Ilmenau: Eine Stadt im Zwischenraum

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Ob ihr Faible für das nature writing an ihrer Geburtsstadt zwischen bewaldeten Hügeln und Bergbaustollen liegt? Die Schriftstellerin Linn Penelope Rieger spürt den Übergängen von Natur- und Kulturlandschaften nach. Von Goethes Weimar im 18. bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika im 21. Jahrhundert sucht sie nach einer Situierung Ilmenaus in der Undefinierbarkeit des Thüringer Walds.

 

von Linn Penelope Rieger

 

Ein Blick von der Spitze des Ehrenbergs

 

Ilmenau hat weder den Charme kleiner Dörfer noch deren Enge, an der mensch sich zeitlebens abarbeiten kann. Es ist aber auch keine Grossstadt, in der es andere Möglichkeiten gegeben hätte als jene, morgens mit der A-Linie oder dem Rad zur Schule zu fahren und jene Kinder zu beneiden, die mit dem Auto gebracht wurden. Die Wege kamen wir weit vor als Kind. Ich erzählte oft, dass ich eine Stunde mit dem Bus fahren würde, heute weiss ich, dass es nicht mehr als zwanzig Minuten gewesen sind. Von der Schwelle unserer Mietwohnung hingegen war es ein Katzensprung zur Spitze des Ehrenbergs, in dessen Steinbruch ich herumgeklettert bin während meiner Aufstiege zum mannshohen Kreuz auf seiner bewaldeten Felsspitze. Der Berg ist winzig, aber für ein Kind hat es gereicht. Von dort habe ich die Stadt überblickt. Den Campus und das Naturschutzgebiet, die angebauten Einfamilienhaussiedlungen an den Hängen Richtung Langewiesen, Öhrenstock, Manebach und Roda, die Wohnblocks der Pörlitzer Höhe und die geisterhaften Gewerbegebiete am Stadtrand. Das winzige Stadtzentrum einheitlich in spätbarockem Stil, weil das Feuer von 1752 den Ort bis auf ein paar Mauerreste vollständig verbrannt hatte. Als Gedenkort besteht bis heute nur das Zechenhaus, vor 1730 als Verwaltungsstube und Kapelle für die Abwicklung des Kupfer- und Silberbergbaus errichtet. Es ist das älteste erhaltene Gebäude der Stadt. Die Sehnsuchtsorte dagegen, die sich mir in den Nullerjahren eröffneten: Mit der Regionalbahn für fünf Euro nach Erfurt fahren, und in Geschäften Kleider ansehen. Da mein Budget für solche Ausflüge, die meine beste Freundin und ich Shoppen gehen nannten, bei zwanzig Euro lag, war nach dem Kauf des Hoppertickets und einer Pommes ziemlich bald das Ende meiner Freiheit erreicht.

 

Der Aufstieg zum Ehrenberg unter einem undefinierbaren Himmel. Im Hintergrund der Gipfel des Tragbergs. (© Linn Penelope Rieger)

 

Dass sich das Gebirge Thüringer Wald aufwarf, ist der Alpenentstehung während der Oberkreide zu verdanken, einer Art spukhaften Fernwirkung, die auch diese weit entfernte Gegend bis in den jüngeren Tertiär hinein anhob: Die Landschaft, in der ich lebte, gebar sich vierzig Millionen Jahre lang. Ilmenau liegt am nördlichen Rand des Gebirges, eingenäht in seinen Saum aus Zechstein. In dieser letzten Senke verfängt sich das Wetter. Und wenn es in Ilmenau eine Unaufrichtigkeit gibt, die mit der Zähigkeit des Zechsteins als wahr verteidigt wird, so ist es der Stadtreim, der am Ziegenbrunnen in der Lindenstrasse zu lesen ist: In Ilmenau, da ist der Himmel blau, da tanzt der Ziegenbock mit seiner Frau im Unterrock. Die Kopie eines Volkslieds, das ein Jahrhundert zuvor in Leipzig veröffentlicht wurde und den Stadtteil besang, in dem ich heute lebe: Kommt mit nach Lindenau / da ist der Himmel blau / da springt der Ziegenbock/auf grüner Au / Dort brüllt der lieben Kuh / der Ochse freundlich zu / drum kommt nach Lindenau / da ist der Himmel blau. Weiter habe ich es nicht geschafft, von einer Au zur nächsten. Ilmenau ist im Laufe seiner Geschichte zwei Mal niedergebrannt, etliche Male halb im Schlamm versunken, eingestürzt, überspült oder vom Sturm niedergedrückt worden.

