Cottbus: Einst eine energetische Stadt

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Das Zentrum der Energiewirtschaft Ostdeutschlands ist hinter der Landeshauptstadt Potsdam die zweitgrösste Stadt Brandenburgs. Seit der Wende fungiert die einstige DDR-Boomtown nicht selten nur noch als Durchgangsstation für junge Menschen wie Robert auf dem Weg nach Berlin oder Leipzig.

 

Alle Namen der Privatpersonen im Text sind geändert.

 

Lange bevor ich zum ersten Mal von weit grösseren Städten im Osten wie Chemnitz hörte, wusste ich von Cottbus. Energie war der ebenso verwunderliche wie einprägsame Name, den ich in den kicker-Heften eines Nachbars aus der Kindheit – er kam aus Langenhagen bei Hannover – gelesen haben musste. Trotz Hannover 96 war besagter Freund natürlich Fan des Rekordmeisters FC Bayern München und ich damals noch der Zürcher Grashoppers. Ob er sich je für einen Ostverein wie Energie Cottbus interessierte, wage ich heute zu bezweifeln. Damals – es war Ende der 90er – wusste ich von ‹Ostvereinen› auch noch nichts. Und Energie Cottbus diente Mannschaften wie Bayern München allerhöchstens als Punktelieferant.

 

Im Zug in Osten des Ostens

 

Rammelvoll ist der Zug, seit die Leute dank des Deutschlandtickets günstig auf der Regionalbahnstrecke nach Berlin fahren können. In Doberlug allerdings – einem kleinen Bahnknotenpunkt im Nirgendwo – trennen sich die Wagen nach Hoyerswerda von denjenigen nach Cottbus. Und wer nach Berlin fährt, muss umsteigen. Nur alle zwei Stunden fährt ein Zug von Leipzig über Cottbus und Eisenhüttenstadt nach Frankfurt an der Oder. Zu gering der Takt für die Zahl der Leute, zu gering offenbar die Zahl der Leute für einen häufigeren Takt.

In unserem Zugabteil stimmt uns eine zufällige Unterhaltung mit dem Wolgadeutschen Otto aus Kirgistan in die Beschäftigung mit dem ‹Osten› ein. Seit 25 Jahren in Weisswasser, einer kleinen Stadt im Tagebaugebiet der Oberlausitz, arbeitete er erst in der Drogenprävention. Seit Corona ist der bullige Mittvierziger Sicherheitsmann. Schnell kommt das Gespräch auf die politische Situation. Der Ukrainekrieg, Neonazis im Donbass, die Katastrophe des Zerfalls der Sowjetunion. «Kirgistan», sagt er, «ist immer noch abhängig vom russischen Militär, das die Grenzen zu Afghanistan schützt.» Bis Cottbus wird er mit uns fahren und ich versuche seine Sichtweise zu verstehen.

 

Geschichte und Geschichten

 

Namen wie Molotow und Ribbentrop fallen. Ungenannt droht hinter Ottos Aussagen immer Putins atomarer Vergeltungsschlag. Provokationen des Westens gegenüber Russland führten Europa in den Untergang, höre ich Otto sagen, und Russland zur triumphalen Selbstauslöschung, ergänze ich im Stillen. Russland sei uneinnehmbar, hätte enorme Bevölkerungsressourcen im Osten. Ich bin nicht einverstanden. Gut, Napoleon und Hitler, aber wer will denn heute Russland einnehmen? Und woher genau sollen die vielen Leute kommen? Immer wieder meint Otto vielsagend: «Du musst die Geschichte kennen. Und den Leuten vor Ort zuhören.»

