Rassistischer Nationalismus: Von der patriarchalen Panik

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Der Streit der Systeme ist auch über dreissig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht vorbei. Im Gegenteil: Er flammt wieder auf. Was die Systeme jedoch eint, ist ein rassistischer Nationalismus, der seine Wurzeln auch im patriarchalen Verhältnis zu Frauen hat.

 

Ein schauerlicher Refrain

 

«Sie belästigen unsere Frauen, nehmen sie uns gar weg!» – Wie ein Refrain hallt die patriarchale Panik vor einem Verlust des männlichen Besitzanspruchs auf Frauen durch die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Selbstredend nahm und nimmt sie keine Rücksicht auf die jeweils herrschenden Ideologien, seien sie liberal, demokratisch, kommunistisch oder diktatorisch. Vielmehr bildet sie das Hintergrundrauschen, vor dem sich das politische Kräftemessen politischer Systeme abspielt. Auch im 20. Jahrhundert ertönten gerade ab den Sechzigern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs dieselben Klagen. Und wer hinhört, wird sie auch heute noch vernehmen.

 

Geschichten aus der Kindheit

 

Die ‹Tschinggen›, eine abwertende Bezeichnung für die sogenannten Gastarbeiter:innen aus Italien und ihre Nachfahren in der Schweiz, kenne ich noch aus meiner Kindheit. Ab den Fünfzigern wanderten zusehends mehr italienische Arbeiter:innen in die Schweiz ein. Mit dem Bedarf einer boomenden Wirtschaft an Arbeitskräften konnte die Bevölkerung der Schweiz reproduktiv nicht mithalten. Ohne Zuwanderung – zu Beginn vor allem aus Italien, später auch aus anderen Ländern Südeuropas – wäre das Wirtschaftswachstum der Schweiz in sich zusammengefallen. Dank der Gastarbeiter:innen jedoch profitierte die unversehrte Schweiz wie kein anderes Land vom Wiederaufbau des kriegszerstörten Europas.

 

In Fabriken, die mittlerweile meist leer stehen, sorgten einst Gastarbeiter:innen für den Wohlstand in der Schweiz. (© Peter H.)

 

Auch die Geschichten über das offensive Verhalten der männlichen ‹Tschinggen› den einheimischen Frauen gegenüber sind mir vertraut. «Sie pfeifen den Frauen hinterher», hiess es etwa. Und was zunächst vielleicht bloss als Belästigung empfunden wurde, steigerte sich rasch zur patriarchalen Panik, wenn sich eine Frau tatsächlich auf einen der pfeifenden Charmeure aus Sizilien einliess. Aber wer sollte es einer Frau verargen? Manch ein zugewanderter Italiener, der sein Schicksal selbst in die Hand genommen hatte, um in der Fremde ein besseres Leben zu finden, erschien mit seiner zwangsläufigen Weltläufigkeit wohl attraktiver als der biedere Schweizer von nebenan, der sein Dorf noch nie verlassen, geschweige denn die Landesgrenzen überquert hatte. Selten genug werden Verbindungen zwischen Schweizerinnen und Italienern dennoch gewesen sein.

 

Segregation

 

Der Kontakt beschränkte sich insbesondere in den ersten Jahrzehnten auf brutale Weise, zitiert der Historiker Thomas Buomberger in seinem Buch «Kampf gegen unerwünschte Fremde» (2004) einen italienischen Gastarbeiter: «Kontakte mit Schweizern hatten wir eigentlich keine; gut, es konnte vorkommen, dass es am Samstagabend eine Schlägerei mit Schweizern gab, das waren unsere Kontakte.» Selbstredend hatte Antonio Molteni, der schon 1947 eingewandert war, kaum Positives über seine Anfänge in der Schweiz zu berichten: «Wenn ich an die erste Zeit zurückdenke, habe ich keine guten Erinnerungen; es war eine schlechte Zeit.»

Trotz der faschistoiden Segregation zwischen der einheimischen und der zugewanderten Bevölkerung grassierte die Furcht vor jungen Männern. Sie sollten, so der Assimilationsleitfaden Marc Virots, eines Beamten bei der sogenannten Fremdenpolizei, aus den Sechzigern, «nicht draufgängerischer sein als der vielleicht etwas biedere und leidenschaftslosere Schweizer». Stellt dieser Leitfaden den Schweizer Männern – in einer Volte von ungewollter Komik – ein zweifelhaftes Zeugnis aus, so wird das verquere Bedürfnis, die ‹eigenen› Frauen zu schützen erst recht verständlich.

