Chemnitz: Chemnitz… Chemnitz? Eine fantastische Stadt!
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2025 wird Chemnitz Kulturhauptstadt Europas. Schlagzeilen machte die Stadt jedoch vor allem mit rassistischen Ausschreitungen. Ob damit schon alles gesagt ist? Die einst reichste Stadt Deutschlands ist zwar beinahe in die Bedeutungslosigkeit abgesunken, wartet aber trotz ihres Niedergangs mit erstaunlichen Geschichten auf.
Im Zug in die Vergangenheit
Was mich an diesem Tag nicht überrascht, ist das Wetter. Je näher ich Chemnitz komme, – in einem Waggon eines alten Regionalzugs, der mir eine Zeitreise vorgaukelt –, umso verhangener ist der Himmel. Und mit meinem ersten Fuss auf Chemnitzer Boden setzt ein fantasieloser Nieselregen ein, der auch den ganzen Nachmittag über nur zum Spott Pausen einlegt. Milliarden von Wassertropfen legen einen blassen Schleier über die Stadt. Seit ich den Namen Chemnitz zum ersten Mal gehört habe, verbinde ich mit diesem Klang: grau. Die Stadt allerdings habe ich vor dem 10. Mai 2023 noch nie gesehen. Dass es Chemnitz überhaupt gibt, weiss ich nur, weil im Kreis meiner ostdeutschen Bekannten in Zürich einer aus Chemnitz kam. Ein liebenswerter Mensch, aber auch eine graue Maus – und dann dieser Name, der an Chemie erinnert, obwohl die Stadt gar keine chemische Industrie beheimatet. Der Name bedeutet etwas anderes. Er geht auf den altsorbischen ‹Stein› zurück, dem sowohl der Fluss Chemnitz – der steinige Bach –, nach dem Chemnitz benannt ist, als auch die Kleinstadt Kamenz nördlich von Dresden ihre Namen verdanken.
Vom Kopf…
Ich trotte vom Bahnhof aus in Richtung ‹Nischel› (ein Dialektwort für ‹Kopf›), wo ich verabredet bin. Das Wahrzeichen der Stadt entstand auf Betreiben Walter Ulbrichts, der bei der Enthüllung der Moskauer Marx-Statue von Lew Kerbel so verzaubert gewesen war, dass ein solches Monument für die DDR hermusste. Seit 1971 ziert der überdiemensionierte Kopf des sozialistischen Urmagiers die Karl-Marx-Stadt, die bereits 1953 zu dessen Ehren in einem Verwaltungsakt – sinnigerweise über den Kopf der lokalen Bevölkerung hinweg – umbenannt worden war. Und weil das internationale Interesse an einem Erwerb der Statue den Chemnitzer:innen nach der Wende den Weg zum anstehenden Gesinnungswandel wies, schliesslich entdeckt der kapitalistische Markt in Kunstwerken immer wieder auf wundersame Weise Wertanlagen, bewahrte dies die Statue vor dem Abriss. So blieb dieses Erbstück der DDR als künftiger Publikumsmagnet – trotz Wunsch der Bevölkerung, wieder in Chemnitz statt Karl-Marx-Stadt zu leben – an Ort und Stelle erhalten. Das graue Chemnitz erwies sich als wandelbar wie ein buntes Chamäleon.
Spätestens vor diesem Bronzekoloss ahne ich, dass Chemnitz viel zu kontrastreich ist, um einfach grau zu erscheinen. Ausgerechnet hinter dem Vordenker der Gerechtigkeit hat sich das Landesamt für Steuern und Finanzen eingerichtet. Gegensätzlicher könnten das provinzielle Amt und der paneuropäische Analytiker des Manchester-Kapitalismus, der wiederholt fliehen musste und im Verlauf der Zeit in verschiedenen Metropolen Westeuropas – Paris, Brüssel, London – zu Hause war, kaum sein. Ob das Steueramt wohl über ein Ende des Steuerwettbewerbs in der EU nachdenkt oder ob es eine angemessenere Steuerpolitik als zu DDR-Zeiten vertritt? Über letzteres wäre bestimmt zu streiten.