 

Verwirrlich ist die Geschichte Europas bisweilen und schwer zu durchschauen. Wer wollte da noch die richtigen Schlüsse ziehen? (deepai.com)

 

Diese Forderung kommt mir nach sieben Jahren Leben in Ostdeutschland nicht unbekannt vor. Also sage ich mir: Ich höre dir doch zu, du hast Verwandte in Litauen, in der Ukraine, in Russland. Aber er will mir die Geschichte, wie er sie zu kennen meint, nicht genauer erläutern. Stattdessen wünscht er sich andere Gesprächsthemen – etwa seinen Strandurlaub in der Türkei – von uns, nur um fünf Minuten später wieder auf die alte Auseinandersetzung zurückzukommen. Es ist zum Verzweifeln und ein Problem für alle, die die Sowjetunion – oder Hitler – nicht zurückhaben wollen.

Und doch muss ich Otto ein untrügliches Gespür für die Mängel der westlichen Demokratien lassen: die notorische Entscheidungsschwäche demokratischer Systeme, die politisch unkontrollierte Raffgier der westlichen Wirtschaften. Und dann ist da sicher auch Ottos traditionelle Verbundenheit mit Russland. Dennoch lebt er seit 25 Jahren in Deutschland. Vielleicht aufgrund der Angst vor Putin? Trotz seiner massigen Gestalt und seiner männlichen Grossspurigkeit, erlebe ich Otto als eingeschüchtert. Zupackend drücken wir uns zum Abschied aber die Hände.

 

Befremden am Bahnhof

 

Ebenso dubios wie das Gespräch im Zug ist der Begrüssungsspruch in Cottbus und verwirrlich. Gleich hinter dem Bahnhof – ich spaziere mit Robert Richtung «Zelle» – lesen wir an einer Wand: 1945 war alles besser. Ist das nun die berüchtigte Ostalgie? Die Stunde Null nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem sozialistischen Aufbau im Osten und dem Wirtschaftswunder im Westen? Oder doch Nazi-Nostalgie? Bezieht sich der Spruch auf die Zeit vor oder nach dem 8. Mai 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs?

Ohne eine Antwort auf die gestellten Fragen zu finden, kommen wir kurz vor der Zelle an einer Kneipe vorbei: Die rote Karte, Fankneipe des FC Energie Cottbus. Um die Mittagszeit sitzt eine Handvoll Fans an den Tischen. Gespielt wird erst am späten Nachmittag. Die Kneipe ist klein. Energie pendelt seit den Abstiegen aus der 1. (2009) und 2. Bundesliga (2014) zwischen Amateur- und Profifussball hin und her. In der Saison 2024/25 spielt Cottbus wieder im Profi-Wettbewerb der 3. Liga. Wie den meisten Vereinen aus der ehemaligen DDR gelang auch Cottbus die Etablierung im westdeutschen Profifussball nur schlecht.

 

Die Zelle neben der roten Karte

 

Vollständig etabliert hat sich dagegen zwei Häuser weiter das Hausprojekt «Zelle 79» an der Parzellenstrasse 79, wo Robert in den Nullerjahren rund ein Jahr wohnte. In den sogenannten Baseballschlägerjahren, als im Chaos der Wendezeit vor allem Neonazi-Gruppen ungehindert gewaltsam auf andere Menschen losgingen, ist das Mietshaus aus einer Besetzung hervorgegangen und dank Mithilfe des Mietshäusersyndikats mittlerweile an die Bewohner:innen übergegangen. So sehr die aktivistische «Zelle», selbstverwaltetes Wohnhaus und Begegnungszentrum für Jugendliche, Anlaufstelle für die einen war, so sehr blieben die «Zecken» darin, eine diffamierende Bezeichnung für vermeintlich parasitäre Linke, anderen ein Dorn im Auge. Energie-Ultras hätten, erzählt Robert, in einer Silvesternacht vor dem Haus eine ganze Böllerkiste auf einmal gezündet. Und die Schneeballwürfe spasseshalber hätten in eine handfeste Bedrohung umschlagen können, wenn sich gewaltbereite Neonazis zum «Zeckenklatschen» unter die fanatischen Fussballfans mischten.