 

Die rassistischen Schlägereien waren nicht bloss ein Spiel. Es ging um Menschen aus Fleisch und Blut. (© Carlo Sardena)

 

Die Geschichte einer tatsächlichen Vergewaltigung, die Buomberger anführt, bringt den männlichen Anspruch, die ‹eigenen› Frauen zu schützen, wörtlich zum Ausdruck:

Als im Herbst 1964 ein Schweizer Mädchen von zwei Italienern vergewaltigt wurde, war das für den LdU-Nationalrat Jakob Bächtold Anlass für eine Kleine Anfrage im Parlament. Er meinte, dass ein Schweizer, der solches in Süditalien gemacht hätte, ‹von der Bevölkerung – nicht ganz zu Unrecht – gelyncht› würde. Es sei empörend, was sich ‹unsere Frauen und Töchter von gewissen Ausländern gefallen lassen› müssten, und er wollte vom Bundesrat wissen, ob er nicht auch der Ansicht sei, es müsse etwas ‹zum Schutze unserer Frauen und Töchter vor Belästigungen und Angriffen durch ausländische Arbeitnehmer› unternommen werden. Die Polizei habe ihm bestätigt, dass solche Vorfälle an der Tagesordnung seien.

Selbstredend war keine Frau in der Lage, eine solche Anfrage zu stellen, wurde die erste Frau in der Schweiz doch erst 1971 mit Einführung des Frauenwahlrechts auf Bundesebene in den Nationalrat gewählt.

 

Vergewaltigungsmythen

 

Die Stilisierungen von Einzelfällen fügten sich leicht zu einem herabwürdigenden Klischee über die italienischen Einwanderer zusammen. Die Gewissheit, dass ein Italiener wahrscheinlich ein «krimineller Raufbold» oder ein «Frauenverführer» sei, wie Angelo Maiolino in seinem Buch «Als die Italiener noch Tschinggen waren» (2011) schildert, geisterte noch durch meine Kindheit in den Achtzigern und Neunzigern. Und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs unterlag ein italienischer Gastarbeiter in der liberalen Schweiz auch schnell einmal dem Vorwurf, ein «Kommunist» zu sein.

Wären die fleissigen Hände der Fabriken in der Öffentlichkeit am besten unsichtbar geblieben, so bekundeten besonders junge Menschen, deren Wohnzimmer oft der öffentliche Raum ist, Mühe mit dieser unausgesprochenen Forderung. Schliesslich mussten sie sich irgendwo aufhalten, wenn sie nicht ihre gesamte Freizeit eingesperrt in ihren Wohnbaracken unter den Augen älterer Menschen verbringen wollten. Gerade junge Männer, so Maiolino, «waren für viele Schweizer Väter, die eine Tochter hatten, ein Grund zur Sorge und ein Stein des Anstosses.»

 

So sehr die fleissigen Hände von Arbeitskräften erwünscht waren, so sehr sollten die Menschen verschwinden (© Ibrahim Abed)

 

Dass umgekehrt die eingewanderten jungen und familiär ungebundenen Männer besonders unter der Einsamkeit in der Fremde litten, wollte in der Schweiz kein Mensch wahrhaben. Nicht selten landeten diese jungen Männer aus psychosomatischen Gründen in Behandlung, ohne dass die Ursache ihrer Leiden ernstgenommen worden wäre, so Buomberger:

Die Ärzte führten diese Krankheiten nicht ausschliesslich auf Heimwehreaktionen zurück, sondern bezeichneten sie als pathologische Anpassungserscheinungen im Zusammenhang mit industriellen Arbeits- und Lebensrhythmen. Die Ärzte sahen, dass ihre Patientinnen und Patienten litten, aber sie könnten ‹nichts Befriedigendes für sie tun›. Unter diesen Patienten waren besonders viele ledige junge Männer.

Seit der Corona-Pandemie ist gesellschaftlich anerkannt, dass junge Menschen mit sozialen Beschränkungen weit mehr zu kämpfen haben als ältere.

