Sächsische Schweiz: Von der Romantik des Kletterns
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Berühmt ist die Sächsische Schweiz für ihre Burgen wie die Festung Königstein oder die spektakuläre Basteibrücke und natürlich auch für Maler wie Caspar David Friedrich. Dass an den bizarren Felsen auf eigenwillige Weise geklettert wird, ist weniger bekannt. Im März 2024 wurde das sächsische Klettern zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands erklärt.
Gründschnäbel am Grossen Zschirnstein
Wir spürten zwar nicht gerade den Tod im Nacken, wie der Gassenhauer «Bergvagabunden» beschwört. Die Angst allerdings kroch uns dennoch mit jedem Meter tiefer unter die Haut. Mitten in der achtzig Meter hohen Südwand des Grossen Zschirnsteins pfiff der Wind so stark um unsere Nasen, dass er die locker geworfenen Sicherungsschlingen gleich wieder von den Felszacken riss.
Nun mögen alpenbewanderte Kletterer:innen einwenden, dass achtzig Meter nicht gerade viel sind. Zugegeben: Der höchste Berg der Sächsischen Schweiz, eben der Grosse Zschirnstein, ist mit rund 560 Metern weder besonders beeindruckend, noch weist er eine markante Form auf. Im Vergleich mit den bizarren Felskegeln, die das Elbsandsteingebirge so berühmt machen, ist der sanfte Tafelberg am südlichen Elbufer ziemlich unspektakulär.
Wie ernst die Angaben im Kletterführer – «fast schon hochalpine Bergfahrt» – zu nehmen sind, ahnten wir – Grünschnäbel im Sandsteinklettern der Sächsischen Schweiz – nicht. Auf den gesamten achtzig Metern fanden wir nicht einen Haken. Und obwohl wir «physisch und psychisch in der Lage sind, Stand an selbst angebrachten Schlingen zu machen», wie es der Kletterführer forderte, geriet uns die Kletterpartie zu einem veritablen Abenteuer. Denn Haken vermitteln nicht nur Sicherheit, sie dienen auch zur Orientierung. Den Weg durch die Felswand aber – und nicht eben den geradesten – mussten wir (immerhin mit Hilfe einer Skizze) selbst finden.
Auf dem Gipfel verrieten uns drei Franken, die hinter uns die Wand heraufkamen, dass Klettern in der Sächsischen Schweiz nicht einfach mal ein bisschen klettern bedeutet. Sie reisten fast nur noch in die Sächsische Schweiz, weil das Klettern hier ursprünglicher sei, meinten sie. Ein Abenteuer eben, bei dem die Kletterer:innen sowohl an den Felsen als auch in den Wäldern den Weg noch suchen und für ihre Sicherheit selbst besorgt sein müssten. Dann stapften sie auf Schleichwegen davon. Wir dagegen – gewöhnt an die Schweizer Tourismusinfrastruktur – verirrten uns auf ihren Spuren.
Wer am Ende den Heimweg nicht mehr findet oder es einfach rustikal mag, campiert gleich unter den höhlenartigen Vorsprüngen am Fuss der ausgewaschenen und -geblasenen Sandsteinfelsen. Das sogenannte Boofen ist an bestimmten Stellen des Nationalparks Sächsische Schweiz außerhalb der Brutzeit eigens für die Kletterer:innen zugelassen. Mit Lagerfeuerromantik ist es angesichts der allgemeinen Waldbrangefahr jedoch längst vorbei. 2022 brannte der Wald lichterloh.
Beim Chronisten und Fotografen
Frank Richter lacht, als ich ihm davon erzähle, und ich fühle mich als komischer Held einer glimpflichen Geschichte auch etwas ertappt. Wir sitzen am Schreibtisch des bald Achtzigjährigen am äussersten Stadtrand Dresdens. Später würde es Kaffee und Kuchen geben. Als symbolisches Dankeschön aus den Alpen für die Geschichten aus dem Elbsandsteingebirge habe ich eine Bündner Nusstorte gebacken. Jetzt aber bin ich erst einmal froh, dass mir Richter das sächsische Klettern erklärt. Der Chronist und Fotograf des sächsischen Bergsteigens, wie es etwas hochtrabend genannt wird, ist nicht nur mit dem Klettergebiet bestens vertraut, sondern auch mit dem Kulturraum.
