Kinderbetreuung als Kampfplatz: Mütterliche Mittagstische in der BRD und der Schweiz
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Während des Kalten Kriegs erwies sich die Familien- und Bildungspolitik als besonders symbolträchtiger Kampfplatz. Die unmittelbare Frontstellung des geteilten Deutschlands akzentuierte entsprechend Unterschiede in der Haltung zur Kinderbetreuung und -erziehung, die auch hinsichtlich der Infrastruktur bis heute markant geblieben sind. Im Schatten der Blöcke trieb die eigenwillige Schweiz die Familienpolitik der alten BRD erst recht auf die Spitze.
Unversöhnliche Gegensätze
Der Krippenforscher Karl Zwiener, der das Krippenwesen der DDR über Jahrzehnte verfolgt hatte, stellte bereits 1994 fest, dass durch die «permanente politische Konfrontation der Systeme die institutionalisierte Betreuung der Kinder in der Bundesrepublik entscheidend gebremst und in der DDR bewusst gefördert wurde.» Die Unterschiede waren, so Zwiener weiter, entsprechend enorm, wie das Beispiel der Krippenbetreuung zeigt: «In den alten Bundesländern besuchten bis 1989 ca. 2% der Kinder unter drei Jahren Kinderkrippen, in der DDR ca. 60%.» Im Wetteifer mit dem je anderen Landesteil war im Kontext des Kalten Kriegs ideologische Unnachgiebigkeit oft das Mittel der Wahl.

Nicht zuletzt der spezifischen Situation Deutschlands wegen also, das als geteiltes Land die Fronten des Kalten Kriegs wie kein anderes verkörperte, fiel das sowjetisch inspirierte System staatlicher Kinderbetreuung in der DDR – auch im Vergleich mit anderen Ostblockstaaten – besonders rigide aus. Unrühmliches Symptom des forcierten Ausbaus der institutionalisierten Kinderbetreuung in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren die sogenannten Wochenkrippen, in denen bereits kleinste Kinder unter der Woche ohne Notwendigkeit Tag und Nacht fremdbetreut wurden. Dass Kinder unter dieser Form der Fremdbetreuung litten, dokumentiert die zunehmende Aufarbeitung.
Umgekehrt hinkte die BRD – ähnlich wie die Schweiz – mit der institutionellen Kinderbetreuung im Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten nicht nur hinterher, sondern verweigerte sich dieser geradezu. Bis heute bleibt die Politik hinter den gesellschaftlichen Gegebenheiten zurück. Dass Frauen unter dieser Situation leiden und litten, dokumentiert die Frauenbewegung. Altersarmut etwa, darauf wies der «Neunte Familienbericht» noch 2021 hin, stellt für teilzeitarbeitende Frauen im Scheidungsfall aufgrund geringer Rentenansprüche – nicht nur in der BRD – bis heute eine Gefahr dar.
Wer erzieht die Kinder?
Das Thema der Kindererziehung ist und bleibt sensibel. Eltern – zumindest im europäischen Kleinfamilienkontext von Vater, Mutter und Kindern – beanspruchen das Privileg, ihre Kinder nach eigenem Gutdünken zu erziehen. Gleichzeitig sind sie aber auch auf Unterstützung bei der Betreuung angewiesen. Brechen die traditionellen Verwandtschaftsnetzwerke der dörflichen Grossfamilien aufgrund der zunehmend nötigen Mobilität der Arbeitnehmer:innen auf der Suche nach Arbeit in den Städten weg, müssen andere – vor allem staatliche – Strukturen einspringen.
Vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage resultierten aus der Konfrontation zwischen Ost und West im Kalten Krieg gerade im deutschsprachigen Raum Extrempositionen. Die sozialistische DDR auf der einen Seite liess den Kleinfamilien unter dem Druck der geforderten Vollzeitarbeit beider Elternteile teilweise mehr Hilfe angedeihen, als diesen lieb war. Die Kleinfamilien auf der anderen Seite erfuhren von den kapitalistischen Ländern BRD und Schweiz bisweilen bewusste Vernachlässigung, sodass die Kinderbetreuung häufig allein innerhalb der Kleinfamilie sowie mehr oder weniger zuverlässiger Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen organisiert werden musste.