 

Geschichten aus der Kindheit

 

Mochten die italienischen Arbeiter:innen nun – und wenn, dann sicher aus gutem Grund – Kommunist:innen gewesen sein oder auch nicht, es wäre ihnen als Arbeitsmigrant:innen insbesondere in der sozialistischen und anti-faschistischen DDR wahrscheinlich nicht besser ergangen. Was in der Schweiz die ‹Tschinggen› waren, sind in Ostdeutschland – bisweilen heute noch – die ‹Fidschis›, eine abwertende Bezeichnung vor allem für Menschen aus Vietnam und Südostasien generell. Ähnlich wie in der Schweiz mangelte es der neu gegründeten DDR nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Arbeitskräften. Allerdings lagen die Gründe weniger in der boomenden Wirtschaft als in der Abwanderung aus dem Osten in den Westen. Häufig ersetzten sogenannte Vertragsarbeiter:innen aus den kommunistischen Bruderstaaten – etwa Angola, Mosambik oder Vietnam – die freigewordenen Stellen.

Wenig verwunderlich verlief das Zusammenleben von einheimischer Bevölkerung und zugewanderten Vertragsarbeiter:innen auch in der sozialistischen DDR – trotz ihres internationalistischen Selbstverständisses – nicht reibungslos. Verblüffend war dennoch, Kindheitsgeschichten aus persönlichen Gesprächen mit Menschen, die in der DDR aufgewachsen waren, von Historiker:innen und Soziolog:innen bestätigt zu sehen. Die «Rivalitäten um Frauenbekanntschaften», wie der Historiker Harry Waibel es in seinem Buch «Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED – Rassismus in der DDR» (2014) formuliert, waren durchaus «Ausgangspunkt für tätliche Auseinandersetzungen».

 

Selbst die Grenzbefestigungen des Eisernen Vorhangs konnten die Abwanderung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung nicht verhindern. (© mnswede 70)

 

Ausländer:innen, konnten sie doch etwa nach Westberlin fahren, hätten leichter Zugang zu Westprodukten gehabt und so bei den Frauen punkten können. Von Westschokolade als Verführungsmittel war in den erwähnten Kindheitsgeschichten etwa die Rede gewesen. Solche Ressentiments kulminierten nicht selten im «Vorwurf, die ‹Neger› würden den Deutschen die Frauen wegnehmen», wie der Soziologe Steffen Mau in «Lütten Klein» (2019) erzählt, und «dann flogen die Fäuste.» Die vermeintliche Narrenfreiheit, die ausländische Arbeitskräfte an den Tag legten, kann jedoch nicht über die tatsächlichen Aufenthaltsbedingungen hinwegtäuschen.

 

Segregation

 

Waibel fasst die Lebensbedingungen der Vertragsarbeiter:innen kurz und bündig zusammen: «Die ausländischen Arbeiter wurden, getrennt von der deutschen Wohnbevölkerung, in betriebseigenen Wohnheimen gettoisiert. Der Aufenthalt in diesen Heimen war verbindlich festgelegt.» Fügten sich manche Bevölkerungsgruppen dieser Segregation mehr oder weniger bereitwillig, führte das Ausscheren aus diesem Arrangement, so Mau, schnell zu Handgreiflichkeiten: «Während vietnamesische Vertragsarbeiter recht zurückgezogen lebten und Konflikten aus dem Weg gingen, waren die Menschen aus Kuba und Mosambik nicht nur Zielscheibe für abfällige Bemerkungen, sondern wurden auch in handfeste Konflikte verwickelt. Vor allem in Kneipen und Discos, wo der Alkohol zur Enthemmung beitrug, konnten sich Vorbehalte leicht zu Aggressionen steigern.»

 

Bevozugter Austragungsort handgreiflicher Auseinandersetzungen waren in der Schweiz genauso wie in der DDR Kneipen, Bars und Discos.

 

Augusto, ein Vertragsarbeiter, den die Historikerinnen Johanna Wetzel und Marcia Schenck in ihrer Studie «Liebe in Zeiten der Vertragsarbeit» zu Wort kommen lassen, erzählt von seinen Erfahrungen in unterschiedlichen Wohnheimen:

In manchen Wohnheimen durften wir keine Freundinnen mitbringen. Meine Freundin musste sich immer unbemerkt hineinschleichen. Das war nicht in allen Wohnheimen so. In Dessau, zum Beispiel, konnte ich meine Freundin ohne Probleme mit reinnehmen. In anderen Wohnheimen schickten sie die Frauen entweder weg oder manchmal riefen sie sogar die Polizei, um sie vom Wohnheim wegzubringen.