 

Jenseits der Mauer

 

Von einer Handvoll Familienurlauben innerhalb Deutschlands und dessen Anrainer:innen einmal abgesehen, war der Höhepunkt und zugleich grösste Schock meiner Jugend eine Schulreise nach Ohio. Ich, die ich mit meiner jungen Mutter und jüngerer Schwester erst im Studentenwohnheim gelebt hatte, dann in eine kleine Wohnung mit Garten 250 Meter weitergezogen war, bekam erst mit 18 mein eigenes Zimmer, ein Jahr bevor ich zuhause ausziehen würde. Dementsprechend war ich vollkommen überfordert, als mich meine siebzehnjährige Gastschwester mit ihrem eigenen SUV vom Flughafen abholte und zu sich nach Hause fuhr. Das mehrstöckige Heim stand auf einem vollkommen makellosen Rasen, der sich in alle Richtungen weiter erstreckte als der Pausenhof meiner baufälligen Gesamtschule. Meine Gastschwester bewohnte mit Bruder, Bädern und Gästezimmer die obere Etage. Unten eine Art lila Goldfisch in einem kugelförmigen Glas und ein blondgelockter Hund. Auf der Kücheninsel ein aufgeschlagener Atlas, ich erkannte Deutschland, auf dem mein Gastvater herumtippte, während ich meinen Koffer neben dem zweitürigen Kühlschrank abstellte. Die erste Frage, die er mir stellte: Where is the wall?

 

Im Gegensatz zu den mondänen Einfamilienhäusern einer amerikanischen Vorstadtkulisse drängen sich die bescheidenen Einfamilienhäuser Ilmenaus unscheinbar an den Fuss des Lindenbergs. (© Linn Penelope Rieger)

 

Erstmals Erwähnung findet das, was später Ilmenau werden wird, gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Die Stadtgeschichte ist eine Talgeschichte. Der Fluss Ilm fliesst hier zwischen Zechstein und Rotliegend überm Porphyrgrund, die Siedlungen und Dörfer gehören zur Grafschaft Kevernburg. Lange gehört Ilmenau zu Sachsen, später zu Sachsen-Weimar, erst 1920 wird die Region an Thüringen angegliedert. Bis zur Wende arbeiten die Ilmenauer:innen in den Glas- und Porzellanwerken oder im Bergbau. Mit meiner Geburt Anfang der Neunziger begannen die Schliessungen, die Arbeitslosenquote stieg. Die Stollen, in die mein Grossvater eingefahren war, wurden zugemauert. Manchmal sehe ich mir auf YouTube Videos von Männern an, die in verlassene Stollen klettern. Ich kenne viele alte Eingänge von meinen Streifzügen durch die Wälder, aber habe mich nie hineingetraut.

 

Vor dem Kickelhahn bauen sich die Baudenkmäler der DDR auf. (© Linn Penelope Rieger)

 

Dass meine Mutter in der DDR grossgeworden war, war nichts, was mir aufgefallen wäre. Dass ich mit drei Monaten bereits ganztägige Schichten in der Krippe absass während meine 21 Jahre junge Mutter studieren ging und erst den vierten Mann nach meinem Vater heiraten wollte, und dass wir immer die gleichen Sachen im Supermarkt kauften, überfordert von der grossen Auswahl der Joghurt-Geschmacksrichtungen — war lange schlicht die uns eigene Normalität. Erst später verloren diese Eigenheiten ihren Status als individuelle Eigenheiten — meine Familie wurde zu Ostdeutschen, ich zur Nachwendegeborenen.