Die Anziehungskraft der Energie ist ungebrochen. Obwohl Cottbus im DDR-Fussball nicht zu den erfolgreichsten Mannschaften gehörte, zählt die Energie zu den lediglich fünf ehemaligen DDR-Vereinen, die in der 1. Bundesliga gespielt haben. Neben dem sogenannten Leuchtturm des Ostens – Hansa Rostock spielte von 1995-2005 in der 1. Bundesliga – gehört Cottbus auch zu den wenigen wirtschaftlich stabilen Ostvereinen. Die jüngst aus der Versenkung auferstandene Union Berlin schrammte knapp an der Insolvenz vorbei und wurde mehrfach zurückgestuft. Dasselbe gilt für Dynamo Dresden. Der VfB Leipzig löste sich gar auf. Die gegenwärtig erfolgreichste Mannschaft aus dem Osten, RB Leipzig, ist – mit den nötigen Redbull-Millionen aus Österreich im Rücken – eine marktlogische Neugründung auf dem Ostbrachland aus dem Jahr, in dem Cottbus zum letzten Mal in der 1. Bundesliga spielte.

 

Vielfältiges Feiern, aber der nicht!

 

Gründeten Feierwütige 2015 aus dem OpenAir zum Geburtstag der Cottbuser Vereine Muggefug, Chekov und Zelle heraus das Festival «Stuss am Fluss», probten die Zelle-Bewohner:innen schon lange davor Party. Die ältere Zelle-Generation habe ihn in die Techno-Szene eingeführt, blickt Robert auf seine erste unangemeldete Technoparty zurück. Typisch sind Outdoor-Raves mittlerweile sowohl für die Städte als auch das Umland in den neuen Bundesländern. Damals, 2006, erzählt Robert, hätten gerade mal 30 Leute unter der Stadtring-Brücke getanzt. Das Chekov, das 2024 sein dreissigjähriges Bestehen als Elektro-Club feiert und sich nun im Umbau befindet, ist gleich nebenan.

Techno allerdings gehörte nicht immer zu Roberts Leben. In Burg hätten ihn die Punks fasziniert. Dort, knapp 20 Kilometer ausserhalb von Cottbus in einem Dorf von gut 4000 Seelen im Spreewald, ist Robert aufgewachsen. Vor allem Dan, ein gesprächiger Typ habe ihn beeindruckt. So schloss sich Robert einstweilen dessen Punks an. 1987 geboren durchlebte er aber alle Irrungen und Wirrungen der Baseballschlägerjahre. Im Chaos und der Orientierungslosigkeit nach der Wende suchten gerade Jugendliche vehement nach starken Identifikationsangeboten. Die Liedtexte auf einer Kassette seines Mitschülers jedenfalls sang auch Robert mit:

Hängt dem Adolf Hitler, hängt dem Adolf Hitler, hängt dem Adolf Hitler den Nobelpreis um.
Hisst die rote Fahne, hisst die rote Fahne, hisst die rote Fahne mit dem Hakenkreuz.

«Mach das nie wieder.» Nur das habe sein Vater gesagt, ohne dass ein Gespräch stattgefunden hätte, bedauert Robert. Sein Groll über das Schweigen ist immer noch spürbar. Später allerdings habe ihn sein Grosscousin, eine lokale Nazi-Grösse, geschützt, als sich – in den berüchtigten Baseballschlägerjahren nicht unüblich – Neonazis und Punks prügelten. Der nicht, habe es geheissen.

 

American Football statt deutschen Fussballs

 

Was ihn dann von Burg nach Cottbus geführt habe, will ich wissen. Der Besuch des niedersorbischen Gymnasiums in Cottbus hätten ihm den Weg aus der Trostlosigkeit im Burg der 90er gewiesen und American Football. «Mein Coach fuhr mich nicht selten nach dem Training zurück nach Burg, obwohl er gar nicht in Burg wohnt», erklärt Robert, «die Wertschätzung durch ihn und die Mannschaft haben mir viel gegeben.» Eine Art aufwändiger Jugendarbeit, fasse ich zusammen. Robert nickt. Immerhin in der 2. Liga spielen die Cottbus Crayfish. 2002 begann Robert mit dem Football, noch heute unterstreicht er die Rolle seines Trainers: «Kicker war wichtig.»