Wurden die Regeln auch unterschiedlich gehandhabt, so war eine Vermischung von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung insgesamt dennoch nicht erwünscht.

 

Vergewaltigungsmythen

 

Die Angst vor Beziehungen zwischen einheimischen Frauen und zugwanderten Vertragsarbeitern sowie zugrundeliegende Ängste lassen sich an der Aussage des Leiters eines Volkseigenen Betriebs (VEB) erahnen. Wetzel und Schenck zitieren ihn in der erwähnten Studie: «Während der Tonbandaufnahme beteuert der Leiter: ‹Es ist unverständlich, wenn einzelne Werktätige diese Erscheinung [meint Liebesbeziehungen] mit schmutzigen Worten wiedergeben›, und bei abgeschaltetem Tonbandgerät: ‹Also, wenn seine Tochter mit einem Schwarzen ankäme, er würde sie rausschmeißen.›» Die Verachtung gegenüber Frauen, die sich mit Vertragsarbeitern einlassen, entspringt nicht zuletzt Vergewaltigungsmythen.

 

Auch in den Volkseigenen Betrieben gehörten nicht alle gleichermassen zum Volk. (© Peter H.)

 

Gerade schwarzen Männern unterstellt der rassistische Stereotyp, aufgrund ihrer Triebhaftigkeit gewaltsam hinter weissen Frauen her zu sein. Führt das auf der einen Seite zu einem Bedürfnis der Männer, ‹ihre› weissen Frauen selbst ohne deren Einverständnis zu schützen, so nährt das auf der anderen Seite auch die Faszination für diese andersartigen Männer. Dass dies Vertragsarbeitern durchaus bewusst war, belegen die verschmitzten Worte Ançelmos in Wetzels und Schencks Studie: «Die Leute dachten, ich wäre Michael Jackson. Besonders die Mädels fanden das toll. Ich hab’ viele in der Disko kennengelernt.»

 

Und heute?

 

Gerade vor dem Hintergrund des Eisernen Vorhangs und seiner Auswirkungen hätte die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal die allgemeine Haltung gegenüber Frauen nicht besser auf den Punkt bringen können. In ihrem Buch «Vergewaltigung» (2016) schreibt sie: «Die Propaganda im Kalten Krieg der Geschlechter besagt, dass weibliche Sexualität ein bedrohtes Gebiet ist, das geschützt und verteidigt werden muss – anstatt erforscht und genossen.» Zu dumm allerdings, wenn es gar nichts mehr zu schützen gibt.

 

Im Gegensatz zum viel grösseren Westdeutschland hatte die Wende einen erheblichen Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur in Ostdeutschland. (© Efes)

 

In den ostdeutschen Bundesländern, die mit einem rechtsnationalistischen Wahlverhalten und bisweilen unverhohlenem Rassismus auf sich aufmerksam machen, entbehrt die Klage, die Frauen würden einem weggenommen, indessen nicht eines realen Fundaments. Dass in Ostdeutschland viele Männer keine Frau finden, liegt allerdings nicht an der Immigration, sondern an der ungewöhnlichen Struktur der deutschen Binnenmigration seit der Wende. Den resultierenden Überschuss an Männern konstatiert Mau ebenso wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ihn in seinem Buch «Die Übernahme» (2019) herausstreicht.

 

Mehr Männer als Frauen

 

Einerseits greift die traditionelle Heiratslogik, wonach Frauen eher sozial nach oben und Männer eher sozial nach unten heiraten. Unter den Ost-West-Ehen nach der Wende findet sich entsprechend häufig der Fall, dass ein westdeutscher Mann eine ostdeutsche Frau heiratet. Andererseits trug in der Vergangenheit die ungewöhnlich hohe Mobilität der ostdeutschen Frauen dazu bei, dass insbesondere ostdeutsche Männer mit geringer Qualifikation schlechte Aussichten haben. In der DDR gut ausgebildet und bereits arbeitstätig suchten vor allem Frauen, die überdies weit mehr unter der wendebedingten Arbeitslosigkeit im Osten litten, das Weite. Oder eben ihr Glück im Westen, während zugleich westdeutsche ‹Aufbauhelfer› und Opportunisten (die grammatische Form ist bewusst männlich) ihr Glück im Osten suchten.