Etwas schelmisch will ich wissen, ob die Alpen nicht doch verlockender gewesen seien als Felstürme, die kaum über die Baumwipfel des Waldes hinausragen. Natürlich wären sie gerne in die Alpen gefahren, aber das sei zur Zeit des Eisernen Vorhangs unmöglich gewesen, bedauert Richter. Dafür habe er, in den Sechzigern zum Studium nach Dresden gekommen, eine einzigartige Kletterlandschaft praktisch vor der Haustür gehabt. Der Faszination des Kletterns habe er sich folglich nicht mehr entziehen können und sei – aus dem Hügelland Ostthüringens stammend – zum passionierten Elbsandsteinkletterer geworden.
Nach der Wende, als die Alpen dank der neuen Reisefreiheit endlich erreichbar geworden waren, trieb kein jugendlicher Übermut mehr zu waghalsigen Touren. Stattdessen erkundete Richter die Alpen lieber mit seiner Frau zusammen auf Wanderwegen und Klettersteigen. Wäre Richter noch einmal zu den berühmten Gipfeln – etwa den drei Zinnen – aufgebrochen, hätte sie wohl am Fuss der Berge zurückbleiben müssen. Das wollten sie beide nicht. Mittlerweile sind auch die Fahrten in die Alpen für Richters Vergangenheit. Der Sohn jedoch, Martin Richter, klettert noch.
Bücher und Bergsteigen
Einigermassen verblüfft stelle ich in unserem Gespräch fest: Während Richter sich durch Bücher den alpinen Gifpeln näherte, entfernte ich mich zugunsten der Bücher immer weiter von den Alpen. Mir scheint, ich sei unwissentlich Hugo Loetschers Einsicht gefolgt. Über dessen Aufsätzen zur literarischen Schweiz steht der Titel: «Lesen statt klettern» (2003). Erst im 18. Jahrhundert hätten urbane Schriftsteller der Aufklärungszeit wie der Berner Albrecht von Haller mit seinem monumentalen Alpengedicht oder der Zürcher Salomon Geßner mit seinen Idyllen die Bergwelt als Hort der Ursprünglichkeit verklärt.
Die Geschichte Thomas Plattners aus dem 16. Jahrhundert dagegen, die Loetschers Aufsatzsammlung eröffnet, gibt den Ton vor. Sie steht stellvertretend für alle, die ihren Alpentälern den Rücken kehren mussten, um der Armut zu entkommen, in den Städten lesen zu lernen und etwas aus sich zu machen. Der Walliser Geissbub habe sich – mit Hilfe seines exotischen Dialekts – durch die süddeutschen Städte gebettelt, um später in Basel ein angesehener Drucker, Pädagoge und Wissenschaftler zu werden, schreibt Loetscher. Davor aber seien ihm die Berge ebenso «grausig» erschienen, wie der Strohsack im Winter unbequem gewesen sei. Die Geschichte Plattners kommt mir, wenn ich an meine Familie denke, merkwürdig vertraut vor.
Für Richter jedoch verkehrte sich Loetschers Invektive gegen Klischees über Schweizer Bergromantik. Er und seine Seilgefährten brachen lesend in die Alpen auf. Bücher wie Karl Lukans «Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht…» (1968) hätten ein unwiderstehliches Bergsteigerleben geschildert, erinnert sich Richter und fügt lakonisch an: «Die meisten der sächsischen Bergsteiger kannten sich in den Alpen gut aus, obwohl sie nie dort waren.» Dass er aus sich und der Situation jedoch etwas gemacht hat, steht ausser Frage.
Eine romantische Kletterkultur
Mit dem trendigen Sportklettern, dessen touristisch-ökonomisches Potenzial etwa in der Fränkischen Schweiz auch für eine ungekannte Belastung der Natur verantwortlich ist, hat die Sächsische Schweiz bis heute wenig zu tun. Zwar bemüht sich auch die Region des Elbsandsteingebirges schon seit Jahrzehnten um eine touristische Erschliessung. Rad- und Bootsfahrten an und auf der Elbe oder eine Wanderung dem Malerweg entlang rangieren in Sachen Freizeitsport aber weit vor dem Klettern, auch wenn die Massen an Tourist:innen an einem sonnigen Wochenende an den berühmten Basteifelsen – wie zum Beispiel der «Steinschleuder» oder dem «Mönch» – bald mehr Seilschaften als die Reste der spektakulären Burg bestaunen.