Streitbar ist Chemnitz auf jeden Fall: Bei einem Gottesdienst vor dem Nischel sollen vor zehn Jahren alte Sozialist:innen gewettert haben gegen Opium für das Volk. Heutzutage kommt dieses allerdings eher in Form von Fussball daher. Und so rissen unbekannte Aktivist:innen das Deutschlandtrikot, das dem Ahnherrn vom Stadtmarketing anlässlich der Weltmeisterschaft 2014 umgehängt worden war, wieder vom Leib. Marx für die nationalistisch angereicherten Milliarden der Fifa zu instrumentalisieren, das geht nun wirklich zu weit. Auf Social Media, so die TAZ am 27. Juni 2014, entsponnen sich hitzige Debatten. Das hinderte die deutsche Nationalmannschaft allerdings nicht daran, dem WM-Gastgeber Brasilien eine Demütigung zu verpassen und im Final gegen Argentinien Weltmeister zu werden. Alteuropa konnte die Vormachtstellung gegenüber dem Rest der Welt – zumindest im Fussball – noch einmal unter Beweis stellen. Und der Glanz solcher Momente macht dann auch im Europa der Ungleichen soziale Brennpunkte in den multikulturellen Städten zeitweilig vergessen. Es sollte bis zum nächsten Weltmeisterschaftsjahr dauern, bevor die internationale Farbigkeit auch in einem heruntergewirtschafteten Chemnitz mit traurigen Schlagzeilen deutlich ins Bewusstsein treten würde. Diese Weltmeisterschaft fand, an Symbolik lässt das heute nichts zu wünschen übrig, in Russland statt.
…auf die Füsse und Hand angelegt
Zur Blütezeit des sächsischen Industriezentrums vor dem Ersten Weltkrieg allerdings war Chemnitz die reichste Stadt Deutschlands (gemessen am Verhältnis von Steueraufkommen und Bevölkerungsgrösse). Der Maschinenbau erzeugte im sächsichen Manchester fantastische Umsätze und neben einem satturierten Bürgertum auch eine umtriebige Arbeiter:innenschaft. Die Kontraste reichen also, entgegen meinem grau-in-grauen Vorurteil, weit zurück. Schon zu Zeiten, als im Erzgebirge im 16. Jahrhundert Silber und Kupfer abgebaut wurden, spielte Chemnitz eine Rolle. Dank eines Bleichprivilegs aus dem 14. Jahrhundert hatte sich Chemnitz zu einem Zentrum der Textilproduktion entwickelt, in der auch die Unternehmerin Barbara Uthmann aus Annaberg tätig war.
Deren wechselvollem Leben als feministische Vorkämpferin setzte die Chemnitzerin Regina Hastedt 1987 ein Denkmal. Die Arbeiterschriftstellerin verwandelte das nahegelegene Annaberg mit blühender Fantasie in eine emanzipierte Welt, wo Frauen – die Erträge aus dem Bergbau waren allmählich geringer geworden – plötzlich in Heimarbeit mit Bortenweberei und Klöppelarbeiten für den Verdienst sorgten und Männer ihnen im Haus den Rücken freihielten. Wie die Witwe Uthmann – eine Frau in einer Männerwelt – die Ratsherren von Annaberg massregelte, wie sie sich in einer Mischung aus Patronin des 19. Jahrhunderts und protosozialistischer Revolutionärin um die Bildung und das materielle Wohlergehen der einfachen Bevölkerung bemühte! Ganz so – emanzipiert und gerecht wie im Roman – wird sie nicht gewesen sein, die umtriebige Uthmannin. Dennoch inspiriert Hastedts historischer Roman, der wahrscheinlich auch der DDR-Zensurbehörde gefallen hat.
Aus der Textilproduktion heraus, die – nicht zuletzt in Heimarbeit und Hausweberei noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein – eine hohe Prduktivität erzielte, verwandelte sich Chemnitz allmählich in einen der wichtigsten Industriestandorte Deutschlands. Allerdings ereilte die Stadt dasselbe Schicksal wie so viele Städte in (Ost-)Deutschland. Hatten die neuen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg den ostdeutschen Wirtschtaftsraum zerteilt, so zerstörten während des Zweiten Weltkriegs Bomben weite Teile der Stadt. Der Abtransport von Maschinen als Kriegsreparationsleistung an die Sowjetunion einerseits und die Abwanderung von Fachkräften in den Westen andererseits, wo sie etwa die Industrialisierung im agrarischen Freistaat Bayern vorantrieben, setzten Chemnitz zu. Zwar wurde die Produktion in der DDR wieder angekurbelt, aber die digitale Automatisierung brachte die DDR-Industrie gegenüber der West-Industrie in den Achtzigern endgültig ins Hintertreffen, fehlten doch die Materialien zum Bau von leistungsfähigen Computern. Die chaotische Privatisierung und das neuerliche Wegbrechen des osteuropäischen Absatzmarkts verwandelten Chemnitz nach der Wende in ein Brachland der Arbeitslosigkeit. Erst allmählich erholt sich die drittgrösste Stadt Sachsens und Ostdeutschlands wieder.
