Kinderbetreuung als Staatsräson: Wochenkrippen in der DDR

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Die staatliche Fremdbetreuung von Kindern war eines der Aushängeschilder des Sozialismus. Längst nicht jede Form dieser Betreuung jedoch ist ein Segen. Ermöglichten Krippen den Müttern eine Erwerbsarbeit, ging das vor allem in den sogenannten Wochenkrippen nicht selten zulasten der Kinder.

 

Bilder der Vergangenheit ragen in die Gegenwart

 

Unerreichbar schaut das Fenster auf das Kind herab. Unerreichbar bleibt die Welt für das Kind. Immer unerreichbarer werden dem Kind im kahlen Raum die Eltern, bis es sie womöglich vergisst. Vergessen muss, um den Schmerz der Trennung zu verkraften. Auf dem Boden liegt ein Teddybär so verlassen, wie das Kind unter dem Fenster steht.

 

Sinnbildlich für die Situation der Kinder wählt Heike Liebsch in ihrem Bild «Zu kleine Flügel» das Motiv des unerreichbaren Fensters. Liebsch kam mit sechs Wochen in die Wochenkrippe. (© Heike Liebsch, Fotografie Fabian Schwitter)

 

Mehrfach taucht das Motiv des Fensters in der Ausstellung «ferne nähe – Reflexionen ehemaliger Wochenkinder» im Dresdner Kunsthaus Raskolnikow auf und verleiht der beklemmenden Realität der sogenannten Wochenkinder Ausdruck. In den Wochenkrippen der DDR blieben hunderttausende Kinder unter der Woche Tag und Nacht fremdbetreut. Bereits sechs Wochen nach der Geburt kamen manche in die Einrichtung.

 

Auch bei Karin Bethin drückt das Fenster die «Sehnsucht» aus, die dem Bild seinen Titel gibt. Bethin kam mit sechs Wochen in die Wochenkrippe. (© Karin Bethin, Fotografie Fabian Schwitter)

 

Wie ein Fenster in die Zeit erscheint auch das Raskolnikow. Die schäbige Fassade erinnert an das graue Ende der DDR. Aus der maroden Konkursmasse der Dresdner Neustadt gerettet, beherbergt die Böhmische Strasse 34 auch über dreissig Jahre nach der Wende noch einen erfolgreichen Gastronomiebetrieb sowie Ateliers und einen Ausstellungsraum. Eine dämmriger Treppenaufgang führt in den ersten Stock zur Ausstellung.

 

Mit dem Bild «Selbst als Kind» imaginiert Regina Grahl die kindliche Verzweiflung. Grahl kam mit sechs Wochen in die Wochenkrippe. (© Regina Grahl, Fotografie Fabian Schwitter)

 

Unscheinbar wie ein Säugling ist der Raum. Aber in ihrer Ausdrucksstärke gleichen manche Werke nicht nur einem schreienden Kind, Regina Grahl bildet den Schrei auch gleich gespenstisch deutlich ab. Sowohl der Blick zurück auf die Gespenster der Vergangenheit als auch die Anerkennung der Tatsachen ist längst fällig. Vielleicht helfen die Werke der Erwachsenen heute, die Wunden der kindlichen Vergangenheit zu heilen und die familiären Beziehungen zu kitten, die durch die Fremdbetreuung der Kleinsten bisweilen auch die Verbindung der Eltern in Mitleidenschaft gezogen haben dürfte.

 

Die Verlassenheit der einzelnen Familienmitglieder zeigt sich in Regina Grahls Bild «Mutter war schon immer fort». (© Regina Grahl, Fotografie Fabian Schwitter)

 

Ein weiteres Bild Regina Grahls zeugt von der Verlassenheit in manchen Familien. Transgenerationelle Traumata mögen das Abgeben der Kinder erleichtert haben, Kriegs- und Vertreibungserlebnisse in der Eltern- und Grosselterngeneration. Die wochenweise Ausgliederung von Säuglingen und Kleinkindern jedoch hat kaum dazu beigetragen, diese Traumata zu überwinden. Vielmehr perpetuierte sie Abstand und Bindungslosigkeit, nährte schlechte Gewissen und liess haltlose Menschen aufwachsen. «Ständig muss ich mir und anderen beweisen, dass ich einen Nutzen habe, der mir das Recht gibt, zu leben», schreibt Heike Liebsch im Ausstellungskatalog.

