Torgau: Eine unscheinbar geschichtsträchtige Stadt

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Unscheinbar mögen Kleinstädte wie Torgau sein. Von der turbulenten Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert blieb dennoch kaum ein Ort verschont. Und so gelangte auch Torgau in der tiefen Provinz Sachsens zu ungeahnter Bedeutung. Vom Elbe-Day als Weltfriedenstag über den berüchtigten Jugendwerkhof der DDR bis zur Punk-Subkultur spannt sich das geistige Panorama Torgaus auf.

 

Deutschland, wo bist du?

 

Als verengte sich der Raum bis zum Verschwinden Deutschlands, trafen am 25. April 1945 die US-Armee und die Rote Armee bei Torgau zum ersten Mal im Zweiten Weltkrieg aufeinander. Joe Polowsky, der als amerikanischer Soldat bei dieser ersten Begegnung dabei gewesen war, hatte dieser Moment so beeindruckt, dass er 1983 – noch während des Kalten Kriegs – auf eigenen Wunsch hin in Torgau begraben wurde.

 

Der Fotograf Allan Jackson stellte die Begegnung für sein ikonisches Bild nach. Soldaten beider Armeen reichen sich perfekt orchestriert über die Trümmer der Elbbrücke hinweg die Hände. (Fotografie aus der Publikation «April 1945 in Torgau», Karl-Heinz Lange)

 

Verbirgt sich die Wahrheit hinter dem nachträglich arrangierten Foto, so ist Deutschland zum Zeitpunkt des Elbe Days, der bis heute in Torgau gefeiert wird, nicht verschwunden, sondern vor allem zweigeteilt. Die Kriegslage nimmt das künftige Geschehen vorweg. Deutschland wird sich nach dem Ende des Kriegs – zwar entlang anderer Linien – in einen sozialistischen und einen kapitalistischen Staat teilen.

 

Punk statt Propaganda

 

Noch vor der offiziellen Konstituierung der sozialistischen DDR 1949 sollte der Film «Begegnung an der Elbe» die neuen Frontlinien zeichnen. In vornehmer Zurückhaltung blendet die sowjetische Propaganda die russische Rolle fast vollständig aus, um mit dem Gestus wahrheitsliebender Unbestechlichkeit die dunklen Seiten der Gegner:innen ans Licht zu zerren. Die zügellosen, raffgierigen und rassistischen Amerikaner:innen erinnern an die Nazis, mit denen sie nach dem gewonnen Krieg unverfroren Geschäfte machen. Ihnen stehen die aufrichtigen, friedliebenden und geistreichen Russ:innen gegenüber. Zeitweilig hatte Deutschland – aufgeteilt in amerikanische und sowjetische Einflusszonen – als selbstbestimmter Staat tatsächlich aufgehört zu existieren. Im Schacher um Gebiete werden Sachsen und Thüringen an die Sowjetunion gehen, damit der Westen einen Fuss in Berlin haben kann. Für den kurzen Moment eines Handschlags an der Elbe jedoch gingen solche Kalküle samt Deutschland unter.

 

Dass kein Hahn mehr nach Nazi-Deutschland krähen möge, ist ein frommer Wunsch. (Screenshot aus dem Film)

 

Wie es sich mit der Wahrheit auch verhalten mag, straft die dramatische Geschichte des 20. Jahrhunderts Carl Knabes Aussage nachträglich Lügen. 1880 begann er seine «Geschichte der Stadt Torgau bis zur Zeit der Reformation» noch mit der Bemerkung, «die Geschichte einer Stadt wie Torgau» liege «weit ab von der großen Heerstraße der allgemeinen Geschichte.» Tom und ich fahren knapp hundertfünfzig Jahre später auf der Route amerikanischer Soldaten wie Polowsky von Leipzig her Richtung Torgau. Aus dem Autoradio scheppert die «Trümmerpoesie» der Punkband Pogoexpress und Sperrzone trommelt zur «Mobilmachung» gegen «den Ungeist einer längst vergangenen Zeit.»