Auf zum Spaziergang!
So reich wie Chemnitz war, so sehr musste es auch eine Arbeiterhochburg sein. Und so hätte es mich nicht zu überraschen brauchen, dass der Stadtführer, den ein Freund über drei Ecken organisiert hat, zunächst leicht unwirklich erscheint. Ein bisschen, als sei er direkt vor meinen staunenden Augen einem Roman Irmtraud Morgners entstiegen. Die gebürtige Chemnitzerin erfand im sozialistischen Realismus ab den späten Sechzigern – etwa mit «Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura» (1974) – einen fantastischen Feminismus, der dazu angetan ist, sozialistische Propaganda ebenso wie kapitalistisches Marketing ad absurdum zu führen. Erstaunlicherweise weilte Morgner, die wohl zu Unrecht nur noch als Geheimtip gehandelt wird, auch in der Schweiz. 1987/88 hielt sie als erste Gastdozentin für Poetik Vorlesungen an der Universität Zürich. Ausgerechnet Zürich, wo sie zuvor doch gemäss NZZ vom 29. Januar 1988 alle anderen Einladungen abgelehnt hatte. Aus einem sozialen Engagement heraus habe sie die Einladung nach Zürich angenommen, liess die NZZ verlauten. Warum gerade Zürich – insbesondere angesichts gewichtiger Seminartitel wie «Literatur und Leben» oder «Soziale Stellung der Frau» – in den Genuss dieses Engagements kam?
Der Stadtführer in Chemnitz jedenfalls gleicht so ganz und gar nicht meinem Bild der beiden Professoren, deren «kleine Stadtgeschichte» ich im Zug von Leipzig nach Chemnitz gelesen habe. Einen hageren Mann, vielleicht Mitte Sechzig habe ich mir vorgestellt, akademisch ausgebildet, schütteres Haar: grau in der Erscheinung. Vor mir steht ein untersetzter Mann Ende Zwanzig, leuchtend blondes Kraushaar, voller Bart, Zimmerer von Beruf – und sozial eingestellt wie damals sein berühmter Kollege in der Levante, nach dessen vermeintlichem Geburtstag auch die DDR – Opium für das Volk hin, revolutionärer oder realexistierender Sozialismus her – die Jahreszählung richtete.
Der Stadtführer verstünde wohl auch zu predigen wie der Nazarener. Ohne Notizen referiert er in druckreifen Sätzen in atemberaubender Geschwindigkeit über die ältere, jüngere und jüngste Geschichte der Stadt Chemnitz. Die Stadt allerdings wollte ihn für 2025 nicht anheuern. Dann nämlich wird Chemnitz die Kulturhauptstadt Europas sein. Seine fantastische Kompetenz lässt mich dennoch glauben, er habe Jahrzehnte an Stadtgeschichte selbst miterlebt, ohne auch nur um ein Jährchen zu altern. Wie mir scheint, muss er ein Verwandter der dornröschenhaften Trobadora Beatriz sein, die Morgner im Mittelalter in den Schlaf schickte, um sie im Frühling 68 in der Provence wieder zu wecken und über Les Baux-de-Provence, Lyon, Paris mit seinen Strassenschlachten und Hamburg in die DDR, das gelobte Land, zu führen.
Wende für Chemnitz kein Spaziergang
Den engagierten Menschen jedoch, die das – gelobte – Brachland nach der Wende zu bestellen begannen und die urbane Wüste der Stadt Chemnitz urbar machten, wurde gekündigt. Im Herbst 2010 schloss das selbstverwaltete Kultur- und Wohnprojekt Reba 84 an der Reitbahnstrasse seine Tore. Wie schon zu Stasi- und anderen Zeiten, wird gemunkelt, erregte allzu eifrige Eigeninitiative für das Gemeinwohl Verdacht. Lieber wollte die Stadt selbstkontrolliert – und vielleicht auch mit einer gewissen Hoffnung auf monetären Gewinn – für Leben sorgen. Dass bei den Sanierungsplänen noch finanzielle Interessen von privaten Investor:innen im Spiel waren, macht die Geschichte erst plausibel. Aber die Erzeugung von Leben gelang den obrigkeitlichen Alchimist:innen offenbar genauso wenig wie die Herstellung von Gold. Die Liegenschaft blieb unsaniert und beherbergt im Erdgeschoss – und darüber ist immer noch Leerstand – einzig einen Fahrrad- und einen Lebensmittelladen sowie eine arabisch-christliche Kirche.