Die einzige Sprachminderheit Deutschlands wiederum, die dem niedersorbischen Gymnasium ihren Namen gab, schaut trotz mehr Unterstützung als zu DDR-Zeiten einer schwierigen Zukunft entgegen. Sorbisch hätte am niedersorbischen Gymnasium nicht nur Unterrichtsfach, sondern auch Unterrichtssprache sein sollen, berichtet Robert. Doch das habe nicht funktioniert. Und sorbisch habe er auch nicht wirklich gelernt. Die Sorben, eine slawische Sprachgruppe, verlieren trotz aller Bemühungen in der an sich zweisprachigen Region an Boden.

Dass American Football im Osten dagegen Raum vorfand und Fuss fassen konnte, liegt nicht zuletzt daran, dass der DDR-Fussball nach der Wende ausblutete. Die gegensätzlichen Wirtschaftsstrukturen der Vereine in Ost und West sorgten für einen Anpassungsdruck, dem die Vereine im Osten kaum standhalten konnten. Hinzu kam die wesentlich grössere Finanzkraft der Westvereine. So verliessen die erfolgreichsten Spieler die ehemaligen DDR-Vereine nach und nach in Richtung Westen. Bis heute verliert der Osten seine Talente an die zahlungskräftige Konkurrenz aus den alten Bundesländern.

 

Mittag auf dem Markt

 

Diesem desolaten Bild scheint – zumindest auf den ersten Blick – die Entwicklung der Stadt Cottbus entgegenzustehen. Im Gegensatz zu anderen Städten im Osten wie Leipzig oder Magdeburg stieg die Bevölkerung während der gesamten DDR-Zeit steil an. Cottbus war aufgrund der Energieindustrie eine Boomtown. Erst Mitte der Neunziger erfolgte ein Knick. Seither stabilisiert sich Cottbus bei rund 100’000 Einwohner:innen. Allerdings, wendet Robert ein, verdanke Cottbus dies grosszügigen Eingemeindungen seit der Wende. Das fünf Kilometer ausserhalb des Stadtkerns gelegene Sielow etwa gehört seit Ende 1993 zu Cottbus. Die Marke von 100’000 Einwohner:innen ist wichtig, um als Grossstadt Fördermittel vom Bund zu erhalten.

Tatsächlich bestätigt sich auch in Cottbus trotz glorreicher DDR-Vergangenheit eine Erfahrung, die typisch ist für Städte in Ostdeutschland. Kohls Versprechen blühender Landschaften sorgte zwar – wie etwa um den schmucken Markt – für die Renovierung der Fassaden. Die Stadt aber wirkt auch an einem sonnigen Samstag wie ausgestorben. Kaum ein Auto auf den Strassen, die Fussgängerzone entvölkert. Wen die Wahlkämpfer:innen der Freien Wähler ansprechen wollen, bleibt ein Rätsel.

Folgerichtig beklagt Roberts Mutter beim Mittagessen auf dem Markt, dass etwa der Detailhandel verschwunden sei. Einzig Gastronomie gebe es noch und Lebensmittelgeschäfte. Der Bedeutungsverlust der Stadt Cottbus im wiedervereinigten Deutschland ist nach wie vor spürbar. Persönlich habe sie die Wende zwar nicht so hart wie andere getroffen, weil sie ihre Arbeitsstelle nicht verloren habe. Dennoch sei die Unsicherheit damals so gross gewesen, dass sie auf ein zweites Kind verzichtet hätten, fügt Roberts Mutter an, ihr Mann habe sich schwerer getan mit der Arbeitssituation. Später erzählt mir Robert, seine Mutter sei die Hauptverdienerin der Familie gewesen, das habe für seinen Vater – trotz aller Gleichstellungsbestrebungen in der DDR – zeitlebens ein Problem dargestellt.