 

Brückenkopf: «Betreten auf eigene Gefahr»

 

Die Do-It-Yourself-Kultur des Punk, Tom hat für die Fahrt eigens eine Playlist aus Torgauer Bands zusammengestellt, sollte am Ende der DDR keine geringe Rolle für junge Menschen spielen. Sie prägt Torgau bis heute. Auch Tom – geboren Anfang des neuen Jahrtausends – verkehrte in seiner Jugend im Brückenkopf am östlichen Elbufer. In einem Proberaum treffen wir Fitze, der den Club mitaufgebaut hatte und zwanzig Jahre im Vorstand des Betreibervereins IG Rock e. V. war. Im Chaos der Wendejahre fand die Punkszene 1996 – Fitze war damals zwanzig – nach wechselnden Domizilen im Brückenkopf ein Konzertlokal und Bandräume.

Der Stadt, merkt Fitze an, sei es auch im wiedervereinigten Deutschland angesichts des Tags der Sachsen recht gewesen, die provokative Erscheinung der Punks aus dem Stadtbild auf die andere Flussseite zu verbannen. Nach der Wende mussten einer ausblutenden Kleinstadt – wie in vielen ostdeutschen Städten nahm die Bevölkerung seit 1990 stark ab und die Überalterung zu – engagierte Musiker:innen dennoch recht sein. Schon der klammen DDR sei wenig anderes übriggeblieben, als die Leute «machen zu lassen», erklärt Fitze. Zumindest so lange, wie keine Kritik am Staat verlautete.

In Leipzig sorgt der Israel-Palästina-Konflikt immer wieder für öffentlichen und aggressiven Positionsbezug. (© Fabian Schwitter)

Ohnehin begreift Fitze sein Engagement nicht in erster Linie politisch, sondern kulturell. Vom Metal her, der gemäss Nikolai Okunews Buch «Red Metal» (2021) wahrscheinlich grössten musikalischen Subkultur zu DDR-Zeiten, in die Punk-Szene reingerutscht gefiel ihm die weitaus buntere Ästhetik besser. Auf die Zerstrittenheit und die ideologische Rechthaberei der linken Szene dagegen ist Fitze schlecht zu sprechen. An der Gaza-Israel-Frage etwa – die Wahrheit der längst vergangenen Zeit frisst sich unerbittlich in die Gegenwart – zerbreche die linke Szene jederzeit. Vielmehr geht es ihm und seinen Mitstreiter:innen um den Erhalt von Freiraum. Statt haftungsneurotischer Brandschutzauflagen bei Sanierungen, die einem Verein wie der IG Rock finanziell das Genick brechen, hätte er lieber einfach ein pragmatisches Schild am Tor des Brückenkopfs: «Betreten auf eigene Gefahr».

 

Ein pragmatischer Boxer in den Baseballschlägerjahren

 

Von Gefahr weiss Fitze einiges, auch wenn er selbst glimpflich davongekommen ist. Anderen erging es in den Neunzigern – den berüchtigten Baseballschlägerjahren – weniger gut. Fast beiläufig tauchen im Gespräch Erinnerungen an zertrümmerte Oberschenkel oder bleibende Hirnschäden auf. Ein Freund sei einmal vor einem Club von Neonazis absichtlich mit dem Auto überfahren worden, erzählt Fitze. Der Preis für den Aufbau des Brückenkopfs war offenbar kein geringer gewesen. Und dennoch ist Fitze – in seiner DDR-Kindheit noch Leistungsboxer – pragmatisch geblieben.

Die Punks hätten zusammen mit den moderateren Neonazis dafür gesorgt, dass wenigstens in der Innenstadt Torgaus die Spannung, die damals in jeder Disco und bei jedem Volksfest in der Luft gelegen habe, den Alltag nicht zu sehr beeinträchtigte. «Wir kannten uns doch», erklärt Fitze die unwahrscheinliche Zusammenarbeit. Sie seien alle in dieselbe Schule gegangen, hätten gemeinsam an Mopeds herumgeschraubt, bevor sie sich gegensätzlichen Subkulturen zugewandt hätten. Die Neonazis im Plattenviertel Torgau-Nordwest allerdings, seien ein anderes Kaliber gewesen.