 

Als die Visumspflicht mit der Wende entfiel, stand der Abwanderung der Menschen aus Ostdeutschland nach Westdeutschland nichts mehr im Weg.

 

In manchen Gegenden herrscht – bis heute – ein akuter Überschuss an (jungen) Männern. Damit geht ein vielfältiges Leiden einher: individuell wie kollektiv. Fühlen sich manche Männer mit Familienwünschen einsam und betrogen, fehlen der Gesellschaft wertvolle junge Menschen, die mit ihrem Engagement und ihrem Know-How das Stagnationsgefühl im Osten überwinden würden. Offenbar ist das Problem so virulent, dass sich sogar die ARD mit dem Tatort «Kontrollverlust» der Thematik annehmen wollte.

 

Ironie der infamen Verleumdung

 

Es entbehrt nicht der Ironie, dass die wirkliche Konkurrenz der ostdeutschen die westdeutschen Männer sind, mit denen sich die ostdeutschen Nationalist:innen doch so innig verbunden fühlen. Erscheint der rassistische Nationalismus in Ostdeutschland unter diesen Voraussetzungen gewissermassen als Stockholm-Syndrom, so war es jederzeit ein billiges Mittel im Umgang mit dem eigenen Unglück, in einer ausländischen Bevölkerung die Ursache dafür zu suchen.

 

Die Kölner Domplatte zwischen Dom und Hauptbahnhof war in der Silvesternacht auf 2016 singulärer Schauplatz massenhafter sexueller Übergriffe hauptsächlich (aber nicht ausschliesslich) verübt von Migranten. (Gerd Rohs)

 

Das gilt für die Sechziger, in denen die moderne Arbeitsmigration in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Anfang nahm. Das gilt jedoch genauso für heute. Das mediale Gezerre etwa um die Vorkommnisse in der Kölner Silvesternacht im Verhältnis zu Grossanlässe wie dem Oktoberfest legt ein beredtes Zeugnis ab. Die Singularität der – zugegebenermassen schrecklichen – Silvesternacht übertüncht die alltägliche Realität einer misogynen Gesellschaft. Der Rassismus wirkt sich dadurch gewissermassen doppelt aus: Nicht nur dienen die Ausländer als Sündenböcke für das eigene Unglück, sondern es werden ihnen auch noch die eigenen Sauereien (und Verbrechen) in die Schuhe geschoben.

 

 

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  1. Es war leider alles noch viel schlimmer, wie Samir aktuell am Locarno Film Festival zeigte:

    Neuer Samir-Dok: Wie wir die Gastarbeiter sitzen liessen
    In «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» erzählt der Zürcher Filmemacher die Geschichte der Arbeitsmigration in die Schweiz. Mal wieder mit einem Kunstgriff – der danebengeht.

    Autor: Michael Sennhauser

    Mittwoch, 14.08.2024, 11:59 Uhr

  2. Kleine Richtigstellung

    Dieser Text rührt bei mir einiges an. Als Frau mit Jahrgang 1950 habe ich die Einwanderung der italienischen Arbeiter in Basel voll miterlebt. Was hier als «Mythen» und «Einzelfälle» bezeichnet wird, das waren für mich und viele Freundinnen oder Mitschülerinnen allerdings eine vielleicht nicht tägliche, aber sicher wöchentliche Last und Belästigung.

    Wir wurden nicht vergewaltigt, aber wir wurden als Jugendliche sehr oft systematisch verfolgt: Ein Mann lief hinter einem her, mit einem Meter Abstand oder mit drei Metern – und er liess nicht locker. Wenn ich unversehens links abzwieg, um dieser Situation zu entkommen, so tat der Unbekannte dasselbe. Mitten in der Stadt war das nicht bedrohlich, nur lästig. Wenn ich für den Weg zur Schule oder von der Schule nach Hause jedoch einige wenig begangene Strecken zurücklegen musste, dann machte es auch Angst. Einmal geriet ich, ohne dass etwas real geschah, in grosse, bodenlose Angst. Ich kann es jetzt noch physisch abrufen.

