Krieg in aller Freundschaft: Wie die Geschäfte des Kalten Kriegs den Krieg in der Ukraine vorbereiteten

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Wladimir Putin nennt den Zerfall der Sowjetunion die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts und strebt nach ihrer territorialen Wiederherstellung. Seine Phantomschmerzen mögen das Motiv für den Krieg in der Ukraine liefern, seine Kriegskasse füllt er kaum mit starken Thesen. Die Grundlagen für diese Kasse wurden gelegt, als der heutige Präsident Russlands noch in den Strassen St. Petersburgs zu Sowjetzeiten spielte.

 

Von der Sauna zur Politik

 

Druzhba hiess es damals am russischen Abend in der Sauna im See, als die Birkenbüschel auf die Rücken klatschten, dass die dampfende Haut zu platzen drohte. Druzhba, Freundschaft. Und: Keine Politik. Kein Wort über die Bedeutung dieser Freundschaft, die Europa seit den Siebzigern vom Ural bis zum Atlantik durchzieht wie Blutbahnen. Damals muss es Herbst 2023 gewesen sein. Nach über drei Jahren Krieg in der Ukraine wird deutlich, was diese Freundschaft wirklich bedeutet. Ihre Folgen nach gut drei Jahrzehnten Friedensdividende und Illusionen sind dramatisch.

Mit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 liess sich das Dilemma, in dem Westeuropa – und allen voran Deutschland – steckte, nicht mehr verheimlichen. Von langer Hand vorbereitet nutzte erst dieses seit seinem Amtsantritt am 31. Dezember 1999 bewusst aus. Natürlich wollte kein Mensch die russische Aggressionen, die seit der Annexion der Krim 2014 offenlagen, gutheissen. Aber die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten aus Russland sorgte in ganz Europa für Zerknirschung und gebundene Hände. Um russische Einflussnahme zu unterbinden, müsste auf die ebenso bequemen wie billigen Energielieferungen aus Russland verzichtet werden. Aber seit die Angst vor Russland mit dem Ende des Kalten Kriegs im Rauch von verbranntem Erdöl und -gas aufgegangen war, hatten sich alle an das Brummen der Motoren einer florierenden Wirtschaft gewöhnt. Und womit sollten die Menschen im Winter auch ihre Häuser heizen?

 

Winterliche Behaglichkeit ist keine Selbstverständlichkeit, wie der Fotograf Oleksandr Pidvalnyi aus dem ukrainischen Kherson wahrscheinlich nur allzu gut weiss. (© Oleksandr Pidvalnyi, pixabay.com)

 

Alternative Gaslieferungen sind weder technisch noch moralisch ohne Anstrengung zu bewerkstelligen. Kommt es nicht durch Röhren, müssen Tanker das Gas bringen. Dazu sind Flüssiggasterminals erforderlich, deren Kapazität zumindest in Deutschland anfänglich viel zu gering waren, als dass sie das russische Gas hätten ersetzen können. Nach dem Beginn offener Kriegshandlungen in der Ukraine versiegten die direkten Importe aus Russland über die Nordstream-Pipelines ab Sommer 2022 aber. Der Anschlag auf die Nordstream-Pipelines mutmasslich durch ukrainische Spezialkräfte sorgte bezüglich eines zukünftigen Direktimports von russischem Gas nach Deutschland für Tatsachen.

Mangelte es in Europa an Entschlossenheit bezüglich der Gasimporte aus Russland, versuchte dafür Russland mit Lieferstopps etwa nach Polen Druck auszuüben. Teile des osteuropäischen Pipeline-Netzes mit Verbindung nach Russland blieben aber in Betrieb. Und gerade Flüssiggas aus Russland gelangt über andere EU-Länder auch nach Deutschland. Ein Embargo der EU für russisches Gas gibt es bislang nicht. Also strömt nach wie vor Gas aus Sibirien und finanziert damit Putins euphemistische «Spezialoperation» in der Ukraine. Die Flüssiggastanker wiederum könnten gut und gerne auch einmal aus dem Iran kommen. Ein Land, das bislang – wie Nord-Korea, auf das noch zurückzukommen sein wird – zur sogenannten Achse des Bösen zählte. Die globalen Rohstoffströme mittels Schattenflotten, die obendrein ein erhebliches Umweltrisiko darstellen, sind nur schwer zu kontrollieren.