 

Ansprechbar für (fast) alle

 

Fitze, für den sich die Gründung einer eigenen Familie nicht ergeben hat, ist stattdessen für die ganze Stadtjugend ansprechbar geblieben, für viele – so auch für Tom – Vorbild und für manche sogar Sozialarbeiter geworden. Mit der blühenden Hip-Hop-Szene aus Torgau-Nordwest und dem Rapper OJ Slang kann sich Fitze jedoch nicht anfreunden. Zu sehr schwimme das Genre im Mainstream, zu schmuddelig sei diesem Publikum der Brückenkopf wahrscheinlich. Die Szenen seien nach wenigen Konzerten im Brückenkopf schnell wieder getrennte Wege gegangen. Ironie trägt die «Mobilmachung» jedoch ebenso wie das «Intro» OJ Slangs. Und doch bleibt die Bildsprache mit ihren Kalaschnikows brachial, die Abgründe des Drogenmilieus scheinen auf. Torgau-Nordwest ist ein anderes Kaliber geblieben.

 

Verborgen hinter den Bäumen am anderen Elbufer ist der Brückenkopf von der Stadt aus kaum wahrnehmbar. (© Fabian Schwitter)

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Ungeachtet dessen finden im Brückenkopf viele junge Torgauer:innen einen zeitweiligen «Heimathafen», wie Fitze sich ausdrückt, und können auch «morgens um vier mal noch ein Bier abgreifen.» Dass es engagierte Menschen wie Fitze gibt, die all die Jahre geblieben sind, hält Torgau am Leben, auch wenn Fitze keine rosigen Aussichten malt. Habe Sachsen deutschlandweit auch die höchste Dichte an selbstverwalteten Clubs, müssten sie mittlerweile doch fünfzig statt wie früher dreissig Kilometer zum nächsten Konzertlokal fahren. Der Ungeist, gegen den Fitzes Band Sperrzone ansingt, ist vielfältiger, als der erste Eindruck glauben macht.

 

Schwindende Selbstorganisation

 

Mit dem Brückenkopf hätten sie immerhin ein Fundament gelegt, auf das die neue Generation bauen könne. Denn neue Freiräume zu erkämpfen, sei heute wesentlich schwieriger als damals. Zu den Gefahren der anarchischen Wendezeit habe eben auch ein grosses Entfaltungspotenzial gehört. Bürokratisierung, Haftungsauflagen und Kommerzialisierung hätten die Selbstverwaltung im Westen viel früher untergraben. In München, Bremen oder Hamburg, bedauert Fitze, spielten sie in schnöden Mehrzweckhallen ohne Charme. «Im Westen», bilanziert er, «reizt mich keine Stadt.»

 

Freiräume zu finden, wird zunehmend schwieriger. Ein Loch im Holztor gibt den Blick auf den Hof des Brückenkopfs frei. (© Fabian Schwitter)

 

Die selbstorganisierte Kulturszene in Hoyerswerda vor und nach der Wende kommt mir in den Sinn oder die Raver:innen in Cottbus. Aus dem Vorstand der IG Rock ist Fitze, der die Freigeistigkeit seiner Mutter zuschreibt, die zu den wenigen selbständigen Ladenbetreiber:innen in der DDR gehört hatte, vor kurzem zurückgetreten. Den Stab hat er an die nächste Generation weitergereicht, die mittlerweile unter einem städtisch sanierten Dach sitzt. Der Brückenkopf könnte noch eine Weile erhalten bleiben, werden sich dank der Denkmalschutzauflagen doch schwerlich Käufer:innen für das wuchtige Gebäude finden.

 

Zunehmender Stimmungswandel

 

Dank Sanierungsanstrengungen, die überraschenderweise bis in die DDR-Zeit zurückreichen, wie Dagmar Rausch und Karin Hahn in den «Sächsischen Heimatblättern» (3/2018) schreiben, ist auch die schmucke Altstadt am westlichen Elbufer gut erhalten. Das Ladensterben, meint Tom, greife aber um sich. Und mag die Innenstadt auch einmal sicher vor Neonazis gewesen sein, so täuscht der Eindruck inzwischen. Die politische Entwicklung hätte die alten Geister wieder aus den dunklen Kammern gelockt, stellt Fitze ernüchtert fest. So vergangen, wie das Sperrzone-Lied suggeriert, sind die Zeiten wohl doch nicht. Und auch Torsten, Toms Vater, meint beim Mittagessen, die «Stimmung sei seit der Ankunft der vielen Migrant:innen gekippt.»