Normalfamilie oder ihre Auflösung im sozialistischen Kollektiv
Forderten die sozialistische Ideologie mit dem vorgeblichen Ziel der Emanzipation der Frau und die ökonomische Lage nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR einerseits erwerbstätige Mütter, bemächtigte sich der Staat andererseits aus unterschiedlichen Motiven der Kindererziehung. Die staatliche Kinderbetreuung und -erziehung sollte neben schulischer Bildung einen neuen – eben sozialistischen – Menschen hervorbringen, der den liberal-kapitalistischen Individualismus zugunsten eines kollektivistischen Selbstverständnisses überwindet. Zugleich erlaubten die staatlichen Einflussmöglichkeiten aufgrund der institutionellen Betreuung und die entsprechende Schwächung der Familienbeziehungen eine effektivere Kontrolle der Bevölkerung, wie Amina Gusner, Regisseurin des Spielfilms «Wenn Mutti früh zur Arbeit geht» (2022) bemerkt.

Wo der realexistierende Sozialismus der DDR sich durch die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch der Arbeitskraft der Mütter bediente, drängte der konservativ-liberale Kapitalismus der BRD die verheirateten Frauen – nach der Redewendung Kinder, Küche, Kirche – ins Haus, um ihnen vornehmlich Fürsorge- und Reproduktionsarbeit aufzubürden. In Abgrenzung zur DDR mit ihren Kollektivierungsbestrebungen einerseits und zum Nationalsozialismus mit seiner totalitären Vereinnahmung andererseits legte die BRD die Verantwortung der Kindererziehung wieder in den Schoss der Familie. Der Wohlstand der aufblühenden Wirtschaften während des Wirtschaftswunders machte überdies die Fremdbetreuung von Kindern selbst in Arbeiter:innenkreisen obsolet, sodass sich auch Arbeiter:innen-Familien das bürgerliche Familienmodell ohne die Erwerbstätigkeit der Frau aneignen konnten. Die Fünfziger und Sechziger Jahre gerieten zum ‹goldenen Zeitalter der Normalfamilie›.
Kein Kampfplatz so schön wie die Familie
Was im Westen einesteils durch ökonomische Umstände begünstigt wurde, trieb die Politik anderenteils voran. Der «Bildungs- und Familienpolitik», schreibt die Historikerin Karen Hagemann im Sammelband zu den «Zeitpolitiken von Kinderbetreuung und Schule nach 1945 im europäischen Vergleich» (2015) über die BRD während des Kalten Kriegs, «kam eine zentrale Funktion in der politischen Abgrenzung zum DDR-Regime zu.» Das Leitbild der bürgerlichen Normalfamilie mit dem Brotverdiener und der Hausfrau wurde in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur aufgestellt, sondern bestand auch bis nach der Jahrtausendwende. Noch der «Siebte Familienbericht» hielt 2006 fest, die Politik habe bis dato wesentlich «im Sinne des Erhalts der Versorgerehe» agiert.
Die Kleinfamilie als reproduktive Keimzelle, so die Mehrheitsauffassung im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg, galt es zu schützen. Je jünger die Kinder waren, umso mehr Zeit sollten sie mit den Eltern, insbesondere den Müttern, verbringen. Selbst in «DGB- und SPD-Kreisen» sowie bei «Funktionärinnen» galt diese Haltung noch «bis weit in die 1960er Jahre», wie Hagemann ausführt. Einen kritischen Blick wirft sie dabei auch auf die Forschung: «Bestärkt wurden sie in dieser Haltung von der sozialwissenschaftlichen Forschung, die die Müttererwerbstätigkeit lange als soziales Problem wahrnahm und unüberprüft die Notwendigkeit der uneingeschränkten mütterlichen Zuwendung für die Entwicklung des Kindes behauptete.»