Wo Schweiz draufsteht, muss offenbar ein Sonderfall drin sein. So besonders ist dieses sächsische Klettern, dass es am 13. März 2024 zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands erklärt wurde. Trotz ihres Namens kannte ich, ein Schweizer in Sachsen, die Bedeutung der Sächsischen Schweiz für die Kletter- und Alpingeschichte jedoch nicht. Und auch mein Bruder, immerhin Bergführer, zuckte mit den Schultern. Namen wie Oskar Schuster oder Bernd Arnold sagten ihm nichts. Das sächsische Bergsteigen allerdings ringt mit den Alpenländern und England um nichts Geringeres als die Erfindung des Freikletterns, auch wenn Recherchen Nicholas Mailänders zufolge der Ursprung eher in England und Österreich liege, schreibt der Bergexperte Stefan König in seinen «Alpengeschichte(n)». Doch hat sich der Geist des Freikletterns nirgends so erhalten wie in der Sächsischen Schweiz.
Trieb die Neugierde auf unerforschte Gebiete die Menschen einst an, auf hohe Berge zu steigen oder unzugängliche Felspartien zu erklimmen und zugunsten des Erfolgs alle erdenklichen Hilfsmittel zu verwenden –, bemächtigte sich mit zunehmender Erschliessung der Natur ein sportlicher Gedanke des Kletterns. Das unerforschte Gebiet verschob sich von der äusseren Natur in die innere Natur des Menschen hinein. Und die Frage lautete fortan nicht mehr: Was ist da draussen? Sondern vielmehr: Was ist in mir? Die menschliche Leistungsfähigkeit stand im Zentrum.
Und weil in der wildromantischen Landschaft des Elbsandsteingebirges – abgesehen von abbrechenden Griffen (und bei Regen ist das Klettern zum Schutz der fragilen Felsen vor Erosion ohnehin verboten) – kaum objektive Gefahren lauern, eignete sich das Gebiet zur Kultivierung dieser genauso romantischen Kletterhaltung. Damit reiht sich das sächsische Klettern in eine Tradition ein, die ihren wirkmächtigsten Ausdruck – schon Jahrzehnte vor den ersten Kletterpionieren – im berühmten Gemälde Caspar David Friedrichs gefunden hatte. Wie kaum eine andere Landschaft symbolisieren die aberwitzigen Sandsteinformationen der Sächsischen Schweiz mit ihren höhlenartigen Toren, Schluchten und Türmen Romantik.
Ein Blick vom Kuhstall über das Kirnitzschtal lässt ahnen, wie sich Caspar David Friedrich die Sächsische Schweiz vorstellte. (© Fabian Schwitter)
Es verwundert nicht, dass sich der Fotograf Frank Richter mit dem Maler Caspar David Friedrich befasste. So zeichnete Richter nach der Wende für die inhaltliche Konzeption des historischen Teils des Malerwegs verantwortlich. Dieser führt auf einem Rundweg mit acht Etappen über 116 Kilometer durch das Elbsandsteingebirge. Caspar David Friedrich war dabei längst nicht der einzige Maler, den die bizarren Felsen der Sächsischen Schweiz in ihren Bann zogen. Mit Sinn für irritierende Pointen leitet Richter seine Erläuterungen ein: «Man muss vorausschicken, der Malerweg ist ja eine Schweizer Erfindung.»
1766, kurz nach dem siebenjährigen Krieg, sei der Schweizer Kupferstecher und Landschaftszeichner Adrian Zingg an die Königliche Kunstakademie in Dresden geholt worden. Von der zerstören Stadt schockiert, sei er aber lieber durch die Landschaft gezogen, als dass er unterrichtet hätte. Später habe er dann seine Studenten auf seine Streifzüge mitgenommen. Die beliebten Radierungen, die daraus hervorgegangen seien, hätten zweihundert Jahre danach ihren Weg zurück in die Sächsische Schweiz und zu ihm gefunden, erzählt Richter. Der kinderlose Bergsteiger Dietrich Hasse habe Blätter Zinggs und seiner Zeitgenossen nach seiner Flucht in den Westen aus Heimatliebe zu sammeln begonnen und später mit der Bedingung, sie auszustellen, dem Freistaat Sachsen vermacht. Die Stiftung Kunst und Natur wird unter dem Vorsitz Frank Richters von der Nationalparkverwaltung betreut. Auf Zinggs Spuren gehe nicht nur der Malerweg zurück, sondern auch die Bezeichnung Sächsische Schweiz verdanke sich seinen Kreisen.