 

Am Tor des elbseitigen Schlossaufgangs ist die erstmalige Erwähnung der Stadt Torgau im Jahr 973 festgehalten. (© Fabian Schwitter)

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Die Unzufriedenheit reicht jedoch tiefer. Skepsis gegenüber allzu drastischen Interventionen aufgrund des Klimawandels greift um sich. Das Stichwort lautet «Heizungsgesetz». Dem Graben zwischen urbanen Entscheidungsträger:innen und Kleinstadtbevölkerung liegen unterschiedliche Anliegen – und nicht zuletzt Mentalitäten – zugrunde. Tom jedenfalls erzählt, sich im linksalternativen Milieu Leipzigs nicht wohlgefühlt zu haben, obwohl er in Torgau etwa der Jugendorganisation der Partei Die Linke angehört habe. Corona, und das ist gerade für junge Menschen eine untergründige Wahrheit, habe sein Engagement überdies so stark gedämpft, dass er die Lethargie bis heute nicht restlos überwunden habe.

Torsten wiederum analysiert, der Naturschutz sei in Städten, wo die Auswirkungen des Verkehrs spürbarer seien, sicher prioritär, während auf dem Land wirtschaftliche Sorgen dominierten. Er selbst sei auch nicht mit allem einverstanden und ordne sich dem Wähler:innensegment der AfD zu – allerdings aus Protest, fügt er an. Und dabei gehe es ihm überhaupt nicht um rechtsradikale Ideen – Höcke bezeichnet er als Vollspinner –, sondern um sein Vertrauen zu «ganz normalen Leuten» wie Handwerkskollegen. Von den traditionellen Parteien hält nur noch die CDU einen nennenswerten Stimmenanteil im Torgauer Stadtrat. Knapp 30% gehen an die AfD und gut 30% entfallen auf lokale Initiativen. ‹Alternativen› jeglicher Couleur bilden bereits die Mehrheit. Der Oberbürgermeister Henrik Simon ist parteilos.

 

Naturschutz und Zukunftstechnologie

 

Ihn treffen wir zufällig auf dem Biberhof an, wo Toms Tante die Naturschutzstation mitbetreut. Dem Oberbürgermeister über den Weg zu laufen, ist in Torgau mit seinen rund 20’000 Einwohner:innen vorstellbar – man kennt sich eben. Anlässlich der Vorbereitungen für das Fest zum dreissigjährigen Jubiläum der Naturschutzstation schaut er mal eben vorbei. Ein redseliger Künstler aus Oschatz bearbeitet Steinskulpturen für das Jubiläumsfest und erzählt Legenden aus fernster Vergangenheit. Einen «fetten Biber» habe der päpstliche Nuntius Friedrich den Weisen genannt, der den grössten Teich Sachsens im 15. Jahrhundert womöglich habe ausheben lassen. An diesem «Grossen Teich» liegt der Biberhof, dessen Torpfosten nun unter anderen Tieren auch ein fetter Biber zieren wird.

 

Der fette Biber, der an Friedrich den Weisen erinnert, steht probehalber auf dem Torpfosten. (© Fabian Schwitter)

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Dann kommt der Künstler auf die Schweiz zu sprechen. Eine Tasse mit Schweizerkreuz – irgendwie gehören wir ja alle zusammen in diesem deutschsprachigen Raum – zeugt von seinen Kontakten. Endlich berichtet er auch von Zukunftsvorstellungen seines Vaters. Er selbst hätte auch nichts dagegen, wenn implantierte Chips einen dereinst daran erinnerten, Nachbar:innen zu grüssen, oder mit Strafe bei Unterlassung drohten. Auf die Bitte nach seiner Telefonnummer oder einer E-Mail-Adresse verweist er auf eine Kirchgemeinde. Zukunft auf sächsisch, denke ich – und ganz schön viel Wille zur heilen Welt zwischen Dresden und Leipzig.