 

Sowjetische Infrastruktur für die internationale Freundschaft

 

Die Pipelines aus Russland, an denen so viel hängt, nahmen ihren Anfang in den Sechzigerjahren. Wollte die Sowjetunion zunächst ihre westlichen Republiken – zum Beispiel die Ukraine – mit Rohstoffen versorgen, sollten in der Folge auch die Staaten des Warschauer Pakts – wie die DDR – in den Genuss von Lieferungen aus Russland kommen. Klar war jedoch auch, dass die Sowjetunion beim Bau ihres Pipeline-Netzes auf Hilfe aus dem Westen angewiesen sein würde. Erst die Aussicht, Gas nach Westeuropa zu liefern, ermöglichte überhaupt den Beginn dieses gigantischen Infrastrukturprojekts.

Um die Lasten zu verteilen und den Bau zu beschleunigen, teilte die Sowjetunion die Abschnitte auf die Bruderländer auf, die im Gegenzug für ihre Vorleistung günstig Gas beziehen können sollten. Diese Sonderkonditionen sind noch vom Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ab 2005 bekannt. Von den 2750 Kilometern der Sojus-Pipeline von Orenburg im Südural bis an die Westgrenze wurden der DDR gut 500 Kilometer von Krementschuk nach Bar in der Ukraine übertragen. Dass zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Front in diesem Gebiet mehrfach hin- und hergewechselt hatte, wieder Menschen aus Deutschland auftauchen sollten, verlangte zweifelsohne nach einer Bekräftigung der neuen Völkerfreundschaft. Folgerichtig erhielt der Abschnitt, für den die DDR die Verantwortung trug, den klingenden Namen Druzhba-Trasse: Freundschaftstrasse.

 

Schlichter, als in der Grafik des russischen Designers Alexey Hulsov, ist die Situation, die ab den Sechzigern einzutreten begann, nicht auf den Punkt zu bringen. Richtig problematisch wurde diese jedoch erst nach der Gründung der Europäischen Union. (©, Alexey Hulsov, pixabay.com)

 

Aufzeichnungen des Arbeitsalltags und Erinnerungen ehemaliger Arbeiter:innen fügte der Regisseur Matthias Schmidt am Vorabend des Ukraine-Kriegs zum Film «Jahrhundertbauwerk Trasse – Wie das russische Erdgas in den Westen kam» zusammen. Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verwandelte sich die freundschaftliche Nostalgie um den Trassenbau zwangsläufig in Brisanz. Nach seiner Erstausstrahlung bei der ARD im Herbst 2021 wurde der Film drei Jahre später, der Krieg in der Ukraine dauerte immer noch an, bei Arte noch einmal gezeigt.

 

Widersprüche des Sozialismus und Profite im Westen

 

Während die Bauarbeiten von den sozialistischen Bruderstaaten mit dem propagandistischen Pomp eingeläutet wurden, der bei solchen Anlässen üblich ist, rieb sich die westliche Industrie im Stillen die Hände. Dass jegliche Zeichen – bisweilen auch im Nachhinein – entfernt werden mussten, die etwa die Herkunft der Rohre für das Baupersonal aus der DDR kenntlich gemacht hätten, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass die Rohre mit ihrem stattlichen Durchmesser von knapp eineinhalb Metern aus dem Westen kommen mussten. Dasselbe gilt für die riesigen Baumaschinen, die nötig waren, um ein Vorhaben dieser Grössenordnung anzugehen. Das Geschäft begann auch für die Firmen im Westen lange bevor das erste Gas nach Westeuropa gelangte.

Die Abhängigkeit der sozialistischen Staaten vom Westen, wenn es um Material und Technologie ging, sollte selbstverständlich in keinster Weise zum Ausdruck kommen. Das hätte dem Bild, das der stolze Sozialismus von sich zeichnen wollte, allzu sehr widersprochen. Die Hoffnung, dass sich mit diesen Infrastrukturprojekten auch der Westen vom Osten abhängig machen würde, rechtfertigte vielleicht schon damals solch klägliche Massnahmen. Und zur Rettung der Sowjetunion im ökonomischen Wettlauf zwischen Ost und West waren erst einmal alle Mittel recht. Sicherlich würden die Gaslieferungen die sowjetischen Finanzen entlasten und das Fortbestehen der Sowjetunion etwas verlängern, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte.

