Wende für alle ausser für die Schweiz (Deutsche Einheit Teil III)
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Als sich nach dem Fall der Berliner Mauer ganz Europa im Aufbruch befand, kehrte die Schweiz zum altbekannten courant normal zurück. Was als Mut zu einer antizyklischen Politik erscheinen könnte, zeugt auch von Ignoranz. Mit der europäischen Einigung will die neutrale Schweiz bis heute nichts zu tun haben.
Lieber Réduit als Europa
Dass die Schweizer Politik der geschäftstüchtigen Neutralität angesichts der Währungsentscheidungen bei der Wiedervereinigung Deutschlands und den resultierenden Verwerfungen in der EU (Euro-Krise, Brexit…) aus der Binnenperspektive im Nachhinein recht zu behalten scheint, nährt die selbstsüchtige Staatsräson des Alpenlands und rettet sie ins 21. Jahrhundert herüber. 1992 votierte die stimmberechtigte Bevölkerung der gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum und stoppte damit die Integration der Schweiz in die Europäische Gemeinschaft (Vorläuferin der EU) just zu dem Zeitpunkt, als sich das geteilte Europa nach dem Ende des Kalten Kriegs wieder zu vereinigen begann. Die Stimmbeteiligung war mit 78,7% historisch hoch, wobei ein Fünftel der Wohn- und Arbeitsbevölkerung ohne Staatsbürgerschaft nicht stimmberechtigt war. Die SVP, als einzige Regierungspartei gegen die Vorlage des Bundesrats (Exekutive), liess anstelle der europäischen Integration das Réduit auferstehen, das die Schweiz als Widerstandssymbol durch die Zeit des Nationalsozialismus getragen hatte. Allen voran Christoph Blocher wurde in seinen Reden nicht müde, die einigende Kraft alter Mythen zu beschwören.
Eingekesselt von den Achsenmächten hatte die neutrale Schweiz während des Zweiten Weltkriegs gute Gründe, bei aller Wehrhaftigkeit Entgegenkommen zu zeigen. Sich für den Fall eines Angriffs dennoch mit einem sicheren Rückzugsort – dem Réduit, einer mythischen Befestigungszone in den Alpen – zu wappnen, erschien als Gebot der Klugheit. Wirtschaftlich erwies sich diese Situation obendrein als profitabel. Nicht nur erlaubte sie der Schweiz Handel mit den Achsenmächten ebenso wie mit den Alliierten, Waffen(-teile) aus der Schweiz dienten hüben wie drüben zur Vollendung des Gemetzels, sondern das Kriegsglück der Schweiz liess den Kleinstaat auch mit einer intakten Wirtschaft mitten in einem zerstörten Europa zurück. So verdiente die leistungsfähige Wirtschaft der Schweiz am Wiederaufbau Europas kräftig mit.
Lieber Klugheit als Moral?
Klug mag die Regierung der Schweiz damals immerhin gehandelt haben. Überlegenheit lässt sich daraus weder politisch noch moralisch ableiten. Angesichts der ruchbar gewordenen Gräuel des Nazi-Regimes zugunsten krämerischer Klugheit jede Verantwortung von sich zu weisen, zeugte schon während des Kriegs und erst recht in den Jahrzehnten danach weder von moralischer Integrität noch vom Verantwortungsbewusstsein mündiger Bürger:innen. In seiner Erwiderung auf die trotzige Behauptung des Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz angesichts finanzieller Kompensationsforderungen – «Auschwitz liegt nicht in der Schweiz» – zerrte der Schrifsteller Adolf Muschg 1997 im Tages-Anzeiger den Widerwillen der Schweiz zur Selbstkritik ins Licht der Öffentlichkeit. Unter dem Titel «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt» zeigte er die Unhaltbarkeit einer fünfzigjährigen Selbstbehauptung der Schweiz auf, noch bevor Sammelklagen gegen Schweizer Banken um Schadenersatz für sogenannt «nachrichtenlose Vermögen» jüdischer Holocaustopfer den amerikanischen Anwalt Ed Fagan bei einigen in der Schweiz zum Staatsfeind Nummer eins machten.