‹Rabenmütter› und ‹Schlüsselkinder›
Mittels Kampfbegriffen wie ‹Rabenmutter› oder ‹Schlüsselkind› diffamierten Gesellschaft und Politik erwerbstätige Mütter und sorgten sich um das Wohlergehen unbeaufsichtigter Kinder, anstatt Betreuungsangebote zu schaffen. Wenn diese Rhetorik in den parlamentarischen Demokratien der BRD oder der Schweiz auch weniger orchestriert auftrat, war sie Hinsichtlich der Wirkung dennoch vergleichbar mit der Staatspropaganda in der DDR im Kontext der Wochenkrippen. «Noch 1982», zitiert Hagemann eine damalige Studie, «glaubten 87 Prozent aller westdeutschen Frauen, dass Kleinkinder unter der Berufstätigkeit der Mutter leiden würden.»

Solche Annahmen erschwerten den beruflichen Wiedereinstieg nach Schwangerschaft und Geburt und banden die Ehefrau – durchaus im Sinne des politisch gewollten Schutzes der Kleinfamilie – an das Einkommen des Ehemanns. In der DDR dagegen ermöglichte die Erwerbstätigkeit den Frauen deutlich mehr Freiheit bezüglich Partnerwahl und Scheidung, wie der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch «Lütten Klein» (2019) konstatiert: «Dass Frauen durch Scheidungen in die Armut abrutschten, war die Ausnahme, das gemeinsame und oft gleichberechtigte Einzahlen in die Haushaltskasse die Regel.»
Kein Kampfplatz so schön wie die Ehe
Zugleich entliessen die negative gesellschaftliche Haltung zur Erwerbstätigkeit von Frauen sowie das überzogene Pochen auf Eigenverantwortung die öffentliche Hand in der BRD nicht nur aus der Verantwortung für die Betreuung von Kleinkindern, sondern sie schlug auch auf den Umgang mit älteren Kindern durch. Die Fremdbetreuung von Kindern über die obligatorische Schulzeit hinaus blieb eine Notmassnahme mit dem Stigma der Armut. In der DDR dagegen wurde die Fremdbetreuung von Kindern schichtübergreifend zur Normalität.
Begriff der realexistierende Sozialismus prinzipiell alle gesellschaftlichen Bereiche als der staatlichen Einflussnahme unterworfen, hielt der liberal-konservative Kapitalismus im Westen die Trennung von öffentlichen und privaten Räumen ideell aufrecht. Insbesondere in das Familienleben sollte sich der Staat nicht einmischen. Verschleiert wurde dadurch jedoch, dass die Rahmenbedingungen, in denen Familien sich einzurichten haben, jederzeit der politischen Gestaltung unterliegen. Dass selbst das Ehebett zum Kampfplatz werden kann, widerspiegelte sich im feministischen Slogan der 1970er Jahre: «Das Private ist politisch.»
Und wir platzieren doch fremd!
Ungeachtet der vermeintlichen Schutzbedürftigkeit der Familie und der allgemeinen Ablehnung von Fremdbetreuung sahen sich Staaten im Westen dennoch genötigt, gar zum Mittel der Fremdplatzierung zu greifen. Machte in der DDR das Angebot der Wochenunterbringung oft den Anschein von Freiwilligkeit, trat der Staat in der BRD oder der Schweiz nicht selten paternalistisch auf. Entsprachen die familiären Lebensbedingungen nicht dem erwünschten Idealfall, liess das präventive Einschreiten unabhängig von einer Kindsgefährdung gerade die Schutzbedürftigsten eine staatliche Doppelmoral spüren.
Der vermeintliche Schutz bezog sich vornehmlich auf das Konstrukt der Versorger-Hausfrauen-Ehe mit den dazugehörigen Kindern als Ganzes. In der Schweiz etwa gilt Gewalt in der Ehe erst seit 2004 als Offizialdelikt, das von Amts wegen verfolgt wird. Und in der BRD änderte sich die gesetzliche Lage mit der Anpassung von §177 StGB (1997) und dem Gewaltschutzgesetz (2002) erst um die Jahrtausendwende nennenswert. Während die Familie etwa eines gewalttätigen Hausvaters in der Schweiz oder der BRD Schutz erfuhr, konnten alleinerziehenden Müttern oder prekären Migrant:innen Kinder zum Schaden aller weggenommen werden.