Das Kassberger Gefängnis, von wo aus von der BRD freigekaufte DDR-Bürger:innen ihre Reise in den Westen antraten. (© Fabian Schwitter)
Immerhin bot Chemnitz damals wie heute Ausweichmöglichkeiten, sodass Teile der Reba 84 ins Kompott an der Leipzigerstrasse umziehen konnten. Nicht mehr ganz so innenstadtnah, aber immerhin auch nicht innenstadtfern. Eine Kündigung hätte zur Räumung der Reba 84 beinahe gereicht. Aber die Polizei, berichtet das Freie Radio am 04. Oktober 2010, zauberte am 18. September 2010 spontan einen Vorwand aus dem Hut, bei der friedlichen Aufräumaktion mit der geballten Gewalt von über 20 Beamt:innen für Ruhe und Ordnung zu sorgen. So erinnert mich das Ende der Reba 84 – bei allen annehmbaren Ausweichmöglichkeiten in Chemnitz – dann doch noch an das Ende der autonomen Kulturwerkstatt auf dem Wohlgroth-Areal, dem letzten grossen Wohn-, Kultur- und Sozialexperiment in Zürichs Innenstadt. Die Räumung des besetzten Areals durch die Polizei 1993 erfolgte nicht zuletzt, weil weder Stadt noch Besitzerin Oerlikon-Bührle den Besetzer:innen annehmbare Alternativen in Innenstadtnähe anzubieten hatten. Zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam es jedoch erst abends nach der Räumung.
Platz gäbe es für alle!
Was in Zürich an spärlichen Freiräumen, meist weit von der Innenstadt entfernt, mit Gewalt besetzt und mit Gewalt wieder genommen wird – die Binz etwa oder das Labitzke, lässt sich in Chemnitz für ‹’n Appel und ’n Ei› mieten. Besetzungen sind weitgehend unnötig. Bereits zu DDR-Zeiten habe heruntergewirtschafteter Leerstand in den städtischen Altbauten, den die anhaltende Abwanderung hinterliess, zur Aneignung eingeladen, berichtet der Soziologe Steffen Mau, der in Berlin selbst in einer solchen Wohnung lebte, in «Lütten Klein». Die Staatsmacht habe das Ende der Achtzigerjahre stillschweigend geduldet und mit nachträglichen Nutzungsverträgen legalisiert. Konnte sich auch eine traditionsreiche Jugendbewegung, die in Zürich – der Film «Allein machen sie dich ein» dokumentiert sie – bis in die fünfziger Jahre zurückreicht, in der DDR nicht bilden. So nehmen diese Zustände dennoch die weitverbreitete Praxis in ostdeutschen Städten nach der Wende vorweg, Leerstand etwa als sogenannte Wächterhäuser für symbolische Mieten anspruchslosen Menschen zu überlassen –, solange nur die Bausubstanz durch Bewohnung vor dem gänzlichen Zerfall bewahrt wird.
Während in Berlin, der Hauptstadt im Scheinwerferlicht, jedoch gewaltsame Räumungen – etwa an der Mainzer- oder der Rigaerstrasse – in den 90ern für einschneidende Erfahrungen vergleichbar mit Räumungen und Auseinandersetzung mit der Polizei im Zürich der Achtzigerjahre sorgten, blieben Städte an der Peripherie davon weniger berührt. In Chemnitz findet eine junge Selbstverwaltungsszene bis heute fast nach Gutdünken Leerstand, der nicht in Privat- sondern in Stadtbesitz ist, und bietet einer bunten Mischung von Menschen eine Anlaufstelle. Gewalt droht solchen Orten meist nur, wenn schwarzgekleidete Mobs in Springerstiefeln glauben, mit Steinen und Stöcken gegen eine moderne Urbanität vorgehen zu müssen. 2018 hetzten solche Mobs im Nachhall einer tödlichen Messerstecherei sogar Menschen – vor allem Geflüchtete – durch die Chemnitzer Innenstadt. Die Demonstrationen und Gegendemonstrationen sorgten für zahlreiche – teils schwer – verletzte Menschen.