 

Party in the USA?

 

Meine zehn Tage in Ohio faszinierten und verstörten mich gleichermassen. Für meine extrovertierte Gastschwester und ihren grossen Freundinnenkreis an der Mädchenschule war ich zu schüchtern. Sie tanzten in der Pause auf den Tischen, nahmen mich mit zu Baseballspielen und Kostümpartys. Wirklich erinnern kann ich mich aber nur an die zahllosen Fahrten auf dem Highway, stets dick belegte Frischkäsebagel auf der Ablage zwischen uns. Ein Song lief immer und immer wieder im Radio: Party in the USA von Miley Cyrus. Ich konnte den Text auswendig, als ich im Flieger zurück nach Thüringen sass. Welcome to the land of fame excess / Am I gonna fit in? / Jumped in the cab, here I am for the first time / Look to my right, and I see the Hollywood sign / This is all so crazy / Everybody seems so famous. All das, was mir als Tochter einer ostdeutschen Familie mit schlesischen und dänischen Wurzeln als Amerikanisch verkauft worden war, war wahr geworden. Für alles dazwischen hatte ich kein Auge gehabt, ich kam zurück nach Hause und sagte: Baseball, Bagel, Cola — es ist genau so, wie ihr euch das vorstellt. Ich hatte geraten, als ich meinem Gastvater gezeigt hatte, wo die Mauer gewesen sein musste. Ich hatte es nicht genau gewusst, und im ersten Moment nicht mal begriffen, was er gemeint hatte, als er von Wall gesprochen hatte.

 

Unbestimmt wie der neblige Himmel franst ein gesichtsloses Ilmenau in die bewaldeten Hänge des Kickelhahns aus. (© Linn Penelope Rieger)

 

Meine Gastschwester kam im Jahr darauf nicht mit nach Ilmenau, als das Rückspiel der Reise ausgetragen wurde. Ich war froh darüber, jedes Mal, wenn ich mit dem Schlüssel, den meine Mutter unter einem zerbrochenen Blumentopf versteckt hielt, die klappernde Eingangstür unserer Wohnung aufschloss, und in das Zimmer huschte, das ich mir mit meiner Schwester teilte. Mittlerweile lief der Song auch bei uns, und wenn ich auf dem Rücksitz unseres alten Renault Rapid zu meinen Grosseltern im Nachbarort fuhr, sang ich leise mit.

 

Zwischen zeitlosen Bergen

 