Die Regeln des sächsischen Kletterns
So verwegen und bizarr diese Felsen auch sein mögen. Sie nehmen sich neben den majestätischen Alpengipfeln dennoch unscheinbar aus. Der Nervenkitzel, für den in den Alpen die Gefährlichkeit der rauen Natur sorgt, transformierte sich in der Sächsischen Schweiz zu rigiden – anfangs informellen, später festgeschriebenen – Kletterregeln. Diese schützen sowohl die Natur (insbesondere den Sandstein) als auch den Sportsgeist, sodass das Klettern im Elbsandsteingebirge eine ebenso grosse psychische wie physische Herausforderung ist.
Neue Routen müssen von unten her direkt erklettert und nicht von oben her (durch Abseilen) im Vornherein eingerichtet werden. Der Einsatz von Hilfsmitteln soll minimal bleiben, Magnesium ist verboten. Haken – charakteristische Eisenringe anstelle des sonst gebräuchlichen Materials – kommen nur mit grossen Abständen an besonders schwierigen Stellen zum Einsatz. Gerade dann gestaltet sich das Setzen der Ringe jedoch entsprechend kompliziert. Häufig finden sich die Ringe daher nicht dort, wo sie am meisten helfen würden, sondern dort, wo es gelang, sie zu setzen. Unter diesen Voraussetzungen bleibt das Klettern den Waghalsigen vorbehalten.
Die Ahnengalerie des sächsischen Bergsteigens
Dass das sächsiche Bergsteigen, und so rechtfertigt es auch seinen Namen, Spitzenbergsteiger hervorbrachte, die am Sandstein nicht nur trainierten, sondern auch brillierten, scheint folgerichtig. Die Bergsteigerlegende Oskar Schuster (1873-1917) etwa, der Pionier der sächsischen Kletterns schlechthin, erklomm verblüffenderweise im Winter 1898 mit dem Zillertaler Heinrich Moser erstmals einen 4000er, die Dufourspitze, mit Skiern. Fritz Wiessner (1900-1988), der 1929 in die USA emigrierte, machte sich einen Namen als Kletterer und Höhenbergsteiger im Himalaya. Nicht zuletzt prägte er das Freiklettern in Amerika. Und Dietrich Hasse (1933-2022), der für die erste Diretissima durch die Nordwand der Grossen Zinne in Südtirol und das Standardwerk «Felsenheimat Elbsandsteingebirge» bekannt ist, stammt gar aus Bad Schandau, dem Zentrum der Sächsischen Schweiz. 1955 verliess er die DDR jedoch und fungierte fortan als wichtiges Bindeglied zwischen der westeuropäisch-amerikanischen Szene und der Sächsischen Schweiz.
Musste anfänglich beim Setzen der Ringe noch einhändig gebohrt und geklebt werden, so erzwang kein Geringerer als der Jahrhundertkletterer Bernd Arnold Änderungen dieser Regeln. Die starren Regeln bremsten sein Talent allzu sehr. Fortan durften sich Kletterer:innen beim Setzen von Ringen mittels einer Schlinge stabilisieren. Und Arnold öffnete – häufig barfuss – neue Horizonte, als das Klettern in der Sächsischen Schweiz in den Siebziger- und Achtzigerjahren seinen – romantischen – Zenit überschritten zu haben schien. Aber: Die Regeln mussten geändert werden. Seither haben immer wieder kleine Regeländerung zu neuen Höchstleistungen und ebenso hitzigen Debatten geführt. Richters süffisante Anmerkung – «Ich habe das nicht mehr zu beurteilen.» – lässt dies erahnen.
Richter, beeindruckt von Arnolds Kletterfertigkeiten und dessen eiserner Beharrlichkeit, schliesslich trainierte Arnold als einer der ersten gezielt Athletik, begleitete den Ausnahmekletterer als Fotograf. Seine Gewissenhaftigkeit liess Richter die Aufnahmen eines anstrengenden Klettertags noch über Nacht entwickeln, was wiederum Anrnold beeindruckte. Die Fotografien gelangten dann etwa zu Dietrich Hasse in den Westen und auf diesem Weg sorgte das Gespann Richter/Arnold auch in der westeuropäisch-amerikansichen Szene für ein gewisses Aufsehen. Beiden blieb jedoch trotz Einladungen eine Reise in den Westen oder gar die USA verwehrt.