 

Im Osten, aber auch im Westen

 

Was in der DDR und anderen sozialistischen Ländern zum Massenphänomen wurde, war jedoch weder auf den Warschauer Pakt beschränkt noch eigneten sich alle osteuropäischen Länder das sowjetische Modell an, betont Heike Liebsch in ihrem Buch «Wochenkinder in der DDR» (2023). Auch in der BRD oder der Schweiz wurden Kinder, etwa wenn Mütter alleinerziehend waren, fremdplatziert, obwohl das in vielen Fällen nicht nötig gewesen wären. In der Schweiz kulminierte die Aufarbeitung um das düstere Kapitel der sogenannten «Verdingkinder» im öffentlichkeitswirksamen Film «Der Verdingbub» (2011). Kamen fremdplatzierte Kinder in Familien, fristeten sie nicht zwingend ein besseres Dasein als Heimkinder, dienten sie doch oft auf Bauernhöfen als schutzlose Arbeitskräfte. In Ungarn und Bulgarien wiederum setzte sich die Wochenbetreuung trotz sozialistischer Staatsführungen nicht durch. In der DDR allerdings fanden Wochenkrippen weite Verbreitung und besonders rigide Ausgestaltung.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bestand wegen der vielen versehrten Familien ein hoher Bedarf an umfassender Unterbringung für Kinder. Elternteile – oft Väter, die im Krieg gefallen waren – fehlten. Nahmen Unterbringungsformen wie die Wochenkrippen in der DDR bis Mitte der Sechzigerjahre aus ökonomischen und ideologischen Überlegungen zu, besuchten am Ende der DDR noch gut ein Prozent der fremdbetreuten Kinder eine Wochenkrippe. Nicht zuletzt der Auswirkungen dieser Wochenkrippen wegen jedoch ist das Krippenwesen der DDR in jüngster Zeit Gegenstand einer öffentlichen Aufarbeitung über Fachkreise hinaus geworden.

 

Das Raskolnikow in der Böhmischen Strasse 34. (© Fabian Schwitter)

 

Einerseits verschaffen sich Betroffene seit einiger Zeit – durch das oft schambehaftete Schweigen in den Familien hindurch – mit künstlerischen Werken Gehör. Der grossen Ausstellung «abgegeben – Wochenkrippen in der DDR» 2023 in der Kunsthalle Rostock folgte im Herbst 2024 die intimere Schau im Dresdner Raskolnikow. Zur gleichen Zeit feierte das Theaterstück «Winterkind – Born in the GDR» Premiere. Seit letztem Sommer organisieren sich Betroffene überdies im Wochenkinder e. V., der Selbsthilfeinitiativen bündelt, die Aufarbeitung der Wochenkrippengeschichte vorantreibt und Veranstaltungen organisiert.

Andererseits sorgt die wissenschaftliche Aufarbeitung für Kontroversen, die selbst vor der Bundeszentrale für Politische Bildung und dem Aufrechnen von Kindheitstraumata in Ost und West nicht Halt machen. Schliesslich prägt die Kriegsvergangenheit bis heute beide Landesteile. Und die pädagogischen Vorstellungen Mitte des 20. Jahrhunderts waren auch im Westen nicht über alle Zweifel erhaben. Mit dem Buch «Die beschädigte Kindheit» (2022) machte der Erfurter Erziehungswissenschaftler Florian von Rosenberg, der Liebsch mit ihrem Buch promovierte, die historischen Zusammenhänge in der DDR zudem einem breiten Publikum zugänglich. Immer deutlicher werden die gesellschaftlichen Umstände, unter denen Wochenkrippen im Namen des Staats in den ersten Jahrzehnten der DDR um sich gegriffen hatten.

 

Als es Heime brauchte

 

Rasch erfolgt die Übergabe am Eingang der Krippe. Den Eltern bleibt der Zutritt verwehrt. Der Trennungsschmerz des Kindes und die Zustände in der Krippe sollen sie nicht beeinträchtigen, wenn sie zur Arbeit fahren oder studieren. Das Kind ist auf sich allein gestellt.

Dem neuen Staat fehlen – kriegs- und fluchtbedingt – ständig Hände und Köpfe. Die DDR hinkt im ökonomischen Wettlauf mit der BRD, die durch den Marshall-Plan bald grosszügig unterstützt wird, von Anfang an hinterher. Die UdSSR dagegen hat nach dem Krieg als Reparation mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Männer wie Frauen sollen sich nun tatkräftig am Aufbau des Sozialismus beteiligen oder im Dienst des Staats studieren. Und dann gilt dem Sozialismus die Frau dank entlöhnter Arbeit als emanzipiert, sodass der Ausbau des Krippenwesens nach sowjetischem Vorbild beharrlich vorangetrieben wird.