 

Hellblauer Himmel, dunkelblaue EU

 

Der blaue Himmel über dem Biberhof kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stimmung in Torgau insgesamt bedrückt ist. Tom – von der Tante wie ein verlorener Sohn willkommen geheissen – sei nicht zuletzt weggezogen, weil ihm in Bewerbungsgesprächen für eine Lehre in Torgau nicht das Gefühl vermittelt worden sei, wirklich gebraucht zu werden. In Leipzig sei das anders gewesen. Lediglich ein Viertel der Jugendlichen aus seiner Klasse lebe noch in Torgau. Wer fortkommen will, muss oft gehen. Und eine Existenz wie diejenige Fitzes als autodidaktischer Musiker und Tontechniker taugt auch nur für einen beschränkten Kreis von Menschen. Es ist doch nicht unter allen Umständen und vor allem für alle möglich, Freiraum zu finden.

Der Kahlschlag der Wendezeit zusammen mit dem neoliberalen Umbau der Weltwirtschaft und die darauffolgende EU-Osterweiterung haben Strukturen hervorgebracht, die eine Stadt wie Torgau zur zufälligen Durchgangsstation internationaler Waren- und Arbeitsströme macht. Weit mehr als das sichtbare Phänomen der Migration sorgt wahrscheinlich die Machtlosigkeit angesichts dieser Zusammenhänge für Unmut – erst recht, wenn illegale Machenschaften von Einheimischen wie Zugezogenen Teil des Geschäfts sind.

 

Torgau-Nordwest

 

Wie viele Plattenviertel in Ostdeutschland erfuhr auch das einst privilegierte Torgau-Nordwest mit der Wende eine dramatische Abwertung. Einfamilienhäuser und die sanierte Innenstadt als lokale Konkurrenz ebenso wie die Abwanderung in Richtung Westen sorgten für eine rapide Schrumpfung und eine nivellierende Verarmung der rasch alternden Bevölkerung. Deutsche Spätaussiedler:innen aus der ehemaligen Sowjetunion bildeten in den Neunzigern den Auftakt zu einem Reigen migrantischen Zuzugs.

 

Noch vor wenigen Jahren besuchte Tom die Oberschule in Nordwest. (© Fabian Schwitter)

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Ein Policy-Paper des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Instituts legte 2023 die Situation dar. In der Nachwendezeit fanden nicht nur Punks Freiräume, sondern auch Kapitalinteressen. Gerade die Agrarindustrie, die im Westen zunehmend unter politischem Druck steht, wandert nach Ostdeutschland ab. Die Fleischindustrie in der Umgebung Torgaus etwa rekrutiert flankiert von Subunternehmen zur Umgehung von Arbeitsrechten ohnehin marginalisierte Rom:nija aus der slowakischen Fleischindustrie und setzt sie prekären Arbeitsbedingungen aus. Die dubiose Privatisierung zweier Blöcke nach der Wende, die nun als überbelegte Billigunterkünfte dienen, passt ins Bild. Mit dem hohen Anteil prekarisierter Migrant:innen hielten dann vermehrt Drogen und Kriminalität Einzug.

 

Das alte Problem der Arbeitslosigkeit

 

Schon hundertfünfzig Jahre bevor die DDR etwas gegen Arbeitslosigkeit unternehmen würde, war dem Torgauer Handwerksmeister Carl Gottlob Löbner der charakteristische Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut in modernen Gesellschaften aufgefallen. In seiner Chronik, die der Torgauer Geschichtsverein herausgebracht hat, schreibt er:

Was aber vorzüglich die Nahrung und den Wohlstand beförderte, war wohl dies wir hatten damals wenig Fabricken und künstliche Maschienen, folglich bedurfte man mehr Menschenhände und Kräfte, welche durch die ietzigen Maschienen entbehrlich und außer Arbeit gesetzt wurden.