Gegensätzliche Ideologie, gleiche Erfahrung
Aus unterschiedlichen Gründen machten Hundertausende von Menschen in der DDR sowie in der BRD und der Schweiz trotz aller ideologischen Differenzen zwischen den Systemen offenbar ähnliche Erfahrungen. Die Erziehungswissenschaftlerin Heike Liebsch fasst die Situation in ihrem Buch «Wochenkinder in der DDR» (2023) nüchtern zusammen: «Das wesentliche gemeinsame Merkmal war, dass viele der fremdbetreuten Kinder über längere Zeit nicht bei ihren Eltern aufwuchsen, obwohl keine häusliche Kindeswohlgefährdung vorlag.»
Bemerkenswerterweise ergab sich aus dieser Situation heraus ausgerechnet in der Schweiz eine besonders fruchtbare Forschungslage. Am Marie Meierhofer Institut der Universität Zürich wird bis heute eine Langzeitstudie zu den Folgen frühkindlicher Fremdplatzierung in Kinderheimen weitergeführt. Die Institutsgründerin, die Kinderärztin Marie Meierhofer, begann bereits in den Fünfzigerjahren damit, die Lebensgeschichten fremdplatzierter Kinder, die meist bereits nach der Geburt in Heimen untergebracht worden waren, zu verfolgen. 2024 wiesen die Autor:innen einer Studie des Marie Meierhofer Instituts darauf hin, dass die Effekte der Fremdplatzierung, die am häufigsten auf emotionale und kognitive Vernachlässigung zurückgehen, für die Betroffenen auch 60 Jahre später noch spürbar sind.

Erst ein Wandel in den gesellschaftlichen Verhältnissen und die Anerkennung der Einsichten von Fachleuten nicht zuletzt, was die Bezugspersonenbindung betrifft, sollten Ende der Sechzigerjahre allmählich zu einer restriktiveren und weniger moralisierenden Handhabung von Fremdplatzierungen in der BRD und der Schweiz führen. Negierte die Staatsführung der DDR im Kontext der Wochenkrippen wissenschaftliche Einsichten insbesondere zur Bezugspersonenbindung zunächst noch, glichen sich die Fremdplatzierungspraktiken in Ost und West dennoch mehr und mehr an. Meist rechtfertigten ab den Achtzigerjahren auch in der DDR vor allem schwierige soziale Verhältnisse eine wochenweise oder gänzliche Fremdplatzierung, auch wenn etwa Mütter im Schichtbetrieb bisweilen auf eine Wochenbetreuung angewiesen blieben.
Infrastruktur: Betreuung oder Beschulung?
Die Fronten begannen sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwar aufzuweichen. Die ideologischen Gegensätze hinsichtlich der Kinderbetreuung und -erziehung während des Kalten Kriegs schlugen sich aber auf der Ebene der Infrastruktur nieder. Kümmerte sich der Staat in der DDR nicht nur um die Betreuung, sondern wollte auch die Erziehung bestimmen, musste die entsprechende Infrastruktur bereitgestellt werden. Von Kinderkrippen über Ganztagesschulen mit Hortbetreuung reichte dieses staatliche Bildungs- und Erziehungssystem bis zu den Massenorganisationen der Pionierorganisation «Ernst Thälmann» (Pioniere) und der Freien Deutschen Jugend (FDJ).

Mögen die Massenorganisationen – die Pioniere und die FDJ – als paralleles Erziehungssystem zur Schule auch einen dezidiert kritischen Blick verdienen, ist es eine Tatsache, dass auf dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR eine Betreuungsinfrastruktur entstand, die in den alten Bundesländern nicht vorhanden war und bis heute nicht vorhanden ist. Abgeschnitten von den europäischen Reformbewegungen aufgrund der zwölf Jahre Nationalsozialismus orientierte sich die westdeutsche Bildungspolitik vielmehr an der «neuhumanistischen deutschen Bildungstradition des 19. Jahrhunderts», die «Bildung und Kultur zum Kern der ‹deutschen Nation› erklärte», wie Hagemann formuliert. Jede Form von ganztägiger Bildung und Erziehung durch staatliche Institutionen schien dem Vorrang der Familie zuwiderzulaufen, sodass die Fortführung des traditionellen Halbtagsschulsystems resultierte.