 

Vermittelte Bilder und Realitäten vor Ort

 

Dass Anspruch und Wirklichkeit nicht unbedingt deckungsgleich sein mussten, war für die Menschen, die in der DDR für das Projekt rekrutiert worden waren, sicher nichts Neues. Wie sehr die Realität jedoch hinter den propagandistischen Parolen herhinken konnte, überraschte sogar die abgeordneten Arbeiter:innen. Insgesamt arbeiteten ab Mitte der Siebzigerjahre bis zum Ende der DDR rund 25’000 Menschen an verschiedenen Öl- und Gasleitungsprojekten in der Sowjetunion. Noch vor der Abreise einen Maulkorb bezüglich der Erlebnisse in der Sowjetunion verpasst zu kriegen, war vielleicht auch nicht unüblich. Die Gründe dafür machten allerdings erst die Zustände vor Ort so richtig begreiflich.

 

Maschinen wie diese chinesischen Röhrenverleger mussten damals noch aus dem Westen kommen. (© samulsgk, pixabay.com)

 

Die gut ausgebildeten Fachkräfte aus dem Kronjuwel des Warschauer Pakts, die womöglich noch über Verwandtschaft im Westen verfügten und im Gegensatz zu ihren sowjetischen Genoss:innen über den Wohlstand und die Moden im Westen im Bild waren, trafen im unwirtlichen Baugelände in der Zentralukraine auf einfache Menschen. Vermeintlich selbstverständliche Annehmlichkeiten wie Strom oder fliessendes Wasser hielten in manchen Dörfern in diesen Gegenden mit den Bauleuten der Druzhba-Trasse Einzug. Auch geteerte Strassen wurden erst mit den mächtigen Baumaschinen zur Notwendigkeit. Für Fuhrwerke waren sie nicht nötig. Die Gestalten in den armen Dörfern lebten von dem, was ihr Land hergab, und bebauten es eigenhändig.

So recht wollte diese Realität nicht zu einer Weltraum- und Atomnation passen. Die mächtige Sowjetunion erwies sich bei genauerer Betrachtung als ein Haufen armer Bauern. Dass dieses Land dennoch in der Lage war, eine riesige Armee zu unterhalten und bei Bedarf unzählige Panzer zu schicken, um Aufstände in den Bruderländern des Warschauer Pakt zu unterdrücken, mutete bestimmt befremdlich an. Manch einem am Bau der Trasse beteiligten Menschen aus der DDR musste ob des Propagandaspruchs mulmig geworden sein: «Von der Sowjetunion lernen, heisst siegen lernen.»

 

Zuckerbrot und Peitsche

 

Auch die Arbeitsbedingungen waren weit weniger annehmlich als die Romantik einer Reise in den wilden Osten vielleicht versprochen hatte. In der Unwirtlichkeit der menschenleeren Gegenden wurde unter der unerbittlichen Fuchtel des Plansolls zehn oder mehr Stunden am Tag gearbeitet. Die Temperaturen schwankten zwischen 40 Grad im Sommer und -40 Grad im Winter. Heimaturlaub gab es nur bei Erfüllung des Solls. Lagerkoller und Alkoholismus waren keine Seltenheit. Unter die Männergesellschaft mischten sich nur wenige abgebrühte Frauen.

Erinnern solche Bedingungen zumindest entfernt an die sowjetische Parforce-Industrialisierung in den Dreissiger- und Vierzigerjahren, stellte die Arbeit an der Trasse dennoch ein verlockendes Angebot für junge Menschen in der DDR dar. Gelegenheiten zu reisen, boten sich im repressiven Ostblock nicht viele. Die Bezahlung lag weit über dem, was ansonsten in der DDR zu erwirtschaften war. Und zusätzlich winkten Vergünstigungen wie etwa eine drastische Verkürzung der Wartefrist für ein Auto nach Wahl (Trabant oder Wartburg) oder Einkäufe aus dem Genex-Katalog (Westprodukte).