Die Hoffnungen, die Menschen später in den Arbeiter- und Bauernstaat setzten sollten, waren offensichtlich nicht unberechtigt. Die einstige soziale Homogenität der DDR allerdings erleichtert die Umkehrung von Ursache und Wirkung. Die Migration – ob nach Torgau oder von Torgau weg – ist nicht Ursache wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme, sondern deren Wirkung. Wie meist verbirgt auch in Torgau die wahrnehmbare Oberfläche die unbequeme Wahrheit darunter.

Rückblickend relativiert sich die Migration ohnehin. Die russischen Spätaussiedler:innen erscheinen nicht mehr als gleich fremd wie spätere Migrant:innen aus dem arabischen Raum. Vielmehr steht nun die Verbundenheit mit Russland aufgrund der DDR-Geschichte im Vordergrund und der Umstand, dass sich die russischen Spätaussiedler:innen mittlerweile in die Gesellschaft eingefügt haben. Spürbar ist eine Ungeduld in Bezug auf die neuen Migrant:innen. Torsten spricht ihnen zwar Arbeitswille zu und kritisiert auch das Arbeitsverbot für Asylsuchende. Gleichzeitig beharrt er auf der Fremdheit dieser Menschen, auch wenn er den Zuzug von Migrant:innen nach Torgau langfristig als Chance betrachtet. Fast scheint es, als nähme sich Torstens Generation in Ostdeutschland in einem Dauerprovisorium wahr. Das einstige Lebensgefühl der stagnierenden DDR steht in einem krassen Kontrast zum gegenwärtigen Lebensgefühl permanenter Umwälzung.

Zurück in die DDR möchte Torsten dennoch nicht. In der DDR sei für Arbeiter wie ihn zwar ein Auskommen, aber kein Fortkommen und kein Konsum gewesen. Der Arbeiter- und Bauernstaat blieb blosse Hoffnung. Die guten Produkte etwa, die von der DDR hergestellt worden waren, seien für Devisen in den Westen gegangen. Engagierte Menschen, merke ich einmal mehr, müssen die DDR nicht selten als Korsett empfunden haben. Die Kehrseite des Wunschs nach Fortkommen allerdings ist der Wegzug von Tom. Torsten blieb damals zur Zeit der Arbeitslosigkeit nach der Wende trotz Angeboten aus dem Westen in Torgau – nicht zuletzt der Freunde und Verwandten wegen. Sicherlich ist es schwerer geworden, die Leute zusammenzuhalten. Die eigenen gehen, fremde kommen. Gut vorstellen kann ich mir, dass sich die alternde Bevölkerung Einheimischer in Nordwest nicht nur nach der disziplinierten DDR-Gesellschaft zurücksehnt, wo Ruhe und Ordnung herrschten, sondern auch nach den Söhnen und Töchtern, die Torgau den Rücken gekehrt haben. Die Verschiebung des städtischen Paradigmas in Nordwest von Prävention- zu Ordnungspolitik allerdings wird die Fortgezogenen auch nicht mehr zurückbringen.

 

Der einzige geschlossene Jugendwerkhof der DDR

 

Gerade in Torgau müsste eine Ahnung davon in der Luft liegen, was Repression bedeutet. Schreie aus den Zellen des Jugendwerkhofs habe er jedenfalls manchmal gehört, meint Torsten, wenn sie damals als Jugendliche in der Nähe um die Häuser gezogen seien. Und einmal habe er sogar kurz durch das offene Zufahrtstor geblickt. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau war die Sackgasse des DDR-Erziehungssystems. Wer durch alle Maschen fiel, landete in Torgau. Dass häufig nicht jugendliche Schwerverbrecher:innen die maximal erlaubten sechs Monate einsassen, wurde Torsten erst nach der Wende bewusst. Aus gutem Grund redete nicht darüber, wer im Jugendwerkhof arbeitete. Und wer eingesessen hatte, wurde ohnehin mit einem Redeverbot belegt.