Mittagessen am Familientisch statt Fremdbetreuung
Besondere Symbolkraft beim Schutz der bürgerlichen Kleinfamilie kam im liberal-konservativen Westen dem Mittagessen zu. Die Kinder sollten mittags zu Hause am mütterlichen Tisch speisen. In der BRD führte das zum erwähnten Halbtagsschulsystem, wonach die Schule am frühen Nachmittag zu Ende sein sollte. Die Schweiz wiederum entschied sich für ein ganztägiges Schulsystem mit ausgedehnter Mittagspause, sodass die Kinder zwischen dem Vormittags- und dem Nachmittagsunterricht nach Hause gehen konnten.
Das Schulsystem in der Schweiz erschwerte die Erwerbstätigkeit von Frauen noch mehr als in der BRD. Selbst eine Halbtagserwerbstätigkeit musste sich als schwierig gestalten, wenn die Kinder das Haus erst um 08.00 Uhr verliessen und bereits um 11.30 Uhr wieder nach Hause kamen, nur um am Nachmittag weitere zwei Stunden in der Schule zu verbringen. Diese Situation stand jedoch im Einklang mit der sowohl bei Männern als auch bei Frauen vorherrschenden konservativen Gesellschaftsvorstellung. Im direktdemokratischen System der Schweiz sprach die männliche Bevölkerung den Frauen 1971 das Wahlrecht auf Bundesebene erst unter dem Druck eines Beitritts zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu. Die vollständige Umsetzung auf kantonaler Ebene sollte noch bis 1991 dauern.
Sowohl in Westdeutschland als auch in der Schweiz bestehen die jeweiligen Kinderbetreuungssysteme im Grossen und Ganzen fort. Ergänzende Angebote im Sinn von Ganztagesschulen mit Hortbetreuung sind weder flächendeckend noch obligatorisch. Vielmehr wird oft kostenpflichtige Betreuung nach Bedarf angeboten, sodass der Eindruck entsteht, die parlamentarische Politik kümmere sich um die Bedürfnisse der Bevölkerung, die sich nach den zwei Jahrzehnten der «kulturellen Dominanz» der «Ernährer-Hausfrau-Familie», wie Karen Hagemann auf den Punkt bringt, seit den 1970er Jahren allmählich zu verändern begannen.
Wenn es die Wirtschaft sagt?
Wie in der DDR, wo die stetige Abwanderung die Eingliederung der Mütter in die Arbeitsbevölkerung jenseits aller ideologischen Emanzipationsbestrebungen bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zur Notwendigkeit gemacht hatte, sorgte in der BRD die Situation auf dem Arbeitsmarkt ab den 1970ern für Veränderungen. Das Ausbleiben der zugewanderten Arbeitskräfte aus Ostdeutschland nach dem Mauerbau einerseits und die – innen- wie aussenpolitisch – zunehmend schwierigere Rekrutierung von Gastarbeiter:innen verlangte nach der Arbeitskraft der Mütter. Erst als «die boomende Wirtschaft zunehmend für eine Teilzeitbeschäftigung von Ehefrauen und Müttern warb, begann sich», wie Hagemann bezeichnenderweise ausführt, «die gesellschaftliche Einstellung zur Müttererwerbstätigkeit langsam zu wandeln.»

Neben dem unmittelbaren Druck der Wirtschaft sorgten auch demografische Umstände für ein allmähliches Umdenken in der BRD. Der Mangel an Ganztagsangeboten für Kinder auf allen Altersstufen führte nicht nur zu einer im europäischen Vergleich tiefen Erwerbsquote von Frauen und der zunehmenden Klage über das verschenkte Potenzial gut ausgebildeter Frauen, sondern auch zu einem rasanten Geburtenrückgang vom Nachkriegshöchststand von über zwei Kindern pro Frau im Jahr 1970 auf das bestehende Niveau von rund 1,4. Hinzu kamen ab den 2000ern alarmierende Ergebnisse der PISA-Studien und Kritik bezüglich unzureichender Geschlechtergleichstellung von Seiten der Europäischen Union und der OECD.