Muschgs Intervention und der kurze Schock um die Enthüllung der Machenschaften von Schweizer Banken während des Zweiten Weltkriegs änderte wenig an der üblichen Selbstgerechtigkeit der Schweiz. Der Blick der Schweiz auf die umliegenden Länder Europas ist nicht zuletzt von Herablassung geprägt, weil die Schweiz hat und andere nicht. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört die Schweiz zu den Sieger:innen im kapitalistischen Wettbewerb. Nach den gegebenen Spielregeln hat die Schweiz allen Grund, sich überlegen zu fühlen. Ist es da noch nötig, die Spielregeln zu hinterfragen? Augen zu und hoffen, dass sich das Blatt nie wendet!
Die These vom Ende der Geschichte des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks dürfte – auch das im Nachhinein – nirgendwo spürbarer gewesen sein als in der Schweiz. Der demokratische Liberalismus hat sich gegenüber dem autokratischen Sozialismus als überlegen erwiesen. Nun ist es bloss noch eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt wird wie die Schweiz. Oder vielleicht doch nicht? Die Schweiz verlöre ihren selbst behaupteten Sonderstatus wohl nur ungern. Dass die Annehmlichkeit des Lebens in der Schweiz – bei allen Vorzügen des politischen Systems und bei aller Klugheit von Regierungen – nicht nur auf der eigenen Tüchtigkeit, sondern auch zwangsläufig auf dem Leid anderer gründet, vergessen die Schweizer:innen allzu bereitwillig.
Lieber Wohlstand als Umweltschutz?
Die DDR ging beim vergeblichen Versuch, unter dem Schutz der kriegsgebeutelten Sowjetunion das amerikanisch gestützte Produktionsniveau Westeuropas zu erreichen, nicht zuletzt an den Umweltsünden zugrunde, die einer wachsenden Zahl an durchaus sozialistisch eingestellten Menschen die Freude am realexistierenden Sozialismus vergällte. Der bescheidene Wohlstand der 70er und 80er wurde in der DDR wesentlich auf Kosten der Umwelt im eigenen Land erkauft. Beides – eine intakte Umwelt und Wohlstand – liess sich offenbar nicht so rasch haben. Die Menschen konfrontierten den Staat vehement mit Reformforderungen, denen das sklerotische System realitätsferner Apparatschiks nicht gewachsen war. Die DDR erwies sich so lange als reformresistent, bis es zu spät war und der Staat unter dem zusätzlichen Druck des Westens und seiner materiellen Versprechungen an die unzufriedene DDR-Bevölkerung krachen ging. Die Wiedervereinigung Deutschlands – und die Öffnung des Ostens auch für Schweizer Kapitalinteressen – schien dann nur noch eine Formsache zu sein.
Die Schweiz im Gegensatz zur DDR profiliert sich mit politischer Flexibilität fern von starren Ideologien und mit direktdemokratischen Entscheidungsprozessen, die es der Regierung weit weniger erlauben, an den Menschen vorbeizupolitisieren. Und auch in Umweltfragen zeigt sich die Schweiz umtriebig, wenn es etwa um Verkehr und Energie geht. Die Verlagerung des Gütertransports von der Strasse auf die Schiene schreitet voran und das Potenzial an erneuerbaren Energien ist – beispielsweise bei der Wasserkraft – gross. Dass die Schweiz jedoch Umweltschäden profitabel auslagert, indem sie globale Rohstoffgiganten wie Glencore, die in anderen Ländern weder an Menschrechten noch an Umweltschutz interessiert sind, mit steuerlichen Vorteilen umwirbt und in einem privatwirtschaftsfreundlichen Umfeld beherrbergt, erfordert eine Verdrängungsleistung der Schweizer:innen, deren Alltäglichkeit nicht einmal die explizite Frage einer Volksabstimmung erschütterte. Gegen die «Initiative für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» von 2020, die es erlaubt hätte, in der Schweiz ansässige Konzerne für kriminelle Machenschaften in anderen Ländern in der Schweiz vor Gericht zu ziehen, sträubten sich die Profiteur:innen erfolgreich. Die Initiative scheiterte zwar nicht am hauchdünnen Bevölkerungsmehr, aber am Ständemehr (Mehrheit der Kantone). Allen voran die kleinen Steuerparadiese Zug, Schwyz, Ob- und Nidwalden stellten sich entschieden gegen die Initiative und die Präferenzen von urbanen Kantonen wie Zürich oder Basel. Dass nach Jahren einer zunehmenden Angleichung einmal mehr der sogenannte Röstigraben – die Kluft zwischen den relativ konservativen Kantonen der Deutsch- und den relativ progressiven Kantonen der französischsprachigen Westschweiz – deutlich sichtbar wurde, sagt viel.