Im reichen Zürich dagegen richtet sich politische Gewalt auf der Strasse meist nur noch gegen Eigentum. 2013 etwa endete eine unbewilligte Kundgebung gegen die Räumung der Binz in Plünderungen: aus Wut über die Unverrückbarkeit und Sinnleere einer satten Stadt wie Zürich wahrscheinlich. Die Fluten der Wasserwerfer, die noch in den Achtzigern bei Strassenschlachten zwischen Jugendlichen und repressiven Staatsorganen gewaltig durch die Strassen strömten, sind längst eingedämmt. Diese Gewalt verkam mit den Jahren zu einem hohlen Ritual bei der Nachdemonstration zur 1. Mai-Feier, lieferte sich der schwarze Block im Zürcher Langstrassenviertel doch ein traditionelles Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Seit einigen Jahren ist auch diese Quelle versiegt oder von Sicherheitskräften ausgetrocknet worden.
Klammheimlicher Rechtsradikalismus…
Welches Engagement Morgner gerne gehabt hätte, weiss ich nicht. Zu ihrer Zeit hatten die Auseinandersetzungen in Zürich noch eine gewisse Lebendigkeit. Seither ist die Kommerzialisierung der Zürcher Innenstadt weitgehend abgeschlossen. Ein Beispiel dafür ist die 2020 fertiggestellte Europaallee mit ihren teuren Wohnungen, grossräumigen Büroflächen sowie hippen Kultur- und Gastronomiebetrieben. Die Gentrifizierung hat ungeahnte Ausmasse erreicht, mit denen selbst Berliner Verhältnisse kaum zu vergleichen sind. Die Kämpfe von damals, als Morgner in Zürich Vorlesungen hielt, sind längst vergessen – oder verloren. Bewohnte und sozial durchmischte Innenstädte gehören der Vergangenheit an. Die Menschen haben sich abgefunden.
Lässt sich also schliessen, dass Auseinandersetzungen in Zürich mittlerweile gewaltfrei ablaufen? Wohl finden Menschen, die in einer Stadt wie Chemnitz noch mit der Faust Politik machen, in der Schweiz – nur – ein publizistisches ‹Asyl›. Bei der NZZ erschien am 12. September 2022 etwa ein Fotobeitrag Fips Neukamms zum Ukrainekrieg, obwohl Linksunten Neukamm schon am 04. November 2016 als Chemnitzer Rechtsradikalen geoutet hatte. Die Verbindungen zwischen Chemnitz und Zürich sind offenbar weit verwunderlicher als erwartet. Und was sagt die NZZ dazu? Die Zusammenarbeit sei beendet worden, nachdem Naziwatch Chemnitz die NZZ am 14. September 2022 per Twitter auf Neukamms Vergangenheit aufmerksam gemacht hat, lässt die Leiterin der Unternehmenskommunikation, Karin Heim, am 15. September 2023 erst auf mehrmaliges Nachhaken bei der NZZ hin verlauten. Die Reportage blieb jedoch im Netz und ist heute noch zu sehen. Neukamm hat sich mittlerweile von seiner Vergangenheit distanziert und widmet sich der Präventionsarbeit, hegt aber nach wie vor eine Faszination für Gewalt und ihre Ästhetik, wie er am 22. Oktober 2023 im SWR-Podcast «Das wahre Leben» offenlegt.
Kam Morgner mit ihrem Aufruf zum Engagement – wie Beatriz, die erst zwei Jahre später hätte geweckt werden sollen, – zu früh? Oder zu spät? Wie aus einer anderen Welt fällt – sauber ausgeschnitten – das kyrillische Logo einer Milchschokolade aus dem Buch. Ein Mädchen mit blauen Kulleraugen guckt mir entgegen. Ihr Name – oder derjenige der Schokolade – ist Alenka. Wie lange Morgners Buch wohl schon nicht mehr bei der Bibliothek ausgeliehen worden ist? Der Bibliothekar sagt: «Am 07. März 2023 kam es zum letzten Mal zurück.» Ich bin enttäuscht und verzaubert zugleich: All die Zeit scheint das Mädchen – ob bemerkt oder unbemerkt – wie die provenzalische Trobadora die Jahrhunderte in diesem Buch überdauert zu haben.