Klettern unter DDR-Bedingungen
Weit mehr als in den Alpen, wo die zunehmende Kommerzialisierung des Bergsports einem breiten Publikum Zugang zu den Bergen verschaffte, obliegen die Kletterregeln in der Sächsischen Schweiz bis zum heutigen Tag einer kleinen Elite von talentierten Freizeitkletterer:innen. Tobias Wolf, einst Mitglied des Deutschen Nationalkaders im Sportklettern und weltweit aktiver Kletterer, bedauert jedoch kaum, sein Hobby nicht zum Beruf gemacht zu haben. Dem Versuch, von Kletterkursen zu leben, habe ein rauer Wind entgegengeblasen, erklärt der 43-jährige. So bleibt auch das gefahrlose Toprope-Klettern, bei dem mittels Seilumlenkung von oben her gesichert wird, verpönt.
Naheliegend, dass das sächsische Freiklettern unter DDR-Bedingungen auch politische Freiheit atmete. Die zentralistische SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) habe rasch versucht, die – bürgerlichen – Bergsteigerclubs in Sachsen unter die Kontrolle des Deutschen Verbands für Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf (DWBO) zu zwingen. Zwar offiziell verboten, hätten sich die Clubs unter der Hand gehalten, führt Richter aus. Die historisch ohnehin bestehende Trennung zwischen den bürgerlichen Bergsteigerclubs und den Arbeitersportvereinen habe die SED-Politik zementiert und instrumentalisiert.
Mit Altersmilde blickt Richter auf die Teilung der sächsischen Kletterszene in eine unabhängige und eine politisch kontrollierte zurück. Trotzdem schwingt noch ein wenig Verachtung mit. Und die Gehässigkeiten und Auseinandersetzungen in der Kletterszene der damaligen Zeit werden spürbar. Der Streit sei bis heute nicht beigelegt, fügt Richter an und erzählt dann auch von eingesperrten und geflohenen Freunden, viele, wie Richter selbst, christlich. Klettern und Kirche: Was für einen Schweizer konservativer nicht klingen könnte, ist unter DDR-Bedingungen eine besonders subversive Mischung.
Die Gipfelbücher – exponiert unter dem freien Himmel – dienten als Blitzableiter für aufgestaute Frustrationen und als Schauplatz von Widerstandsgesten. Er kenne kein Gipfelbuch, in dem der letzte Teil das DWBO-Leitspruchs – «Die Deutsche Demokratische Republik, unsere Heimat und unsere Berge sind das, was wir lieben und zu verteidigen jederzeit bereit sind.» – nicht durchgestrichen worden sei, meint Richter. Die unfreiwillige Abschottung während der DDR-Zeit dürfte eine wichtige Rolle bei der Erhaltung des traditionellen Klettergebiets gespielt haben. Erst ab Mitte der Siebziger seien Berufskletterer aus dem Westen wie Wolfgang Güllich aufgetaucht, um den Wunderknaben Bernd Arnold zu sehen, schmunzelt Richter.
Die Popularisierung des Kletterns
Die Popularisierung und Professionalisierung des Bergsports im Westen, nicht zuletzt vorangetrieben durch die Buch- und Vortragsvermarktung von Grössen wie Reinhold Messner in den Siebziger und Achtzigerjahren, stand in der DDR unter anderen Bedingungen. Für ein Buch der Fotografien Richters gab es von der Staatsleitung weder ideelle Unterstützung noch Papier. So entwickelte auch Richter die DDR-typische Improvisationskunst.
Waren die Dresdner Bergabende, veranstaltet vom Dresdner Stadtfachausschuss in den Siebzigern und Achtzigern, auch brechend voll, hinkten die technischen Mittel dem westeuropäischen Standard hinterher. Richter erinnert sich an einen beeindruckenden Lichtbildvortrag mit Überblendprojektor des österreichischen Abenteurers und Fotografen Franz Six über Peru: «Ein Überblendprojektor! Sowas hatten wir überhaupt noch nicht gesehen. Dass man überblenden konnte, habe ich noch nicht gewusst.» Notgedrungen machte sich Richter als gelernter Elektroniker selbst an den Bau eines solchen Apparats.