Die politische und finanzielle Solidarität unter den althergebrachten Kantonen, wie sie sich eben im erwähnten Ständemehr zeigt, das es den kleinen Kantonen ermöglicht, die bevölkerungsreichen Ballungszentren auszubremsen, ist ein Reifezeugnis des demokratischen Systems der Schweiz. Undenkbar in Deutschland, dass kleine Bundesländer (insbesondere im Osten) den grossen ernsthaft in die Suppe spucken könnten. Vielmehr verfügen die bevölkerungsreichen Bundesländer in der grossen Kammer, dem Bundesrat, über eine Sperrminorität bezüglich der nötigen Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen. Dass dagegen unter den direktdemokratischen Instrumenten in der Schweiz wie bei der EWR-Abstimmung von 1992 die aussenpolitische Handlungsfähigkeit leidet, ist zu verschmerzen. Dass mit diesen weitreichenden Beteiligungsmöglichkeiten nicht zwingend ein Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung einhergeht, dagegen weniger, wenn unter den Bürger:innen anstelle von jederzeit angebrachter Selbstkritik und ehrlichem Eingeständnis ein selbstgefälliges Schulterklopfen üblich ist.
Lieber Rechtspopulismus als demokratische Institutionen?
Die direktdemokratischen Errungenschaften, um die andere die Schweiz oft beneiden, treiben gerade gepaart mit der Réduit-Mentalität des eigenbrödlerischen Sonderfalls immer wieder dunkle Blüten. Die Erfolgsgeschichte der politischen Institutionen in der Schweiz, die sich diesbezüglich nicht zu verstecken braucht, lässt sich entsprechend auch mit anderer Gewichtung erzählen. Ende der 90er stieg die SVP zur wählerstärksten Partei auf, als die Rechtspopulist:innen im übrigen Europa nur von einer solchen Position träumen konnten (der Front Nationale in Frankreich lag auf Platz drei, die AfD in Deutschland existierte noch nicht). Das führte nicht nur zu einer Abkehr der Schweiz von Europa und zur vieldiskutierten Rosinenpickerei der bilateralen Verträge mit der EU, sondern auch zu einer Reihe von fremdenfeindlichen Initiativen, die für das rechte Europa Signal- und Vorbildwirkung hatten. Angeführt vom Selfmade-Milliardär Christoph Blocher mauserte sich die vermeintliche Partei der kleinen Leute bis 2007 zu einem Wähler:innenanteil von knapp 30%. Auch Hitler, das will immerhin bemerkt werden, arrangierte sich trotz sozialistischer Versprechungen – der Nationalsozialismus ist auch ein Sozialismus – mit der globalen Grossindustrie ebenso wie diese sich mit ihm einliess. Während Blochers SVP die Schweiz mit fremdenfeindlichen Initiativen wie der «Initiative gegen den Bau von Minaretten» (2009), der «Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer» (2010) oder der «Initiative gegen Masseneinwanderung» (2014) vor sich hertrieb (alle Initiativen wurden angenommen), hatten die Staaten Südeuropas (insbesondere Griechenland und Italien) mit dem Problem der Massenmigration umzugehen. Und auch die Schweiz tat – wie der Rest Europas nördlich der Alpen – wenig, um die Nachbarn zu unterstützen. Solidarität hört an den Landesgrenzen auf und Verantwortung zu übernehmen braucht die Schweiz nach wie vor nicht für Ereignisse, die ganz offensichtlich nicht auf ihrem Territorium passieren. Oder was wäre, wenn Lampedusa in der Scheiz läge? Nein, auf Schweizer Territorium werden nur die Gewinne verwaltet, nicht aber die Verluste.
