arbeit oder Kind.

Anhand der Wochenkrippen und anderer Formen von Fremdplatzierung wird überdies vor allem eines deutlich. Je extremer die Situation, in der sich Menschen befinden, umso mehr tritt die konstitutionelle Ungleichheit der Menschen hervor. Patricia Lannen, die am Marie Meierhofer Institut eine Langzeitstudie zu Fremdplatzierung leitet, hält im Kontext der Studie «Lebensgeschichten» fest: «Einige hatten das Gefühl, an den Erfahrungen in der frühen Kindheit gewachsen zu sein. Etliche Personen beschrieben aber auch, dass sie bis heute stark unter ihren Erfahrungen in der Kindheit litten.»

 

Das international renommierte Marie Meierhofer Institut für das Kind forscht seit seiner Gründung 1957. (Screenshot)

 

Und ein kleines Detail darf im Kontext von Wochenkrippen in der DDR und staatlichen Fremdplatzierungen in der Schweiz vielleicht auch nicht verschwiegen werden. Während der Staat im Osten in Sachen Kinderbetreuung bis hin zu Wochenbetreuungsformen flächendeckend aktiv wurde und entsprechend ein gewisses Mass an Egalität zwischen seinen Bürger:innen etablierte, drangsalierte die Staatsmacht in der BRD und in der Schweiz mit Fremdplatzierungen unter dem Deckmantel fürsorgerischer Massnahmen nicht selten die schwächsten Gesellschaftsgruppen.

 

Zweifelhafte Vogelfreiheit der Männer

 

Ungeachtet einer Beurteilung der unterschiedlichen Systeme in Ost und West mit ihren zugrundeliegenden Ideologien ist frappant, dass die Argumentationen hüben wie drüben vor allem auf eines hinausliefen: die Entlassung der Männer aus der Betreuungspflicht. Sorgte die Bindungstheorie mit ihrer anfänglichen Fokussierung auf die Mutter dafür, dass Männer sich aus der Verantwortung für die Kinderbetreuung stehlen konnten, setzte die sozialistische DDR von Anfang an auf die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, um den Müttern wie den Vätern eine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Mag das im Rückblick auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg kaum aussergewöhnlich erscheinen, so ist umso bemerkenswerter, dass sich diese Einseitigkeit bis heute weiterzieht.

In der Aufarbeitung der Wochenkrippengeschichte in der DDR bleiben die Väter oft seltsam ausgespart. Im Stern allerdings erschien am 12.12.2024 ein Gespräch zwischen einem betagten Vater und seiner Tochter, die in Leipzig ihre ersten zweieinhalb Jahre in einer Wochenkrippe betreut worden war. Der Verständigungswille zwischen Vater und Tochter ist ebenso berührend wie die Einfühlsamkeit in diesem risikoreichen Publikationsformat. Dennoch bleiben manche Äusserungen des Vaters angesichts seiner Zweifel an der Betreuungsform der Wochenkrippe, auch wenn sie aus der Zeit heraus verständlich sein mögen, aus heutiger Sicht symptomatisch: «Ich war unter der Woche wegen der Arbeit in Berlin. […] Ich musste das Leben, das sie [die Mutter] allein und mit Kind in Leipzig führen musste, nicht führen.»

Lykke Langer inszeniert das Stück «Winterkind» auf der Suche nach dem Lebensgefühl der Kinder in den Wochenkrippen. (Screenshot)

Lykke Langer, die das Theaterstück «Winterkind – Made in GDR» (2024) zur Aufführung gebracht hat, bemerkt, dass Fragen aus dem Publikum meist die Mütter beträfen und Heike Liebsch, die zu den Wochenkrippen forscht, präzisiert die Interviewerin, dass sie in Sachen Kinderbetreuung immer auch die Väter einbeziehe. Skurril wird die Situation erst recht, wenn ein Erziehungswissenschaftler – mag mensch nun von gendersensibler Sprache halten, was mensch will – angesichts des Themas Betreuung von Kleinkindern auf das Gendern verzichtet. Rosenberg kehrt bei der Behandlung des Themas nicht nur die Verantwortung der Väter unter den Tisch, sondern verschleiert auch, dass das DDR-Erziehungssystem unter anderem dazu diente, neben Kinderärzten auch Kinderärztinnen hervorzubringen. Das wiederum konterkariert den Sinn der Wochenkrippen, den Frauen Erwerbsarbeit zu ermöglichen, auf das Trefflichste. Verständlich ist, dass Menschen im Osten mit Skepsis reagieren, wenn westlich sozialisierte Menschen über das Leben in der DDR reden.