Als Ilmenauerin ist die Stadt für mich lange gesichtslos geblieben, was noch da ist, fällt mir weniger auf, als das, was fehlt. Den Kreissaal in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr. Die Geburtsstation, auf der ich am Dreikönigstag des Jahres 1992 ins Leben glitt, ist – wie ihr Pendant im sächsischen Hoyerswerda – längst geschlossen; Grimms Buchhandlung, die heute ein Schuhgeschäft ist, aber den Schriftzug an der Fassade behalten hat; das Wäldchen, das zu einem schmalen Birkenstreifen gestutzt worden ist, um einen Globus Baumarkt einzurahmen; die Kletterweide am Studentenwohnheim nur noch ein Stumpf. Auf der Bank am Amtshaus sitzt Goethe in Bronze gegossen und schaut skeptisch über den verlassenen Marktplatz. Es sind die Berge und Täler, die geblieben sind. Acht umschliessen Ilmenau: Ehrenberg, Tragberg, Flossberg, Lindenberg, Kickelhahn, Hohe Schlaufe, Hangeberg, Habichtsberg, Wüsteberg. Der Bergbau hat die Hänge zwar ausgehöhlt, die bestehenden Wälder über Jahrhunderte gerodet und durch Fichtenmonokulturen ersetzt, aber das Gebirge selbst scheint mir in seiner uralten Substanz vergleichsweise unberührt. Vom Ehrenberg am östlichen Rand Ilmenaus blickt mensch Richtung Süden auf die Hänge des Tragbergs. An dessen Fuss fliessen Oehre und Schorte am Grenzhammer in die Ilm, hier beginnt das Schortetal, wo meine Grosseltern ihre drei Kinder in der Reinhardsmühle am Bach aufzogen. Dieses Tal war damals der Arbeitsweg meines Grossvaters in die umliegenden Abbaugebiete, Hasen stoben davon und Fasane flogen auf, wenn er bei Dämmerung zur Schicht aufbrach in die Bergwerksstollen voller Flussspat und Mangan. In südwestlicher Richtung knickt die Schorte nach gut fünf Kilometern zwischen Erbskopf und Mittelberg nach Süden ab, in einen heute geschützten und wilden Wald und entspringt drei Kilometer weiter an den Hängen des Pferdebergs im Finsteren Loch, einer kleinen Felsenschlucht mit Wasserfall. Am parallel zum Staubecken Knöpfelstaler Teich verlaufenden Schotterweg brannte von 1693 bis 1763 der Hohe Ofen. In der mittlerweile völlig verwilderten Enge befand sich ein ganzes Industriegebiet mit Pochwerk, Wohnhäusern, Scheunen und Ställen rund um das Grubenfeld Gottes Gabe im angrenzenden Nesseltal. Im Hohen Ofen wurden die Erze vom Muttergestein getrennt, der Kontakt mit dem salzigen Kühlwasser liess die Schmelzen sich zu Schlacke verfestigen. Zwischen den Kieseln am Wegrand finden sich noch immer blau glänzende Schlacken aus der Eisenverarbeitung.

 

Goethes Spukgestalten im nächtlichen Wald

 

Dort, wo die Schorte die Grenze zwischen dem Herzogtum Sachsen-Weimar und dem Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen bildete, sass Goethe mit seinen Dichterfreunden Karl Ludwig von Knebel und Karl Siegmund von Seckendorff und beschrieb seine Übernachtung in einer selbstgebauten Holzhütte im Gedicht Ilmenau am 3. September 1783.

Anmutig Tal! du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste;
Entfaltet mir die schwerbehangnen Äste,
Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein,
Erquickt von euren Höh’n, am Tag der Lieb’ und Lust,
Mit frischer Luft und Balsam meine Brust!

(…)

Melodisch rauscht die hohe Tanne wieder,
Melodisch eilt der Wasserfall hernieder;
Die Wolke sinkt, der Nebel drückt ins Tal,
Und es ist Nacht und Dämmrung auf einmal.

Wachen und Schlafen verschwimmen angesichts dieser Einkehr ins zwielichte Tal. Wo vorher Aussicht und erhabene Distanz den Blick weit machten, wird er nun im Dunkel auf sich selbst zurückgeworfen, beinahe übersinnliche Stimmen flüstern dem Dichter aus dem Innern des Körpers und dem Innern des Walds zu — doch Goethe, trotz aller Schwierigkeiten optimistisch, lässt die Spukgestalten rasch im aufziehenden Licht der Sonne verdampfen.

Die Wolke flieht, der Nebel fällt,
Die Schatten sind hinweg. Ihr Götter, Preis und Wonne!
Es leuchtet mir die wahre Sonne,
Es lebt mir eine schönre Welt;
Das ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen,
Ein neues Leben ist’s, es ist schon lang begonnen.

(…)

Und Seil und Kübel wird in längrer Ruh’
Nicht am verbrochnen Schachte stocken;
Es wird der Trug entdeckt, die Ordnung kehrt zurück,
Es folgt Gedeihn und festes ird’sches Glück.