Auch wenn die Resonanz in der Bevölkerung für die reisserischen Initiativen der SVP allmählich ebenso schwindet (die «Initiative für eine massvolle Zuwanderung» von 2020 wurde abgelehnt), wie der Wähler:innenanteil der Partei stagniert, tat die Stimmung doch ein Übriges. Im Rahmen der Umverteilung von 40’000 syrischen Geflüchteten innerhalb von Europa 2015 tat sich die Schweiz hervor, indem sie 1’500 Menschen Aufnahme zusagte. Aber selbst diese geringe Zahl stellte für das reiche Land von acht Millionen Menschen offenbar eine so grosse bürokratische Herausforderung dar, dass der Aufnahmeprozess nur schleppend vorankam. Damit passte sich die Schweiz trotz ihrer Sonderfallallüren eben doch bequem dem Durchschnitt des Schengenraums an, der bei einer Bevölkerungsgrösse von 400 Millionen Menschen um 40’000 Geflüchtete feilschte, während in Italien allein in den letzten zwei Jahren schon monatlich gegen 10’000 Geflüchtete landeten.
Wo kämen wir auch hin, wenn wir all diese Menschen aufnähmen? Klar, stiesse die Migration aus Afrika und dem Nahen Osten nicht auf schier unüberwindliche Hürden, sähen Europa und die Schweiz bald anders aus. Ob das Boot – wie es bei der Abweisung jüdischer Geflüchteter während des Zweiten Weltkriegs hiess – wirklich schon voll ist? Tatsache ist, dass das Teilen von Wohlstand mit diesbezüglich weniger glücklichen Menschen nicht gerade hoch im Kurs ist. Stattdessen ist auch die SVP, selbsternannte Pflegerin der Identität des Alpenidylls Schweiz, daran interessiert, dringend benötigte Fachkräfte einreisen zu lassen. Die Migrationspolitik der wählerstärksten Partei orientiert sich am Bedarf der Wirtschaft – an der inländischen Wohlstandsmehrung und an der Bereicherung ihrer ohnehin schwerreichen Vordenker (seit dem Einzug von Blochers Tochter in das Parteipräsidium herrschen bald dynastische Zustände). Zur Erhaltung auch des allgemeinen Lebensstandards sind ausländische Arbeitnehmer:innen unerlässlich. Der medizinische Sektor zum Beispiel würde ohne Pflegekräfte aus Osteuropa und Ärzt:innen aus Deutschland kollabieren. Zweifelsohne besteht ein Effekt der Wende darin, dass sich das Reservoir an gut ausgebildeten Arbeitskräften, aus dem sich die Schweiz mit Vorliebe allein nach eigenen Massgaben bedient, enorm vergrössert hat.
Lieber eigene als fremde Terroristen?
Die Vergrösserung dieses Reservoirs hat in der Schweiz allerdings nicht zu einer Erweiterung des Blicks geführt, auch wenn die Wiedervereinigung Deutschlands aus dem Feind der DDR einen Gegenstand neutralen Nachdenkens gemacht hat. Genauso wie ihre Vergangenheit der paranoiden Kommunist:innen-Abwehr vergisst die Schweiz dieses einstmalige Korrektiv, das zumindest ideell, wenn auch nicht real, dem westlichen Kapitalismus etwas entgegenzusetzen hatte. Es ist behaglich in der Schweiz wie nie. Und während andere Länder von islamistischen und anderen Terrorakten um das symbolträchtige Datum des 11. September 2001 heimgesucht wurden, blieb die Schweiz – teils durch Glück, teils durch erfolgreiche Prävention – sogar davon verschont. Einzig Einheimische sorgen mit ihren Sturmgewehren, dem Symbol der bürgerlichen Wehrhaftigkeit, für Aufsehen. Im dramatischsten Fall drang ein Mann im Nachhall von 9/11 ins Zuger Parlament ein und tötete fünfzehn Parlamentarier:innen und Regierungsmitglieder. Noch immer herrscht die Vorstellung, die Wehrhaftigkeit erfordere die Aufbewahrung der persönlichen Waffe von angehörigen der anachronistischen Schweizer Milizarmee zu Hause. Dass die Bedrohung durch den Ukrainekrieg an der selbstgefälligen Behaglichkeit in der Schweiz etwas ändern wird, auch wenn das übrige Europa dadurch möglicherweise stärker zusammenwächst, ist mehr als zweifelhaft.