Vielleicht liegt das Kind in einem Bettchen, starrt an die Decke. Vielleicht ist es nachts mit Lederriemen fixiert, damit es in einem Schlafsaal mit dreissig anderen Kindern, für die eine einzige Pflegerin zuständig ist, nicht aus dem Bett fällt.

 

Als versperrten die tragenden Balken im kleinen Ausstellungsraum wie Gitterstäbe den Weg zu den unerreichbaren Fenstern. (© Fabian Schwitter)

 

Zu Beginn prägt ein klinisches Paradigma das Krippenwesen der DDR. Insbesondere in den entbehrungsreichen Jahren nach dem Krieg steht die körperliche Versorgung im Vordergrund. Wickeln, füttern, schlafen. Sinnbildlich dafür ist die Administration der Kinderkrippen durch das Gesundheitsministerium bis 1965. Erst danach kamen die Kinderkrippen wie die Kindergärten in die Obhut des Bildungsministeriums.

Vielleicht leidet das Kind an Appetitlosigkeit. Vielleicht tut es sich schwer mit dem Essen. Seinen Kummer kann es noch nicht in Worte fassen. Weinen, hat es gelernt, hilft nicht, weil so viele Kinder nach Aufmerksamkeit haschen.

Im fieberhaften Aufbau des Sozialismus greift die industrielle Rationalisierung auf den Umgang mit Kindern über. Wie sonst soll Fremdbetreuung mehr Arbeitskräfte freisetzen als sie bindet? Die Umstände passen gut zur einst angesagten Pädagogik der Abhärtung: Nur nicht zu schnell nach dem Kind schauen, wenn es schreit. Zudem liebäugelt die autoritäre Staatsführung unter Bezugnahme auf Pawlows Reflexforschungen mit der Heranzüchtung kontrollierbarer Sozialist:innen und der theoretisch vorausgesagten Auflösung der Kleinfamilie in der sozialistischen Gemeinschaft.

Aber das Kind. Es wirkt kränklich, spricht kaum. Die Eltern nehmen es am Wochenende verstört in Empfang. Vielleicht zweifeln sie insgeheim an ihrem Handeln. Die Kinderärztin stellt fest, wie unbeholfen sie mit dem Kind umgehen.

 

So geht das nicht, Frau Ministerin. Doch!

 

Bereits in der DDR äussern Kinderärzt:innen und Wissenschaftler:innen Kritik. Insbesondere die Wochenkrippen halten nicht, was sie versprechen. Zudem gelten Fremdplatzierungen bei der Arbeiter:innenschaft traditionell als fürsorgerisches Armutsstigma. Warum also die Kinder dem Staat überlassen? Dieser bemüht sich, die skeptische Bevölkerung mit den Argumenten zu überzeugen, dass geschultes Personal die Kinder besser als Eltern zu versorgen in der Lage sei und die wissenschaftliche Begleitung ständigen Fortschritt sichere.

Mögen Tageskrippen den Verheissungen entsprechen, strafen die Wochenkrippen alle Versprechungen Lügen. Die Kinder hinken in ihrer Entwicklung hinterher. Sie sind häufig krank. Das Phänomen des Hospitalismus, unablässige stereotype Bewegungen, geistert durch die Wochenkrippen. Trotz aller Erkenntnisse hält der Staat an seinem Programm fest und immunisiert sich gegen Kritik, indem er auf die korrekte Umsetzung der theoretischen Postulate in der Zukunft verweist. Dann würden die Früchte des Betreuungssystems zu ernten sein und die Überlegenheit des Sozialismus feststehen.

 

Das Fenster kehrt auch in Carola Schultz‘ enigmatischem Bild «1961» wieder. Als erinnerten sie an die leeren Versprechungen der Krippenerziehung, hängen die Treppen im leeren Raum. Schultz kam mit sechs Wochen in die Wochenkrippe. (© Carola Schultz, Fotografie Fabian Schwitter)

 

Teilnahmslos sitzt das Kind auf dem Boden. Spielsachen sind spärlich. Karg ist der Alltag des Kindes. Die Wände sind grau, das Fenster… Vielleicht schaukelt das Kind ununterbrochen mit dem Oberkörper vor und zurück.