 

Beim Bau des Weissmeer-Ostsee-Kanals kamen Tausende von Zwangsarbeiter:innen zum Einsatz. Nicht zuletzt deswegen waren die vielen Verurteilungen unter Stalin nötig. Der Gulag bildete damals das Fundament der sowjetischen Wirtschaft. (Public Domain)

 

Auch verbindend wirkte die gemeinsame Arbeit allemal. Insofern rechtfertigte das Projekt seinen Namen – Freundschaftstrasse – durchaus. Deutlich tritt in den Erinnerungen der Arbeiter:innen hervor, dass die Kriege der Mächtigen sie eigentlich wenig angehen. Verständigung ist jederzeit möglich. Schliesslich bauten die Arbeiter:innen aus der DDR nicht nur Gasleitungen, sondern auch Wohnhäuser und zivile Infrastruktur für die zukünftigen Betreiber:innen der Pipeline. Wie die Trasse selbst bestehen auch diese Baudenkmäler fort.

 

Ein Gleichgewicht mit Gefälle

 

Was dabei half, den Kalten Krieg zu überwinden – die wirtschaftliche Kooperation zwischen Ost und West –, sollte die Grundlagen für die nächste Konfrontation schaffen. Und die Erfahrungen der Arbeiter:innen aus der DDR während ihres Aufenthalts in der Sowjetunion erklären auch, was einer neuerlichen Konfrontation zwischen Ost und West zugrunde liegt. Zu gross ist das Gefälle zwischen den äusserst dichten industriellen Zentren im Westen und den kaum zu entwickelnden Weiten im Osten. Zu gross ist Russland selbst, als dass es mit dem kleinräumigen Europa bislang reibungslos hätte koexistieren können.

Bestand bezüglich der durchschnittlichen Produktivität – sowohl in technologischer als auch in personeller Hinsicht – offenbar schon zwischen der DDR und der Sowjetunion ein merkliches Gefälle, so galt dies erst recht im Verhältnis der Sowjetunion zu Westeuropa bzw. den Vereinigten Staaten von Amerika. Für ihr Atomprogramm waren die Vereinigten Staaten in der Lage, noch während des Zweiten Weltkriegs abgesehen von weiterer Infrastruktur sowohl eine umfangreiche Anlage zur Urananreicherung als auch eine zur Plutoniumerzeugung gleichzeitig zu betreiben, um bei ihren Versuchen möglichst rasch und erfolgsversprechend voranzukommen. Der Bau der sowjetischen Atombombe dagegen gelang nicht zuletzt dank Wissenschaftler:innen, die amerikanische Geheimnisse an die Sowjetunion verrieten. Und als die Amerikaner:innen auf die sowjetischen Raumfahrtserfolge aufmerksam wurden, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie mit der ersten bemannten Mondlandung 1969 die Sowjetunion überflügeln sollten.

 

Das Manhattan Project, das US-amerikanische Atomprogramm während des Zweiten Weltkriegs, vereinigte eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen und Fabriken, wie das Werk zur Urananreicherung in Oak Ridge, unter sich. Hunderttausende Menschen arbeiteten an der amerikanischen Atombombe. (Public Domain)

 

Die Atombomben erzeugten – bis heute – ein Machtgleichgewicht, das die ökonomische Ungleichheit nur notdürftig kaschiert. Der Soziologe Steffen Mau zitierte in seinem jüngsten Buch über das wiedervereinigten Deutschland «Ungleich vereint» (2024) den Schriftsteller Uwe Johnson, der von einer «Einbildung der Minderwertigkeit» geschrieben habe, «mit der die DDR ihre Leute angesteckt» habe. Gerade gegen das Ende der DDR hin, sei «der Systemvergleich bei Konsum und Wohlstand auf ganzer Linie zuungunsten Ostdeutschlands» ausgegangen. Ist schon zwischen Ost- und Westdeutschland offenbar ein signifikantes Gefälle festzustellen, gilt das umso mehr mit Blick auf die ehemalige Sowjetunion.