Überhaupt sind politische Veränderungen – ob ausserhalb oder innerhalb der Schweiz – schwer zu bewerkstelligen. Für Veränderungen sorgten in Europa im 20. Jahrhundert vor allem zwei Weltkriege, aus denen sich die Schweiz – teils aus unzimperlicher Kompromissbereitschaft, teils aus glücklicher Fügung – heraushalten konnte. Die friedliche Revolution in Deutschland und das Ende des Kalten Kriegs hätten auch in der Schweiz eine neue Haltung jenseits der kriegerischen Réduit-Mentalität nahegelegt. Stattdessen sorgten alte Reflexe für Panik angesichts der rasenden Veränderungen in Europa. Der Alleingang der Schweiz ist bis auf Weiteres ein fait accompli.
Lieber Eiertanz als Erfahrungsaustausch?
Nach wie vor bringt die Schweiz ihre Erfahrung lieber nicht in die europäischen Institutionen ein. Stattdessen verteidigte sie trotz der alten Angst vor dem Sowjetimperialismus händeringend ihre geschäftstüchtige Neutralität auch angesichts der neoimperialen Invasion Russlands in die Ukraine. Nur widerstrebend beugte sie sich dem äusseren Druck und unterstützte mit Verspätung die Sanktionen gegen Russland. Der neutralitätspolitische Eiertanz um die Wiederausfuhr von Panzermunition 2022 zeigt, dass dieser Schuss unter veränderten Bedingungen gerade in ökonomischer Hinsicht nach hinten losgegangen sein könnte. Deutschland und andere Länder sind jedenfalls bestrebt, künftig nicht mehr auf Schweizer Munitionslieferungen zu vertrauen. Ob das eine willkommene Ironie des Schicksals ist?
Der Aufstieg der rechtspopulistischen SVP mit ihrer Vereinnahmung der Neutralität seit den 90ern führte zur Abschottung der Schweiz. Eine Stimmung, die in der Schweiz mit ihrer langen Tradition demokratischer Stabilität lediglich zu xenophoben Initiativen führt, neigt in anderen Ländern – wie etwa in Deutschland – rasch zu radikaleren Gelüsten. Plötzlich steht – angesichts der besonders im Osten starken AfD – die Demokratie selbst zur Diskussion, sodass Forderungen nach Parteiverboten laut werden. Für Demokratien können – berechtigte oder unberechtigte – Parteiverbote nie ein gutes Zeichen sein. Ob das schüren solcher Stimmungen mittels xenophober Initiativen wirklich das ist, was die Schweiz an politischer Erfahrung in Europa einbringen will?
Lieber Wohlstandsneurosen als Solidaritätsgefühle?
Ein neutrales Nachdenken über das einstige Korrektiv des Sozialismus könnte – insbesondere nach den hohlen Beschwörungsphrasen der Coronazeit – zur Wiederentdeckung der Solidarität führen, die zumindest in der Schweiz zwischen den Kantonen nach 150 Jahren Staatstradition ganz leidlich funktioniert. Die Erfahrung dieser Solidarität hätte die Schweiz einzubringen. Denn berechtigte Kritik an politischen Institutionen in Deutschland oder der EU müsste weder zu einer antiquierten Beschwörung des «Volks» in Deutschland noch zur Verabschiedung der Demokratie in einem illiberalen Ungarn führen. Die Funktionalität der demokratischen Institutionen in der Schweiz garantiert umgekehrt jedoch auch nicht, dass die Schweizer:innen notgedrungen gute Demokrat:innen sind. Je besser demokratische Institutionen jedoch funktionieren, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Menschen sie wirklich abschaffen wollen oder können.