Fortan hielt Richter Vorträge. Nicht nur über das Klettern, sondern auch über die Landschaft oder eben Maler. Die Verwurzelung in der Sächsischen Schweiz wuchs mit den Jahren so sehr, dass sich Richter keinen anderen Ort zum Leben mehr vorstellen kann. Die Gründung einer Familie einerseits, aber auch die Verbundenheit mit der Region liessen ihn einiges an Unannehmlichkeit mit der ehemaligen Staatsgewalt in Kauf nehmen.
Klettern ohne Politik?
In der DDR wurde das Elbsandsteingebirge zu einem Rückzugsgebiet derjenigen, die mit den martialischen Tönen der SED nichts am Hut hatten. Der kampfbereite Nationalismus der SED erinnert an einen Militarismus, der auch die Geschichte der Alpen nur allzu lange geprägt hat und wohl immer noch prägt. Die soldatische Kameradschaft – den Frauen blieb der Zugang zu den sächsischen Kletterclubs lange Zeit genauso verwehrt wie der Zugang zum Schweizer Alpenclub – dringt kaum verhüllt durch die Liedzeilen der eingangs erwähnten Bergvagabunden: Der «Fels ist bezwungen» von «Brüdern auf Leben und Tod». Es überrascht nicht, dass das Illustrationsbild des ersten Youtube-Treffers – Dr. Ludwig’s Archive – die Bergvagabunden mit Fernglas und Geschütz ausrüstet. Berg- und Kriegsromantik liegen nahe beieinander.
Die Klettersteige etwa (in der Sächsischen Schweiz gibt es eine Handvoll Steilaufstiege, genannt Stiegen, die mit Eisenklammern und teilweise Leitern erschlossen sind), die auch Richter und seine Frau durch die Alpen führten, haben ihren Ursprung in den Stellungskriegen des Ersten Weltkriegs. Stefan König könnte die dunkle Seite der Alpen nicht treffender auf den Punkt bringen: «Die Berge sind oft schön. Sie stillen unser Verlangen nach Idylle, Natur, Einsamkeit, Stille. Eine heile Welt aber sind sie nicht.» Ob es angesichts dessen möglich ist, das Bergsteigen unpolitisch zu betreiben?
Leicht vorstellbar ist, dass der sächsische Eigensinn, wie er sich unter anderem in den Kletterclubs und den Kletterregeln manifestierte, unter veränderten Bedingungen – dem Schweizer Eigensinn nicht unähnlich – in einen (xenophoben) Isoliationismus verwandelt. Die Angst, das eigene Klettergebiet an Fremde zu verlieren, ist offenbar gross. Wolf verdeutlicht die Situation mit einem Witz: «Sagt in der Sächsischen Schweiz eine Mutter zur anderen: Ich muss nach’m Rechten sehen.» Ein grosser Teil der Menschen in der Sächsischen Schweiz wählten rechts, fügt Wolf an. Von einem «Säxit» ist schon einmal die Rede. Da ist es ratsam, ein paar Bücher zur Hand zu nehmen und sich der Geschichte bewusst zu werden. Wenn es um das Klettern geht, gilt für uns jedenfalls, was Loetscher forderte und Richter tat: Wir hätten wohl besser ein wenig mehr gelesen, statt einfach drauflos zu klettern.
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Bin gerade am Sandstein auf Ischia/I, höchster Punkt auf der Neapel vorgelagerten vulkanischen Insel: Monte Epomeo 789m. Inspirierend deshalb Dein neuster Beitrag zum Elbsandstein, insbesondere nach unserem tollen Ausflug dorthin und ersten Gehversuchen in den imposanten Felswänden zwischen den Baumkronen im letzten Jahr. Das erinnert mich auch an meine gewagten Bergfahrten vor 45 Jahren in den Drei Zinnen, an verrosteten Stacheldraht und bedrohliche Entwicklungen in aktueller Zeit…
Sehr schön gemacht in Text und Bild!
Sehr schöner Beitrag über die jüngere Geschichte der Sächsischen Schweiz. Habe mich gefreut, dass meine „Alpingeschichte(n)“ dabei anregend sein konnten. Der Text war zugleich Anstupser, möglichst bald wieder vom bergnahen Oberbayern in die romantische Landschaft der „Steene“ aufzubrechen.