Der forcierte Ausbau des Krippenwesens führt überall zu Engpässen. Es mangelt an – gut ausgebildetem – Personal. Die Gebäude sind dürftig und ausgesprochen heterogen in ihrer Ausstattung. Von eigens erstellten Zweckbauten bis zu alten Villen ist alles zu finden. Die Fluktuation beim Personal ist hoch. Die Arbeit ist nervenzehrend und schlecht bezahlt.

Woran soll sich das Kind, dem Mal für Mal der Boden unter den Füssen weggezogen wird, halten? Das Kind hat die Vertrauensbeziehung zu den Eltern verloren und zieht sich in sich selbst zurück. Vielleicht reagiert es schon gar nicht mehr, als wieder eine Pflegerin die Krippe verlässt.

 

 

Rosenberg führt eine Studie des DDR-Krippenforschers Karl Zwiener aus den Siebzigern an, wonach «die Kleinsten der Krippe nur knappe 20 Minuten am Tag individuelle, direkte Zuwendung erfahren.» Gleichzeitig folgen immer mehr Frauen dem Aufruf zur Arbeit und lassen ihre Kinder fremdbetreuen. Noch 1989 wird der Staat rund 30’000 Anträgen auf einen Krippenplatz nicht entsprechen können, hält Liebsch fest.

Das Kind fügt sich einem fremden Rhythmus. Vorgegeben sind die Esszeiten. Vorgegeben sind die Töpfchenzeiten. Vorgegeben sind die Schlafzeiten. Das Kind wird vielleicht apathisch. Oder aggressiv.

 

Selbsthilfe statt Schubladen

 

Zwei Hände bemühen sich in Christine Berndts Videoinstallation, eine Schublade zu schliessen. In einer Wand voller Schubladen ist sie eine unter vielen. Seltsam versetzt läuft die Tonspur der Schiebegeräusche zu den Bewegungen, die bald beschleunigen und rückwärtslaufen, als wolle sich die Schublade ihrer Zweckdienlichkeit und den manipulierenden Händen widersetzen. Wie kaum ein anderes Werk in der Ausstellung fängt Berndts dreieinhalbminütiger Film die Abfertigungsatmosphäre in den Wochenkrippen der ersten Jahrzehnte in der DDR und den ohnmächtigen Widerstand der Kinder ein.

Der Ausschreibung für die Ausstellung, die über Selbsthilfegruppen kommuniziert wurde, folgten über fünfzig Menschen, erzählt die Kuratorin Iduna. Diese Selbsthilfegruppen sind ein Ort, das Schweigen zu brechen. Nicht selten ist das Thema in den Familien tabuisiert. «Das war halt so», ist eine gängige Haltung. Dennoch ahnte wohl so mancher Elternteil, dass diese Form der Betreuung dem Kind – und wahrscheinlich auch den Eltern selbst – nicht zuträglich ist. Und dennoch liessen es so viele Eltern geschehen. Entsprechend gross ist die Scham, die noch heute zu Sprachlosigkeit führt, wo die Säuglinge früher erst recht keine Worte hatten. Aber die Bilder sind da, eingebrannt in die kleinen Gehirne der wehrlosen Kinder.

In Form einer seltsamen Objektivierung vollzog sich der Austausch zwischen den Eltern und dem Krippenpersonal. Im sogenannten Pendelheft sollten die Eltern zur Information des Krippenpersonals festhalten, was am Wochenende berichtenswert gewesen war, genauso wie das Krippenpersonal die Eltern über Geschehnisse unter der Woche auf dem Laufenden hielt. Um der Objektivierung entgegenzuwirken, wurden die Berichte oft aus der Perspektive des Kinds abgefasst, was noch befremdlicher wirkt.

 

«Zurückgeblieben», wie Jörg sein Werk nennt, sind bisweilen nicht nur die Wochenkinder in ihrer Entwicklung, sondern vor allem auch die Pendelhefte, die das Leben der sprachlosen Kinder dokumentieren. Jörg kam mit sechs Monaten in die Wochenkrippe. (© Jörg, Fotografie Fabian Schwitter)

 

«Liebe Mutti, lb. Vati! Ich bin immer noch ganz schön erkältet. Die Tanten haben mir Husten- u. Nasentropfen gegeben, die ihr mir zu Hause bitte auch geben möchtet.» Vermeintlich schreibt das der knapp dreijährige Jörg am 05.12.1969 an seine Eltern. Wenn er auch schon gesprochen haben wird, kann er das kaum selbst geschrieben haben. Die Einträge erwecken den Eindruck, als seien die Tanten, wie die Erzieherinnen genannt wurden, dem Kind bald näher gewesen als die Eltern. Mit sechs Monaten war Jörg in die Wochenkrippe gekommen. Heute führt er sein Pendelheft selbst und setzt den Text aus seiner frühesten Kindheit eigenständig fort.