Es bedürfte keiner grossen Entwürfe, wollte die Schweiz sich einbringen. Vorausgesetzt wäre allerdings die Bereitschaft, den Wohlstand, den die Schweiz auch auf Kosten anderer erwirtschaften konnte, mit diesen anderen zu teilen. Wollte die Schweiz wirklich besser als andere – oder gar die Kommunist:innen mit ihren Worthülsen – dastehen, lebte sie Solidarität wirklich. Kurz: Es bedürfte der Bereitschaft, den harten Lernprozess anzustossen, zugunsten der Welt – Natur ebenso wie Mensch – mit etwas weniger auszukommen. Die eklatante Wohlstandskluft zwischen den verschiedenen Regionen Europas lässt nur schon das Leben in Ostdeutschland erahnen. Dass es sich in Ostdeutschland allerdings leben lässt, auch. In der Schweiz dagegen hat sich ein Selbstverständnis materieller Bedürftigkeit auf höchstem Niveau herausgebildet. Noch vermag die vermeintliche Richtigkeit des anhaltenden Alleingangs der Schweiz diesen Wohlstand zu schützen. Die Welt könnte allerdings auch einmal anders aussehen.
Wer ist jetzt das andere Deutschland?
Wer mit Humor gesegnet ist, kann sich eine zukünftige Schweiz in der Situation Griechenlands vorstellen. Mit klammen Taschen verwies die griechische Regierung 2011 auf ihr unbezahlbares Erbe, die Wiege der europäischen Demokratie gewesen zu sein, und verlangte Respekt dafür. Eine verarmte Schweiz wird vielleicht, wenn Europa dereinst zwischen den USA und China zerrieben sein sollte, darauf verweisen, einst die ausgereifteste Demokratie Europas gewesen zu sein. Ob sie unter ärmeren Umständen dieselbe Vorzeigedemokratie wäre und daher mit Nachsicht rechnen könnte?
Vorderhand allerdings ist die Welt noch, wie sie ist. Die deutschsprachig dominierte Schweiz mit ihrem komplizierten Verhältnis zur deutschen Kultur fürchtet sich seit je vor der Grösse Deutschlands, erst recht vor dem wiedervereinigten Deutschland. Und sie hat allen Grund dazu. Gern wird der Schwarze Peter – erinnert sei an den Röstigraben – dem grossen Nachbarn zugeschoben. Mit grosser Wahrscheinlichkeit bewahrt die Schweiz nur die militärische Machtlosigkeit, die ihre Kleinstaatlichkeit mit sich bringt, vor Schlimmerem. Denn in der Gegenwart lässt sich nirgends der allzu gut dokumentierte und nachgerade schizophrene Zusammenhang von Kapitalismus und rassistischer Ausgrenzungspolitik besser beobachten als in der SVP-Schweiz. Das Zentrum akkumuliert die Ressourcen des Umlands, braucht dessen Arbeitskräfte und will sich zugleich vor dem Zustrom, der den Wohlstand gefährden könnte, schützen. Der Schweizer Kleinstaat und nicht etwa die grosse Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands, so liesse sich das betrachten, ist das kapitalistische Zentrum im Herzen Europas, in dem mit dem Hamburger Reeder Klaus Michael Kühne auch der reichste Deutsche seinen Wohnsitz hat. Seine Schweizer Kollegen, Grosskapitalisten wie Christoph Blocher, machen sich die Stimmen ihrer einheimischen Arbeiter:innen zunutze, um das Land mit einem rigiden Einwanderungsregime sowie dem Schutzgürtel der EU-Staaten gegen aussen abzuschotten und ihre Gewinne zu sichern. Derweil erzeugen sie mit ihren international tätigen Firmen genau den Sog, der Menschen – ob es sich um gut ausgebildete Fachkräfte oder mittellose Wirtschaftsgeflüchtete handelt – überhaupt in die Schweiz zieht. Die Schweiz aufgrund dieser Zusammenhänge schon faschistisch zu nennen, wäre böswillig. Dennoch entbehrt es – gerade im Kontext der Serie «Das andere Deutschland – Berichte aus dem Osten» – nicht der Ironie, dass Muschg in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Ricarda Huch Preises 1993 die Schweiz «das andere Deutschland» nannte.
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