 

Industrialisierung der Unendlichkeit

 

Schon historisch stand den hochindustrialisierten Reichen Westeuropas – insbesondere Grossbritannien und Frankreich – das weitgehend agrarische Zarenreich gegenüber. Wie schwer dieses weitläufige Reich als Ganzes zu industrialisieren war, illustrieren nur schon die unwirtlichen Arbeitsbedingungen beim Bau der Druzhba-Trasse. Dass die proletarische Revolution entgegen allen Vorhersagen Marx’ ausgerechnet in Russland stattfinden sollte, wo es gar kein nennenswertes Proletariat gab, ist eine Anomalie, die immer wieder herausgestrichen wird. Die stalinistische Diktatur wiederum erscheint fast als zwangsläufige Folge dieses Missverständnisses.

Russland konnte nicht von den Früchten der Industrialisierung profitieren, wie die marxistische Theorie sie zur Befreiung der Menschen vorausgesetzt hatte, sondern musste die Industrialisierung unter Gewalt erst erzwingen. Brachte Stalins forcierte Industrialisierung, die nicht zuletzt auf Zwangsarbeit vor allem bei grossangelegten Infrastrukturprojekten wie dem Bau des Weissmeer-Ostsee-Kanals ab 1931 basierte, auch Achtungserfolge etwa in der Raumfahrt hervor, widerspiegeln diese nicht annähernd die sowjetische Realität im Ganzen.

 

Europa und Russland

 

Wenn es um Kultur ging, blickten die russischen Eliten, auch angebunden an den europäischen Kulturraum durch den christlichen Glauben, nach Westen. Wenn es jedoch um imperiale Ausdehnung ging, stand ihnen ohne direkten Zugang zu den Weltmeeren nur das dünn besiedelte Hinterland offen. Hinter der Fassade der europäischen Städte Moskau und St. Petersburg erstreckt sich ein immenses Niemandsland bis zum Pazifik, als wäre ganz Russland ein potemkinsches Dorf. Hatte Russland mit seiner weitentfernten Hauptstadt jedoch nie so richtig zum westeuropäischen Ballungsraum mit seiner ungeheuren Bevölkerungsdichte gehört, stellte es auch jederzeit das unüberwindliche Hindernis für alle Expansionslustigen dar, auch wenn die westeuropäischen Armeen Napoleons oder Hitlers moderner gewesen sein mögen. Die Hass-Liebe Russlands zu Europa liegt auf der Hand – und umgekehrt wahrscheinlich auch.

 

Im Bild Stanislaw Rostworowskis aus dem späten 19. Jahrhundert nimmt Zar Iwan IV. die Botschaft von der Eroberung Sibiriens entgegen. Seit der Zeit Iwans des IV., auch der Schreckliche genannt, im 16. Jahrhundert blicken die russischen Machthaber:innen nach Osten. (Gemeinfrei)

 

Der westliche Chauvinismus gegenüber den sowjetischen Habenichtsen nach dem Ende des Kalten Kriegs wird vor dem Hintergrund der Geschichte um den Trassenbau nachvollziehbar, wenn auch nicht gerechtfertigt. Denn gerade aufgrund des Gefälles einerseits und seiner schieren Grösse andererseits bleibt Russland eine Herausforderung. Die russische Rede von der Dekadenz des Westens trifft nicht zu, weil der Westen gesellschaftliche Freiheiten auf Minderheiten wie die LGBTQIA+-Community auszuweiten in der Lage ist, sondern weil der westeuropäische Wohlstand den Menschen jegliche Kriegsführung im grösseren Massstab als vollkommen abwegig erscheinen lässt. Da erscheint es dann als Segen, dass sich in der Ukraine Menschen finden, die den Westeuropäer:innen diese Last abnehmen. Einen tragfähigen Umgang mit diesen Tatsachen zu finden, steht noch aus.

 

Wer sind eigentlich die Soldaten und wo kommen sie her?