 

Tauwetter auch im Krippenwesen

 

Erst ein Umdenken in anderen Ostblockstaaten und – ironischerweise – ökonomische Überlegungen bewegten die DDR-Führung dazu, Wochenkrippen zu reduzieren. Um mehr und mehr Frauen in den Arbeitsprozess einzubeziehen, mussten die Wochenkrippen mit ihrem hohen Personalaufwand und dem zusätzlichen Raumbedarf für Schlafsäle den effizienteren Tageskrippen weichen. Der schlechten Arbeitsbedingungen wegen «kam es zu einer regelrechten Flucht des Personals aus den Krippen», schreibt Rosenberg über die Siebziger. «Dass der Beruf der Krippenerzieherin oft von jungen Frauen aufgenommen wurde, die gerade eine Familie gegründet hatten», so Rosenberg weiter, führte zu häufigem «Ausfall des Krippenpersonals.»

 

Die «Spiegelbilder» von Chris, Cornelia, Mona und Rico setzen der Verlassenheit der Wochenkinder im Gemeinschaftswerk der Erwachsenen etwas entgegen. (© Chris, Cornelia, Mona & Rico, Fotografie Fabian Schwitter

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Nicht zuletzt Erfahrungen mit behinderten Kindern begünstigten eine Hinwendung zu pädagogischen Belangen im Krippenalltag. Zeitigte Aufmerksamkeit bei beeinträchtigten Kindern, die häufig ausgegliedert werden, erstaunliche Erfolge, durfte dies auch für andere Kinder gelten. Ein pädagogisches Paradigma, das auch die Bindung von Kindern zu Bezugspersonen berücksichtigt, ersetzt allmählich das klinische. Eingewöhnungszeiten für die Kinder gehörten bald zum Vorgehen. Zudem blieben die Jüngsten dank zunehmend grosszügigeren Mutterschaftsurlaubs zu Hause.

Die Einführung der Antibabypille sowie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen 1972 liess überdies auf eine Entspannung in der Krippensituation hoffen. «Die Geburtenrate», resümiert Liebsch, «sank nach 1965 signifikant und konnte erst nach 1975 durch zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen teilweise wieder normalisiert werden, ohne je wieder den früheren Stand zu erreichen.» Dennoch konnte die Krippenbetreuung den Ansprüchen auch unter veränderten Bedingungen zahlenmässig nicht genügen.

 

Selbstverständigung im Osten

 

Mag die Tür des Raskolnikow auch schäbig sein, so öffnet sich hinter ihr dank der Verarbeitung und Aneignung der Vergangenheit dennoch die Zukunft. (© Fabian Schwitter)

Den Allgemeinplatz, dass die Gespenster der Vergangenheit mensch einholen, illustriert die Geschichte Idunas auf verblüffende Weise. Erst aufgrund der Ausstellung kam sie mit ihren Eltern über das Krippenwesen ins Gespräch und erfuhr beiläufig, selbst ein Wochenkind gewesen zu sein. Längst nicht jedes Kind leidet nachhaltig unter der Wochenbetreuung. Dennoch blieb bei Iduna offenbar eine Skepsis gegenüber staatlicher Unterbringung. In den Achtzigern betreute sie ihre Tochter alleinerziehend zu Hause und machte sich als Kunsthandwerkerin selbständig. Für findige Menschen hielt die DDR gegen Ende ihres Bestehens allerlei ökonomische Nischen bereit.

Und noch etwas zeigt Idunas Geschichte: Die Verständigung über die DDR-Vergangenheit ist wesentlich eine Generationenaufgabe der Menschen im Osten Deutschlands, wenn nicht nur Fenster in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft aufgehen sollen. Dafür Raum zu schaffen, obliegt mittlerweile jedoch dem wiedervereinigten Deutschland als Ganzes. Für eine solche Verständigung sind Häuser wie das Raskolnikow mit seinem unprätentiösen Charme und der Verwurzelung in der Wendezeit genau der richtige Ort.

 

 

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