 

Der dunkle Schoss des Thüringer Walds

 

Der Wald hat den Ilmenauer:innen nichts geschenkt. Wie Bodenschätze angehäuft wurden, häuften sich gleichermassen Schulden an, die Goethe noch siebzig Jahre danach beschäftigten. Er war begeistert von Ilmenau und wollte der Stadt zu Stabilität und Einkünften verhelfen, zu einer Zeit, als die Wege abseits des Stadtkerns mehrheitlich unbefestigt und verschlammt waren. Der Ehrenberg war noch nicht mit den Gebäuden der Technischen Universität überzogen, im Schortetal wie im Rest des Thüringer Walds herrschten die Laubwälder. Der Auentalgrund bestanden von Bruch- und Pupurweiden, Erlen, am Hang Edel- und Ebereschen, Vogelbeeren, Stein- und Trauben-, Stiel- und Sommereichen, Schwarzerle, Ahorn, Rotbuche und Zitterpappel oder Espe, vereinzelte Edel- und Weisstannen, eingestreute Fichten.

 

Im Schortetal. (© Linn Penelope Rieger)

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Es gibt im Schortetal heute nur noch eine Gaststätte mit Bergbaumuseum und die Voglersmühle, im Dickicht der Wege alte Schutzhütten und die längst nicht mehr für den Transport der Bodenschätze genutzten Hunte der Bergleute, rostig und eingefallen. Der Steinbruch am Grenzhammer ist längst überwuchert, in Sichtweite verrotten Kalkofen, Drahtmühle und Löfflershammer. Auf dem Weg zur Schortemühle steht die schiefergedeckte Luthersteufe, ein ehemaliges Privatmuseum. Wenige Jahre vor seinem Tod fand mein Grossvater einen Mann, der sich etwas abseits der Waldwege des Schortetals in seinem Auto das Leben genommen hatte. Er ging im Alter diese Wege jeden Tag, und die ohnehin schon verfallenden Zeugnisse seines früheren Lebens zerfielen endgültig. Wir essen in der Schortemühle noch immer jedes Jahr an den Weihnachtsfeiertagen, ohne meinen Grossvater zwar, aber in wachsender Zahl, und zeigen den Kindern dieser Familie die flache Uferstelle, an der sich die Schorte zu einem natürlichen Kneippbecken verbreitert und eine rutschige Brücke jenen den Übergang erleichtert, denen das Wasser zu kalt ist. Manchmal gehe ich bis zu den Ruinen der Reinhardsmühle, jedes Mal kostet es mich mehr Zeit, die Überreste zu finden. Die Mauern, die den Raum begrenzten, lösen sich auf bis zur Unkenntlichkeit.

 

Der Wald am Kienberg verschwimmt beinahe mit dem nebligen Himmel. (© Linn Penelope Rieger)

 

In den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt waren Täler wie dieses in regenreichen Zeiten von einem Berg zum anderen in unpassierbare Sümpfe verwandelt worden, nur von Auerochsen, Wildschweinen, Hirschen, Bären und Wölfen bewohnt. Vereinzelt lebten Köhler in den Wäldern, die Siedlungen der Germanen begannen erst in den flacheren, freieren Landstrichen rund um Arnstadt. Mit der kontinuierlichen Besiedlung zum Schutze Thüringens vor sorbischen Gruppen war die Verdrängung grosser Räuber und scheuen Jagdwilds nur eine Frage der Zeit. Vermutlich bauten Mönche im 8. Jahrhundert an der Ilm eine Kirche, um die verstreuten heidnischen Bewohner:innen vom Christentum zu überzeugen. Aus der Siedlung am Ilmenfluss wurde an der Ilmenaha, dann Ilmenach, Ilmenah, Ylmena, Ilmenav, Ilmenaw, Illmenau, ab 1680 dann Ilmenau.