 

Aus dem Niemandsland hinter dem Ural – und mittlerweile sogar aus Nord-Korea – rekrutiert der Kreml seine Soldat:innen. Die unpopuläre «Spezialoperation» bestreitet er nicht mit einberufenen Rekrut:innen, sondern mit entlöhnten Freiwilligen. Stehen ihm zur Finanzierung seiner Armee einerseits die Rubel aus den Gas- und Ölexporten zur Verfügung, ist der Krieg nur zu führen, weil im Osten ausreichend arme und perspektivlose Menschen leben, die von der Welt wenig wissen. Sie sind bereit für eine läppische Risikoprämie in der Ukraine zu sterben. Und dass die russische Kriegsführung auf einer Kanonenfutter-Taktik beruht, dürfte spätestens nach der Schlacht um Bachmut zwischen August 2022 und Mai 2023 klar sein.

Die Rücksichtslosigkeit in der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft hat seit jeher Russlands – militärische – Stärke begründet. Und eine gehörige Portion Patriotismus hat im Verteidigungsfall jederzeit geholfen, die hochgerüsteten Armeen des Westens zurückzuschlagen. In diesem Sinn ist Russland mit seiner riesigen Landmasse womöglich noch auf unabsehbare Zeit unbesiegbar. Dass dies im Umkehrschluss jedoch nicht heisst, die russische Armee sei in der Lage Russland nach Gutdünken zu verlassen und in Westeuropa einzufallen, ist gerade in Ostdeutschland eine Einsicht, der zu wenig getraut wird.

 

Bis heute sieht die russische Kriegsführung oft so aus, dass einfache Soldaten vorwärtspreschen. Die Sowjetunion hatte während des Zweiten Weltkriegs im Vergleich mit der deutschen Wehrmacht wahrscheinlich rund dreimal so hohe Verluste an Soldat:innen im deutsch-sowjetischen Krieg zu beklagen. (Gemeinfrei)

 

Hier dominiert – in den älteren Generationen – das Paradox der erwähnten Hassliebe. Hier illustriert bei allem Wissen um die Tatsachen ein alter Witz, welche Ängste gegenüber Russland fortherrschen: Der Russe saufe Salzsäure und pinkle Löcher in den Beton. Wer im Vergleich mit Westeuropa nichts zu verlieren hat, entwickelt übermenschliche Kräfte. So bleibt das Kriegführen jederzeit eine Option. Da hilft es wenig, dass «der Russe» umgekehrt in den Augen der ostdeutschen Bevölkerung nicht selten der «Muschkote» gewesen sei: ein einfacher Musketier ohne Sinn und Verstand. Auch die Demütigung des antislawischen Rassismus wird – zumindest bei den Machthaber:innen – die Glut des russischen Zorns nähren. Und «Muschkoten», das ist seit dem Zweiten Weltkrieg bekannt und bestätigt sich in der Ukraine erneut, lassen sich auf dem Schlachtfeld prächtig verheizen. Wie man es dreht und wendet: Vor Russland haben die Menschen Angst, ob die russischen Soldaten nun Kanonenfutter oder Übermenschen sind. Also votieren viele Menschen in Ostdeutschland für Beschwichtigung, weil alles andere ihrer Meinung nach nicht helfen wird. Diese Haltung – erinnert sei an Johnsons «Einbildung der Minderwertigkeit» – lässt sich dann zur Selbstrechtfertigung auch noch als friedliebend verkaufen.

 

Von der Politik zur Sauna

 

Die staunenden Arbeiter:innen aus der DDR jedenfalls standen beim Bau der Druzhba-Trasse vor den wesentlichen zwei Komponenten, die Russland zur Führung ihres Kriegs im 21. Jahrhundert befähigen sollten und entwickelten diese mit dem Bau der Pipeline, ohne es ahnen zu können, sogar mit: Rostoffrubel und Armut. Wurde die Druzhba-Pipeline Anfang 2025 auch abgeschaltet, ist es kaum verwunderlich, dass etwa aus Ungarn wieder Stimmen laut werden, die eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch die Ukraine nach Europa fordern. Sollte es im Winter auch in Westeuropa dereinst zu kalt werden, steht immer noch die Sauna zur Verfügung, um unter lauten Druzhba-Schreien all diese Zusammenhänge zu vergessen. Klatschen dann die Birkenbüschel wieder auf die Rücken, mag das alte Ritual der Selbstgeisselung das schlechte Gewissen übertönen oder eine Ahnung von der Kraft der Leidensbereitschaft wecken.

 

 

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