    Wenn mir Jahre später, als erwachsener Frau, Männer auf ähnliche Weise nachliefen, welcher Nation auch immer, so blieb ich stehen und fragte selbstbewusst, was sie wollten, und sie verschwanden. Als unsichere Jugendliche war ich innerlich aber erstarrt, gelähmt – das spürten diese Männer schnell.

    Einmal, ich war zehn oder elf, zog mich in den Bergen, als ich in der Nähe unserer Ferienwohnung herumstreifte, ein Italiener in einen Stall, schloss diesen von innen und begann mich überall zu streicheln. Ich bedeutete ihm klar, dass ich hinauswolle und… er liess mich hinaus. Die Erinnerung – in ihrer ganzen Ambivalenz – bleibt lebendig.

    *

    Es ist begreiflich, dass die jungen Männer nach Zärtlichkeit und Sex und Anerkennung hungerten, aber lustig war das für uns als 13-, 14-, 15-Jährige nicht. Dieser Aspekt fehlt mir in dem Text über jene Zeit. Meine Eltern hatten nichts gegen die Einwanderer aus dem Süden. Mein Vater machte sich keine Sorgen für seine Tochter, wie es im Text dargestellt wird. Ich selber erwähnte zuhause nichts, denn alles, was zwischen Männern und Frauen lief, das war in unserer Familie ein Tabu…

    Dass es für die Italiener in den 60er Jahren hier eine schwierige Zeit war, dass sie im Vergleich zur einheimischen häuslichen Gewalt wohl geradezu harmlos waren, will ich mit meiner Schilderung nicht in Frage stellen. Nur «Mythen» und «Einzelfälle» waren die Übergriffe auf junge Frauen bestimmt nicht.

    Marianne Biedermann
    Zürich

  3. Danke, Marianne, für deine Rückmeldung, die ich als sehr wertvoll empfinde. Natürlich sind meine Recherchen im Vergleich mit den Erfahrungen von Zeitzeug:innen eine Art Stochern im Nebel. Im Nachhinein – und insbesondere mit deiner Richtigstellung im Kopf – betrachtet, erscheint mir die Wortwahl, wenn es um Vergewaltigungsmythen geht, auch als zu pointiert oder wenigstens unpräzise.

    Dass mein Text den von dir beschriebenen Aspekt unterbeleuchtet, ändert meines Erachtens aber wenig an der Stossrichtung insgesamt. Für mich stehen vor allem zwei Themen im Vordergrund: 1. Die Rhetorik eines Besitzanspruchs auf Frauen. 2. Die Unverhältnismässigkeit der Anschuldigungen. Selbst wenn es lästig bis bedrohlich war und in manchen Fällen kriminelle Gewalttaten geschahen, so verschwinden diese Situationen im Verhältnis zu den häuslichen Gewalttaten in der durchschnittlichen Schweizer Bevölkerung. Es spricht nur schon Bände, dass es den Frauen zur besagten Zeit tatsächlich nicht möglich war, sich selbst politisch zu verteidigen.

    Am Ende ist es ja dann vielleicht verrückt: Das reale und sehr offensichtliche Leiden von Schweizer Frauen damals an der Gegenwart italienischer Männer speist sich womöglich aus einem verborgenen Leiden an den „heimischen“ Männern. Und diese Dynamik reisst ja bis heute nicht ab, wenn ich an die Einwanderung von Menschen aus arabischen Ländern denke.

    Aber ich frage mich nun natürlich, inwiefern deine und meine Perspektive auf die Frage zur Übereinstimmung kommen können. Mich ärgert – wie bei so vielen Themen – einfach die Heuchelei im Umgang damit. Es ist jederzeit einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen, als wenigstens den Versuch zu machen, dieselben Massstäbe auch auf einen selbst anzuwenden. Insofern trifft die Rede von Mythen zu, als Einzelfälle zu einer pauschalen Verurteilung einer ganzen Gruppe von Menschen führen. Wohltuend wäre es dann vielleicht, wenn das Wissen um häusliche Gewalt in der Schweiz oder in Deutschland entsprechend zur selben Pauschalverurteilung führen würde…

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