Der Jugendwerkhof, dessen Ziel gemäss Tagungsprotokoll der Zentralstelle für Spezialheime von 1965 darin bestand, sogenannt unangepasste Jugendliche – und mochten sie auch nur zu viele Fragen gestellt oder einer Subkultur wie den Punks angehört haben – zu einem «sozialistischen Staatsbürger» zu erziehen, glich einem Straflager mit strengster Arbeitsdisziplin. Selbst nach DDR-Recht erschien die Praxis um den Jugendwerkhof – von der oft informellen Einweisung über die demütigende, gewalttätige und vor allem kontraproduktive Pädagogik bis hin zu Vergewaltigungen – mehr als fragwürdig, zeigen Claudia Beyer, Carina Strobl und Thomas Müller in ihrer Aufarbeitung «Hier kommste nicht raus» (2016). Fast Zeit seines Bestehens – 1963 hatte Margot Honecker das ehemalige Jugendgefängnis umfunktioniert, was auch zur verzerrten Wahrnehmung des Werkhofs in der Bevölkerung beitrug – stand der Jugendwerkhof, der weit schlimmer als ein Gefängnis war, unter der Fuchtel desselben Direktors.

 

Familienwohnungen über dem Fuchsbau

 

Die Aufklärungsarbeit der eindrücklich gestalteten Gedenkstätte, die 1998 eingerichtet wurde, trägt allmählich über Torgau hinaus Früchte. Im Nachhinein ist auch Torsten schockiert, wie wenig zu DDR-Zeiten über die Machenschaften im Jugendwerkhof nach aussen gedrungen war und welche Gleichgültigkeit gegenüber den Tatsachen bisweilen heute noch herrscht. Mit Glück entging das Verwaltungsgebäude nach der Wende dem Verkauf. Die Treuhand, unter deren Verwaltung der Jugendwerkhof stand, wusste nichts mit dem Gebäude anzufangen und stiess es zugunsten von ein paar Mark ab. Im privatisierten Teil sind nun Wohnungen direkt über den Isolationszellen im Keller.

 

Karsten, Toms Vater, zog früher in der Nähe des Jugendwerkhofs um die Häuser. (© Fabian Schwitter)

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Dort schrumpfte der Freiraum der Jugendlichen im schlimmsten Fall auf die paar Quadratmeter des lichtlosen Fuchsbaus zusammen. Aufrecht zu stehen, war im niedrigen Verschlag unmöglich. Auf dem feuchten Boden zu liegen, eine Qual. Dass Fitze in der DDR noch Boxer statt Punk war, erleichtert mich angesichts dieser Bedrohung vor der Haustür. Ein Boxer wiederum, der in der Freizeit Jugendliche trainierte, habe im Jugendwerkhof als Erzieher gearbeitet, erinnert sich Torsten. Genauso wie ein Polizist, der wegen Gewalttätigkeit aus dem Dienst entlassen worden war, lernen wir in der Gedenkstätte. Dass das rigide Regime der DDR besonders anfällig für gewalttätige Methoden und Nischen brutaler Willkür war, darf allerdings nicht verhehlen, dass sich auch im Westen – und bis heute – unter dem Deckmantel des Guten Sadismus einnistet, wo insbesondere junge Menschen institutioneller Gewalt ausgeliefert sind. Die dunklen Seiten des Westens sind genauso wahr wie die Abgründe des Sozialismus.

 

Der Freiraum jenseits von Deutschlands Hausfassaden

 

Dennoch glaubt Tom zu spüren, dass die Umgangsformen in Westdeutschland sensibler seien als in Ostdeutschland, auch wenn die Ost-West-Thematik eigentlich längst keine Rolle mehr spielen sollte. In Sachen Infrastruktur dagegen könne er kaum mehr Unterschiede feststellen. Wie im Fall des Jugendwerkhofs verschwindet die Wahrheit hinter Hausfassaden und Hautfarben suggerieren kulturelle Unterschiede, wo ebenso viele Gemeinsamkeiten zu finden sind. Und selbst wenn manche gerade in Torgau eine Vergangenheit, zu der auch der Jugendwerkhof gehört, lieber vergessen und dafür die ältere Geschichte wie die Reformation in Torgau in den Vordergrund stellen würden, wird Deutschland nie verschwinden. Freiräume findet wohl nur, wer auch mit der jüngsten Geschichte Deutschlands etwas anzufangen weiss.

 

In Torgau-Nordwest führt eine Treppe ins Unterholz. (© Fabian Schwitter)

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