 

Konservative Landschaften…

 

An der gesellschaftlichen Realität – ob in Sachen Geschlechtergleich- oder in Sachen politischer Einstellung – änderte auch die DDR-Propaganda wenig. Im Gegenteil: Sie leugnete vielfach lieber, als dass sie sich der Herausforderungen angenommen hätte. Was nach der Wende an die Oberfläche drängte und nur mühsam eingedämmt werden konnte, wuchert nun erneut. Gerade eine Schule in Burg machte in den letzten Jahren Schlagzeilen, weil sich Lehrkräfte gegen das Umsichgreifen einer Neonazi-Kultur wehrten. Sie fanden wenig Rückhalt, wurden bedroht und leisteten am Ende einer Flugblatt-Aufforderung Folge: «Haut ab nach Berlin!». Seither ist es wieder ruhig geworden um Burg, das eigentlich vom Spreewaldtourismus – nicht zuletzt von Berliner:innen – lebt, gespenstisch ruhig.

Dieser Stimmung wollen sich die Freien Wähler:innen entgegenstellen. Dem Gespräch mit dem bürgerlichen Bündnis aus Lokalgruppen und -initiativen will ich mich keinesfalls entziehen, auch wenn sofort klar wird, dass ich nicht wahlberechtigt bin. Dennoch erklärt mir eine beherzte Wahlkämpferin, dass in ihrem Wahlkreis im Norden Brandenburgs die AfD-Kandidatin bei den Ende September anstehenden Wahlen wohl noch zehn Prozentpunkte vor ihr liegen werde. Aber bis zur übernächsten Wahl in fünf Jahren wolle sie diese Kandidatin verdrängen.

 

Die Zelle beherbergt neben ihren Bewohnerinnen auch ein Jugendbegegnungszentrum im Erdgeschoss. (© Fabian Schwitter)

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Und dann erzählt die Tierärztin von einer alten Oma, die mit einem Huhn in die Praxis gekommen sei. Sie wolle nicht, dass solche Menschen glauben müssten, nur die AfD nehme sie ernst. Für mehr lokale Verwurzelung der Politik angesichts der Kluft zwischen Stadt und Land plädiert sie und fordert plebiszitäre Elemente in der deutschen Politik. Aber die konkreten Vorstellungen bleiben vage. Wie hoch etwa müsste die Unterschriften-Hürde für ein Volksbegehren sein? «Ich bin keine Juristin und kann entsprechend keine formal-juristischen Bedingungen angeben», antwortet sie. Ob es um solche geht oder doch eher um eine adäquate Einschätzung, damit das legitime Anliegen nicht nur nach populistischer Pöbeldemokratie und Mehrheitstyrannei aussieht?

Endlich fällt das Wort «runder Tisch». Damals, in der Wendezeit, gab es runde Tische im Osten, an denen die unterschiedlichen Interessengruppen sassen. Wenig ist von ihnen in die neue BRD herübergerettet worden. Deutliche nehme ich den Wunsch wahr, das Rad der Zeit zurückzudrehen und noch einmal dort anzusetzen, wo es vermeintlich schiefging. Das würde bedeuten, ins Jahr 1990 zurückzuspringen.

 

… von Frauen dominiert?

 

Und dann wettert sie, die mehr Verantwortung der Politiker:innen gegenüber den Wähler:innen fordert, über Angela Merkels Bundestagskandidatur auf Rügen 1990. Beeindruckt bin ich, wie die rund Vierzigjährige unter ihren Mitstreitern steht. Die älteren, etwas biederen Herren sind gerade gut genug, die Bevölkerungszahl Brandenburgs zu googeln, bevor sie sich ob der Redegewandtheit der Kandidatin diskret zurückziehen. Das Formal-Juristische scheint ihnen auch nicht zu liegen.