 

Unzweifelhafte Familienberichte

 

Der «Siebte Familienbericht» von 2006 macht überdies auf einen bemerkenswerten Umstand aufmerksam und zeigt die Ambivalenz aller Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie für Frauen, wenn zugleich die Bedürfnisse der Kinder Berücksichtigung finden sollen. Die «zeitliche Verlängerung des Mutterschutzes z.B. über den Mutterschaftsurlaub (erst ab 1979) zum Erziehungsurlaub (1986) verlangsamte die zuvor oftmals beschleunigte Rückkehr der mutterschaftsurlaubs-berechtigten Mütter auf den Arbeitsmarkt um durchschnittlich 1,5 Jahre.»

Flexible Instrumente wie die sogenannte Elternzeit verkommen zur terminologischen Augenwischerei, wenn mit Eltern tatsächlich mehrheitlich die Mütter gemeint sind, weil sie den Grossteil der Elternzeit in Anspruch nehmen. Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit für Frauen ist «um den Preis des Ausschlusses der Väter aus familialer Kinderbetreuung» erkauft. Das Fazit hinsichtlich der Geschlechterrollen lautet dann ähnlich wie zu DDR-Zeiten: «Die geschlechtsspezifische Ordnung für Familienaufgaben wurde nicht in Frage gestellt.» Und der «Neunte Familienbericht» von 2021 bestätigt diesen Befund nach wie vor: «Während die Erwerbsbeteiligung von Frauen merklich durch die Geburt von Kindern beeinflusst wird, ist dies für Männer bislang nur bedingt der Fall.»

 

Heike Liebsch zeichnet ein wesentlich differenziertes Bild der Lage als Florian von Rosenberg, der sie promovierte. (© Fotografie Fabian Schwitter)

 

Eine bittere Pointe stellt in dieser Diskussion das Schweizer Modell dar. Der kurze Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen erzwingt entweder die rasche Rückkehr der Mütter an den (Teilzeit-)Arbeitsplatz und erweckt dadurch den Eindruck von Progressivität oder führt zur althergebrachten Versorger-Hausfrauen-Ehe, wenn nicht wie in der DDR die Erwerbstätigkeit der Mütter als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit gilt. Die Erhöhung des bezahlten Vaterschaftsurlaubs von einem Tag auf zwei Wochen innerhalb der ersten sechs Lebensmonate eines neugeborenen Kinds in einem Gesetzt von 2020 erscheint dann nur noch als Hohn und Spott.

Das Tagesschulen-Modell in der Schweiz etwa, das meist bedarfsorientiert zusätzliche Betreuung über den Unterricht hinaus gewährleistet, macht den Anschein von Flexibilität. Tatsächlich fordert es jedoch von den Familien eine weitreichende Planung, um diesen Bedarf zu eruieren und ist letztlich unflexibel, wenn sich an diesem Bedarf etwas ändert. Das Erbe des sozialistischen Betreuungssystems in Ostdeutschland dagegen ermöglicht Flexibilität über die solidarische Finanzierung durch die öffentliche Hand und – stellenweise – geringe Elternbeiträge. Die Kinderbetreuung an allen Wochentagen ist in der Grundversorgung von 08.00 Uhr bis 16.00 Uhr üblich. Die Familien können jedoch spontan entscheiden, wie viel davon sie an welchem Tag in Anspruch nehmen.

 

Zweifelhafter öffentlicher Diskurs

 

Die angestrebte Freisetzung der weiblichen Arbeitskraft für die Belange der Wirtschaft zeugte damals in der DDR genauso wie heute im wiedervereinigten Deutschland – oder eben auch der Schweiz – von einem anhaltend einseitigen Verständnis von Volkswirtschaft. Während die Erwerbsarbeit als ‹Arbeit› gilt, verschwindet die reproduktive Arbeit, die nach wie vor hauptsächlich Frauen übernehmen, hinter den Wohnungstüren. Was eigentlich ein alter Hut ist, führt noch heute für beide Geschlechter fast zwangsläufig zu einer amputierten Lebenswelt und torpediert das gegenseitige Verständnis.

 

Was als Arbeit durchgeht, ist bis heute unklar. Sicher ist aber, dass die Tätigkeiten von Frauen im Gegensatz zu den Tätigkeiten der Männer häufig im Verborgenen bleiben. (© Mohamed Hassan)

 

Vergleichbar mit der Ignoranz der DDR-Führung hinsichtlich der Warnungen vor den Gefahren der Wochenbetreuung ist die gesellschaftliche Ignoranz in Sachen Emanzipation der Frauen und Gleichberechtigung der Geschlechter. Überdeutlich müsste allen vor Augen stehen, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter nur über eine Beteiligung der Männer an der Hausarbeit und der Kinderbetreuung führen kann. Teilzeitarbeit sowohl für die Mütter als auch für die Väter müsste folgerichtig sein. Allzu zögerlich allerdings sind jedoch die politischen Massnahmen, wenn es um eine Veränderung der Wirtschaft geht, und die Aktivität der Männer im Privaten, wenn es um Kinderbetreuung und Hausarbeit geht.