Mit Blick auf den erwähnten «Siebten Familienberichts» liegt Hagemanns Fazit nahe: «Ignoriert wurde bei dieser Politik nicht nur der sich seit den 1960er Jahren stetig beschleunigende strukturelle Wandel von Ehe, Familie und Geschlechterbeziehungen und die wachsende Kinderarmut, sondern auch der Mütter- und Elternwille. Die Politik nahm schlicht nicht zur Kenntnis, dass der Bedarf an ganztägiger Betreuung von Kindergarten- und Grundschulkindern kontinuierlich sehr viel größer war als das Angebot.»
Erwartungsgemäss änderte sich die Haltung bezüglich obligatorischer Ganztagsbetreuung in der Schweiz langsamer als in der BRD. Die Erziehungswissenschaftlerin Claudia Crotti führt im erwähnten Sammelband eine Studie aus dem Jahr 2000 an: «Laut einer Untersuchung in der Stadt Bern beansprucht lediglich ein Drittel der Eltern mehr als drei Betreuungseinheiten pro Woche.» Darin widerspiegelt sich nicht nur ein geringer Fremdbetreuungsbedarf meist aufgrund von Teilzeiterwerbsarbeit der Mütter, sondern auch eine anhaltende Skepsis gegenüber allzu umfangreicher Fremdbetreuung der eigenen Kinder. Entsprechend stellt etwa die Stadt Zürich erst ab dem Schuljahr 2023/2024 im Verlauf von sieben Jahren etappenweise zumindest ab der Primarschulstufe auf Ganztagesschulen mit kostenloser Betreuung über Mittag und nach Schulende bis 16 Uhr um. Die Versorgung der Kinder unter einem Dach ist jedoch nicht zwingend gewährleistet, sodass Wege zwischen Schule und Hort anfallen können.
Für einmal doch eine lohnende Tradition?
Dass sich in der BRD die gesellschaftliche Haltung zur Fremdbetreuung von Kindern allmählich änderte und die Politik sich, wenn auch nur zögerlich, des Problems anzunehmen begann, kann nicht über die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hinwegtäuschen. Die Vollzeiterwerbsquote von Müttern ist in Ostdeutschland nach wie vor höher als in Westdeutschland. Das liegt einerseits an einer positiven Einstellung im Osten gegenüber der Erwerbstätigkeit von Müttern. Andererseits hebt Hagemann «das sehr viel besser entwickelte Ganztagsbildungs- und Betreuungsnagebot nicht nur für Kleinkinder, sondern auch für Schulkinder» als «wichtige Voraussetzung» hervor. Trotz der Verwerfungen nach der Wende entwickle sich das Bildungs- und Betreuungsangebot in den neuen Bundesländern «ganz in der Tradition der DDR», unterstreicht Hagemann in einem durchaus positiven Sinn.
«Gewann» das Betreuungssystem der DDR nach der Wende, so Hagemann weiter, auch «keine Vorbildfunktion für die alten Bundesländer», nähern sich die Betreuungs- und Bildungssysteme in den alten Bundesländern und der Schweiz mittlerweile dennoch mehr und mehr den Verhältnissen in Ostdeutschland an. Mit dem Rückbezug auf das 19. Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD und der Mentalität der geistigen Landesverteidigung aus dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz wird ein national-konservativer Zug im deutschsprachigen Raum erkennbar, den die sozialistische DDR unter grossen Anstrengungen zu überwinden versuchte. Wo diese Anstrengung immer wieder in die Gewalt eines autoritären Staats umschlug und grösstenteils ins Leere lief, trug sie in manchen Bereichen wie der Kinderbetreuung und einer grösseren Unabhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern doch Früchte bis weit über das Ende der DDR hinaus.
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