Später finde ich heraus, dass meine Gesprächspartnerin Sabine Buder heisst und nach einer verpassten Wahl in den Bundestag und einer gescheiterten Nominierung für den landesweiten CDU-Vorsitz 2021 nicht den Wahlkreis, sondern 2023 die Partei wechselte. Die spätere Bundeskanzlerin dagegen zog 1990 nach Rügen, weil auf der Ostseeinsel ein Direktmandat für den Bundestag besonders wahrscheinlich war. Und doch kommt mir Buder im Nachhinein etwas mehr wie Merkel vor, als der ambitionierten Tierärztin vielleicht lieb ist. Klar, Merkel zog aus opportunistischen Gründen nach Rügen. Aber sie verdrängte mit ihren Ambitionen auch einen biederen Herrn aus dem Parlament und wurde zur bislang mächtigsten Frau in den modernen Demokratien.

 

Auch renaturierte Landschaften…

 

Am Ende bleibt das alte Lied, wenn es um die Spannung zwischen Verantwortung und Ambition geht. Wer Ambitionen hat, wird sich irgendwann nicht mehr mit den Leuten von früher unterhalten, sondern in anderen Kreisen verkehren. Wer hört den Zurückgebliebenen dann zu? Das ist das Los so vieler Landstriche im Osten. Robert meint, Kontakte nach Burg oder Cottbus habe er eigentlich keine mehr. Neulich sei ihm in Berlin zufällig einer begegnet, der nach Burg zurückgezogen sei. Aber die Stimmung in Burg? Naja, die Neonazi-Schläger von früher seien halt älter geworden. So normalisiere sich das Leben von Generation zu Generation. Aufschreie gegen die Verhältnisse kämen höchstens von aussen, fasst Robert resigniert zusammen.

Was ich von Burg höre, mutet ausweglos an. Und auch in Cottbus spüre ich wenig Dynamik. Die Energieindustrie geht ihrem Ende entgegen. Mit der Cottbuser Ostsee, einer renaturierten Kohlegrube soll auf dem Stadtgebiet der grösste künstliche See Deutschlands entstehen. Noch ist das Becken nicht voll. Und im heissen Sommer 2024 musste die Füllung auch unterbrochen werden. Eigentlich fehlt es in Brandenburg an Wasser. Berlin droht zukünftig zu verdursten. Ob das Lausitzer Neuseenland angesichts des Klimawandels dereinst seine Funktion als Wasserspeicher erfüllen können wird?

 

… verhindern den Wegzug nicht

 

Sollte Berlin dereinst das Wasser ausgehen, kehren vielleicht wieder Menschen ins weitere Umland zurück. Vorderhand allerdings zieht es die Leute weg. Zum Studium sei er, wie die meisten, nach Berlin gezogen, erzählt Robert. Cottbus und die Zelle erscheinen als Durchgangsstation auf dem Weg nach Berlin oder Leipzig. Abgesehen von der einen oder anderen Person über dreissig, erklärt Robert, bevölkerten Menschen im Alter zwischen 18 und 22 die Zelle.

Vor dem imposanten Bibliotheksneubau begegnen wir keinem Menschen. Später recherchiere ich die Öffnungszeiten. Die Bibliothek hat täglich ab 09:00 Uhr auf. Vielleicht ist es zu heiss? Gut über dreissig Grad zeigt das Thermometer an diesem Samstag im August an. Vielleicht sind alle Studierenden im Sommerurlaub? Auf dem Campus der Technischen Universität Brandenburg, wo Robert einst Football spielte, finden wir nur Internationals. Cricket ist angesagt. Gerade sie fehlten allerdings im Stadtbild, blieben unter sich, meint Robert. Ob das an der gedrückten Stimmung in Cottbus und Umgebung oder an den geschlossenen Communities der Internationals aus Südasien – die Liebe für Cricket lässt auf Pakistan, Indien oder Sri Lanka schliessen – liegt?