 

Verständnis für drastische Massnahmen

 

Angesichts der Tatsache, dass die Arbeit im Ganzen eben nicht gleich zwischen den Geschlechtern verteilt ist, wird verständlich, wie drastisch die Massnahmen sein müssen, damit sich die Geschlechterrollen nennenswert ändern. Nicht einmal die Anstrengungen der DDR mit Institutionen wie den Wochenkrippen vermochten an den Geschlechterrollen viel zu ändern. Etwas nachvollziehbarer wird die Existenz solcher Institutionen vor diesem Hintergrund vielleicht dennoch.

Noch heute sprechen vermeintlich marginale Details Bände. Zwar braucht es offenbar ein Ministerium für Familien, Frauen, Senioren und Jugend. Nicht aber ein Ministerium für Männer, das sich um die Bildung von Männern in Sachen Kinderbetreuung und Hausarbeit kümmerte. Weit einfacher ist stattdessen das Propagieren von Worthülsen wie «Emanzipation» oder «Geschlechtergleichstellung», während der Status quo sich in immer neuem Gewand hält.

 

 Ein Bundesministerium zur Emanzipation der Männer fehlt bislang. Alle übrigen Menschen sind dafür, wie es scheint, in einem Ministerium zusammengefasst. (Screenshot)

 

In der Beschäftigung mit den Betreuungsformen im sozialistischen Osten und im liberal-konservativen Westen wird vor allem deutlich, dass Familienpolitik jederzeit bedeutet hat, auf die eine oder andere Weise die Bedürfnisse von Frauen und Kindern gegeneinander auszuspielen, damit die Männer unbehelligt ihren Geschäften nachgehen konnten. Problematisierte das sozialistische Lager die Stellung der Frau, problematisierte das liberal-konservative Lager die Stellung des Kinds. Und die Position des Manns? Mit vornehmem Schweigen erhält sich das Patriarchat.

 

Jenseits von Mutter und Vater Staat

 

Um eine risikoreiche Fremdbetreuung von Kindern zu vermeiden und gleichzeitig Frauen nicht ins Haus zu verbannen, wären gerade in urbanen Kontexten neben der Unterstützung durch staatliche Betreuungseinrichtungen Wohnformen nötig, die Synergien zwischen Erwachsenen bezüglich der Hausarbeit und Kinderbetreuung zu nutzen ermöglichten. Nur so käme das Dorf in den Blick, das jenseits von Kleinfamilie und Staatsbetreuung Kindern ein vielfältiges und zugleich geborgenes Aufwachsen ermöglichte. Die oft prekäre Situation von Alleinerziehenden würde dadurch nicht nur entschärft, sondern entfiele im besten Fall. Im Wesentlichen bleibt der Wohnungsbau jedoch dem althergebrachten Mietskasernenprinzip verhaftet. Gebaut werden nach wie vor Kleinfamilienwohnungen ohne die unerlässlichen Begegnungsräume für die Bewohner:innen dieser Häuser.

Umso bedauerlicher ist es, dass selbst in einer Stadt wie Leipzig, die mit ihrem dramatischen Bevölkerungsschwund vom Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 2000er viel günstigen Wohnraum für alternative Wohnformen bereithielt, die sogenannte Hausprojektszene immer noch an der Kinderfrage verzweifelt. Die Spaltung in der Gesellschaft zwischen einem wachsenden Teil, der sich der Reproduktion entzieht, und den Familien spiegelt sich auch in den alternativen Wohnkontexten Leipzigs. Gemeinschaftliche Familienhäuser stehen kinderskeptischen Hausprojekten gegenüber, der vermeintlich notgedrungene Rückzug ins private Familienleben angesichts von Kindern trifft auf die Öffentlichkeitswirksamkeit aktivistischer Politik. Was sich hier jedoch als politisch begreift, steht weit hinter dem feministischen Slogan der 70er Jahre – «Das Private ist politisch.» – zurück.

Am Ende aber bleibt eine Frage. Wenn Kindererziehung und -betreuung im geschilderten Sinn eine gesellschaftliche Aufgabe zwischen sozialen Zusammenhängen, die über die Kleinfamilie hinausgehen, und staatlicher Betreuungsinfrastruktur ist: Gehören die Männer dann auch zur Gesellschaft? Oder meiden sie als einsame Wölfe soziale Zusammenhänge, ziehen sich stattdessen in Männerbünde zurück?

 

 

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  1. Interessanter Langzeitvergleich, leider ein sehr träges System – hüben wie drüben.
    14 Monate – da war wohl ein Wunsch Vater des Gedanken?

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