Die Schweiz wird sagen, dass doch alles nicht so schlimm sei. Die Neukamms dieser Welt sind zumindest auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft Einzelfälle. Der Lagebericht des Bundes «Sicherheit Schweiz» verzeichnet für das Jahr 2022 lediglich fünf Gewaltvorfälle mit rechtsradikaler Beteiligung. Ob es da allerdings reicht, solche Einzelfälle abzutun und zur Tagesordnung überzugehen? Die Umtriebigkeit der Schweiz in Sachen Rechtsradikalität, das dürfte der Verweis im Text «Ausgerechnet Ostdeutschland» im Feuilleton F. vom August 2023 nahelegen, richtet sich vor allem auf klammheimliche Unterstützung von Parteien und Gruppierungen in anderen Ländern. Das ermöglicht ein bequemes Schulterzucken im Inland und – wie so häufig – das Vonsichweisen jeglicher Verantwortung für den Rest der Welt.
…statt zukunftsweisende Solidarität
Ich zumindest bin begeistert, in diesem Rest der Welt ein anderes Chemnitz als dasjenige Fips Neukamms erlebt zu haben. Ich hätte ein Chemnitz mit Stadträten kennenlernen können, deren Verbindungen zum Nationalsozialistischen Untergrund etwa, der in den Nuller-Jahren Morde und Sprengstoffattentate verübte, unleugbar sind, wie das Antifaschistische Infoblatt schon 2019 darlegte und die Freie Presse am 04. November 2021 bestätigte; ein Chemnitz der Hetzjagden. Stattdessen begegnete mir kein überaltertes und abgehalftertes Chemnitz, wie das Klischee es vielleicht verlangt hätte, sondern ein junges und dynamisches Chemnitz, das dem anhaltenden Braindrain in Ostdeutschland etwas entgegensetzt: das aufrüttelnde Chemnitz der Band Kraftklub.
Auf meine Frage hin, warum er – geboren in Chemnitz, aber aufgewachsen in Templin – wieder nach Chemnitz gekommen sei, meint der Stadtführer: «Ich will etwas für meine Stadt tun.» Wahrscheinlich hätte er – jung, sprachgewandt und engagiert – überall ein Auskommen finden können. Stefan Heym allerdings – Ehrenbürger der Stadt Chemnitz und Ehrendoktor der Universität Bern – hob schon 1994 in seiner Funktion als Alterspräsident des 13. Deutschen Bundestags in seiner Rede zu dessen Eröffnung in beinahe prophetischer Weise hervor: «Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben.» Ausgerechnet das graue Chemnitz – aber es hat sich ja wie ein Roman Morgners als fantastisch vielfältig herausgestellt – hat mir das wieder einmal ans Herz gelegt.
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Wendezeit – Zeitenwende – Zeit der Wende? Toll, Dein Spaziergang kreuz und quer durch die Jahrhunderte und von „‚Kopf‘ bis Fuss“ durch Chemnitz. In dieser österlichen Zeit – im Osten ist erst Anfang Mai Auferstehung – assoziiere ich in Deinem Kontext den Abendspaziergang des „Nazareners“ mit den beiden Jüngern nach Emmaus … (sie merkten vorerst noch nichts von der Zeitenwende). Ich erinnere mich zudem an den Beginn der 90er Jahre, als ich den Präsidenten der CDU-Mittelstandsvereinigung Sachsens (Soziale Marktwirtschaft nach dem Verständnis von Ludwig Erhard) aus Chemnitz nach Zürich einlud. Er referierte im hiesigen CVP-Gönnerclub über die Wendezeit in Ostdeutschland. Wir erleben erneut eine Zeit der Wende – fast in jeder Hinsicht. Während nach dem Abriss der ebenfalls zu Beginn der 90er Jahre besetzten Bauten auf dem Wohlgroth-Areal beim Hauptbahnhof immerhin eine halbwegs vernünftige Stadt-Siedlung farbiger Punkthäuser erstand, proben derzeit die Mieter im weitläufigen „Zollfreilager“ (Deiner einstigen Bleibe) den Aufstand gegen kompromisslose Mietzinserhöhungen – Gentrifizierung auch in den Aussenquartieren Zürichs? – Ich freue mich auf Deinen nächsten Bericht „aus dem Grossen Kanton“. Sw