 

Stimmung ist, solange Energie spielt

 

Auf dem Weg zurück in die Innenstadt begleiten uns immer wieder die Fangesänge aus dem Stadion. Das Spiel hat offenbar begonnen. In letzter Minute, werde ich später auf der Heimfahrt im Zug von einem Fan hören, schlägt Cottbus Alemannia Aachen. In Doberlug gesellen sich die Reisenden zwischen Berlin und Leipzig wieder zu uns. Ob es versöhnlich stimmen soll, dass im äussersten Westen Deutschlands genauso wie im äussersten Osten bisweilen Neonazi-Gruppen das Sagen unter den Fussballfans haben? Mag es insgesamt erschreckend sein, finde ich es für den allzu oft gescholtenen Osten dennoch tröstlich.

Weniger tröstlich erscheint mir dagegen, die Antwort auf die Frage, was einen Menschen aus Burg der Neonazi-Sozialisation entgehen lässt. Neben engagierten Erwachsenen wie «Kicker» vor allem der Zufall. Die Begegnung mit Dan in Burg trieb Robert zu den Punks. Von dort ging der Weg weiter zur Zelle. Dans Ex-Freundin wurde Roberts Freundin. Und deren Schwester, die in der Zelle wohnte, schleuste Robert ein. Während Roberts intellektuelle Fähigkeiten ihn von Burg nach Cottbus ans Gymnasium und dann später an die Uni gebracht hätten, verkehre der ehemalige Punk Dan hingegen heute mit Rockern, meint Robert gehört zu haben. «Cottbus verlassen hat er jedenfalls nie», schliesst Robert seine Geschichte.

 

Cottbus verlassen

 

Für heute hat Cottbus gewonnen. Die Zukunftsaussichten jedoch sind für die Stadt wahrscheinlich genauso dürftig wie für die Sorb:innen oder die Freien Wähler. Bei der Landtagswahl am 22. September übersprangen sie die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Landtag jedenfalls nicht. Stattdessen hätte die AfD beinahe das Rennen gemacht. Einzig die SPD steht ihr – wie die CDU in Sachsen – noch vor der Sonne. Vielleicht allerdings wird die umtriebige Tierärztin aus Biesenthal dank ihres Eifers und ihrer Bekanntheit dereinst ein Direktmandat erringen. Nur wer die Wähler:innen sein sollen, ist mir immer noch schleierhaft.

 

Die Stadtgeschichte von 1930 ist noch in der alten Frakturschrift gedruckt.

 

Dass wir während all der Stunden in Cottbus kaum einem Menschen begegnen, wird mir erst so richtig deutlich, als ich mir die Fotos anschaue. Nur in den Erzählungen Roberts wird die Stadt fassbar. Fast symptomatisch scheint es, dass ich in den Leipziger Bibliotheken bloss eine Stadtgeschichte von 1930 auftreiben konnte. Ein Buch von 1994, das mir eine Person des Tourismusbüros auf meine Anfrage hin vorschlägt, finde ich nicht einmal in der Deutschen Nationalbibliothek.

So lasse ich das übliche Aufspüren von Persönlichkeiten dieses Mal. Auf der Wikipedia-Liste der Cottbuser Ehrenbürger:innen kommt mir auch kein Name bemerkenswert vor. Einzig den Radrennfahrer Tony Martin kenne ich. Er wurde 1985 in Cottbus geboren, zog aber schon 1989 (noch vor dem Mauerfall) mit seinen Eltern weg. Wahrscheinlich passt ein Weltmeister im Zeitfahren dennoch ganz gut zu diesem weiten, flachen Land mit seinen zweieinhalb Millionen Einwohner:innen: Entgegen steht der knapp zweitgrössten Bevölkerung der neuen Bundesländer die weitaus grösste Fläche.

 

 

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