 

Kyrills und andere Kahlschläge

 

Was vor den Verwüstungen durch den Orkan Kyrill 2007 undenkbar war, ist heute, wenn auch aus anderen Gründen, zum dauerhaften Zustand geworden. Die Fichtenwälder sterben ab, ganze Bergrücken sind entwaldet und liegen brach. Im Schortetal verlaufen die Waldwege meiner Kindheit nun unter freiem Himmel. Die kahle Schneise, die der Orkan Kyrill auf dem Lindenberg hinterlassen hat, ist schon im Folgejahr flaumig bepflanzt worden mit zarten Rotbuchen, Bergahorn, Douglasien und Weisstannen, Winterlinden, Lärchen, Birken, Ebereschen, Fichten. Ein Aufforstungskonzept, das zukünftigen Stürmen entgegenwirken will. Eine Pressemitteilung von 2022 berichtet von Baumgutscheinen, die für neugeborene Ilmenauer:innen ausgegeben werden — die das Stadtwappen (gekrönter Doppeladler, schwarze Henne auf Bergspitze, Türme, Blattwedel) nicht mehr in der Geburtsurkunde tragen, weil in der nächsthöheren Kreisstadt geboren wird. Deren Eltern pflanzen damit dann Bergahorn oder Lärchen auf kommunalen Waldstücken. Forstroboter und andere Massnahmen sollen in Zukunft den Zustand des Thüringer Waldes verbessern. Die Baumgrenzen verschieben sich mal über Nacht, mal als Ergebnis langwieriger Bemühungen. Heute habe ich einen anderen Text im Sinn, wenn ich in den Ilmenauer Tälern untertauche. Verfasst von Sidonia Hedwig Zäunemann, der ersten Frau, die sich unter Tage wagte, die als Mann verkleidet in den Ort ritt, um ihre Schwester zu besuchen, die einfuhr in die Stollen und danach ein langes Gedicht schrieb. Und die wenig später im Alter von 29 Jahren bei einem ihrer Streifzüge in der Wilden Gera ertrank, keine zehn Kilometer von hier. 

Des Bergwerks Schönheit nimt mich ein,
Ich will / ich muß ein Bergmann seyn.
Ich kan die Regung meiner Brust
Ohnmöglich länger unterdrücken:
Ich muß zu meiner Herzens-Lust
Mich mit dem Bergmanns-Kleide schmücken.

(…)

Weswegen soll denn nicht ein Frauenbild auf Erden
Durch Leder, Licht und Fahrt ein kühner Bergmann werden?
Auch diese That muß rühmlich seyn!
Glück auf! ich fahre freudig ein.

Das Unterholz auf dem Ehrenberg ist dicht geblieben abseits des Pfads zum Kreuz. Dort steige ich ab ins Tal, ab und an lasse ich einen Kiesel in meine Taschen gleiten. Ich schweige, denn die Feder bricht, / Ja heut’ ist Fest, ich mache Schicht!

 

 

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  1. Liebe Linn und Lieber Fabian, danke für diesen wunderbaren Einblick in die mir bis heute verborgen gebliebenen Hinter- und Untergründe von Ilmenau.
    Ich habe den Text genossen 🙂
    Obwohl ich selbst aus Bad Blankenburg stamme, sind mir wohl noch einige Geheimnisse zu lüften auf meinem gedanklichen Weg durch Thüringen.

    Liebe Grüsse von der anderen Seite der Bergauffaltung.
    Ich winke vom Uetliberg rüber zum Kickelhahn.
    Michi

  2. Auch ich habe die so wunderbar bildhafte und poetische (für mich nur Gedanken-)Wanderung genossen, die nicht nur einen lebendigen Einblick in die Landschaft sondern auch Geschichte, privates und gesellschaftliches Leben und viele menschliche Themen schenkte. DANKE

  3. Tage nach der Lektüre klingt alles weiter nach: die schwebende Stimmung, die schlichten Fotografien, das Ineinander von historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen und literarischen Texten: einfach, luftig, inhaltreich – herzlichen Dank

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