Demokratie: Hohle Rituale zur Unterhaltung eines teilnahmslosen Publikums?

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2024 feiert das Grundgesetz der BRD sein fünfundsiebzigjähriges Bestehen. Trotz Jubiläum steht die deutsche Demokratie aufgrund der Wahlerfolge der AfD wieder einmal in Frage. Eine Jubiläumsveranstaltung hält verblüffende Einsichten bereit.

 

Zum Beispiel der Erich Zeigner Haus e.V.

 

Der Leipziger Erich Zeigner Haus e.V. mag in (Ost-)Deutschland als Inbegriff zivilgesellschaftlichen Engagements gelten. Verschrieben hat er sich dem hehren Ziel politischer Bildung. Gegründet unmittelbar nach der Wende liegt sein legitimatorischer Bezugspunkt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Erich Zeigner führte in der Zwischenkriegszeit als Mitglied der SPD eine sozialdemokratisch-kommunistische Regierung in Sachsen an und versteckte während der Nazi-Zeit jüdische Mitbürger:innen, bevor er im KZ Buchenwald interniert wurde. Er überlebte zwar das Terror-Regime Hitlers, starb jedoch schon 1949 – im Jahr der Verabschiedung des Grundgesetzes in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland und der endgültigen Teilung Deutschlands – an einer Krankheit.

 

Demokratieförderung in Deutschland

 

Diese historischen Hintergründe, die auch den Erich Zeigner Haus e.V. legitimieren, lassen politische Bildung im Sinne einer Festigung der Demokratie in Deutschland als besonders angebracht erscheinen. Eine nationalsozialistische und eine sozialistische Diktatur eröffneten der Bevölkerung offenbar wenig Spielraum zur Festigung demokratischer Erfahrungen. Die Einführung in die Gepflogenheiten und institutionellen Abläufe demokratischer Staatswesen im Rahmen der Volksschule allein scheint da nicht zu reichen. Entsprechend weitläufig ist die Landschaft an zivilgesellschaftlichen Vereinen, die sich der demokratischen Schulung der Bevölkerung, der Aufarbeitung der undemokratischen Vergangenheit und der Erinnerung an diese widmen.

 

Zumindest diese Frage müsste in Deutschland leicht zu beantworten sein. (© Gerd Altmann)

 

Auch wenn der Erich Zeigner Haus e.V. Bundesgelder etwa vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bezog und nicht vom Ministerium des Innern, dem die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) untersteht, so ist die bpb beispielhaft für die deutschen Bildungsbemühungen in Sachen Demokratie. Die bpb geht auf die Kaiserzeit zurück. Als Reichszentrale für Heimatdienst ursprünglich zur Stärkung der Moral an der Heimatfront während des Ersten Weltkriegs gedacht, diente sie mit Blick auf die junge Demokratie bereits in der Weimarer Republik der politischen Bildung. Schon damals zeigte sich in Deutschland offenbar ein besonderer Bedarf an ‹Umerziehung› einer obrigkeitshörigen Bevölkerung des ehemaligen Kaiserreichs zu demokratischer Selbstbestimmung. Die pbp hält in ihrer Darstellung der eigenen Geschichte denn auch fest: «Die Reichszentrale war in der Zwischenkriegszeit wohl die einzige Behörde ihrer Art in Europa.» Selbstredend hatten die Nationalsozialist:innen keine Verwendung für diese Behörde. An ihre Stelle trat 1933 das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda des Reichsministers Josepf Goebbels. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurde die Institution mit demselben Zweck wiederbelebt. Noch heute stärkt sie gemäss ihrem Leitbild das «demokratische Bewusstsein» der deutschen Bevölkerung, das auf «Toleranz und Pluralismus» bauen soll.

 

Veranstaltung zum Verfassungsjubiläum

 

Vor dem Hintergrund dieser grossangelegten Bildungsbestrebungen ist es also selbstverständlich, dass das Leipziger Netzwerk für Demokratie in der Trägerschaft des Erich Zeigner Haus e.V. anlässlich des 75. Jubiläums des Grundgesetzes der BRD im Frühling 2024 eine Veranstaltung mit Vorträgen und Workshops organisierte. Zwei Honoratior:innen – die sächsische Staatsministerin für Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt Petra Köpping sowie der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung – gaben sich die Ehre eines Grussworts. Köpping fürchtete die antidemokratischen Gelüste von rechts. Jung beschwor Gott in der Präambel des Grundgesetzes. Die Bürgermeisterin für Jugend, Schule und Demokratie, Vicki Felthaus, hielt einen lehrreichen Vortrag zu den Müttern des Grundgesetzes, bevor Dr. Hendrik Cremer vom Deutschen Insititut für Menschenrechte sich per Video zu einem weiteren Vortrag über «Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien?» zuschalten liess. Zu diesem Zeitpunkt genoss ich allerdings bereits die Sonne auf der Dachterrasse über der Leipziger Altstadt. Lieber liess ich mir vom anwesenden 18-jährigen im Bundesfreiwilligendienst beim Erich Zeigner Haus e.V. in aller Kürze den Verein erkären, als einem Doktor zuzuhören, dessen vielbeschäftigte Unabkömmlichkeit ihn zwar nicht an grossen Reden, aber doch daran hinderte, sich zu den Menschen vor Ort herabzulassen.

 

Das Leipziger Netzwerk für Demokratie unter der Trägerschaft des Erich Zeigner Haus e.V. (Screenshot der Website vom 28.06.2024)

 

Nach diesen ritualisierten Belehrungen durch Amts- und Würdenträger:innen sowie Demokratie-Expert:innen teilte sich das Publikum auf individuell gewählte Workshops auf: fünf noch am Vormittag, fünf am Nachmittag. Dabei reichte die Themenpalette von der «Verfassungsdynamik in Ostdeutschland» bis zur «Demokratiehauptstadt Europas», vom «Ukrainekrieg» bis zu «Inklusion». Eine Leipziger Professorin leitete den Workshop «Von der DDR zur Einheit: Die Verfassungsdynamik in Ostdeutschland» und hielt zur Einleitung frontal einen Vortrag, vor dessen Hintergrund das Publikum seine eigenen Fragen neben die Thesen der Professorin stellen sollte. Nach einem kurzen Scherz aufgrund des vorläufigen Schweigens des Publikums, das platziert in den akkuraten Stuhlreihen erst einmal wie das Kaninchen vor der Schlange sass, meldeten sich doch noch einzelne und brachten Fragen vor. Die Liste wuchs genauso an wie die Ratlosigkeit bezüglich einer Entscheidung, welche Fragen nun zu vertiefen seien. Endlich teilte sich das Publikum noch einmal in zwei Gruppen auf. Während eine Mitarbeiterin des Erich Zeigner Haus e.V. die Leitung der einen Gruppe übernahm, moderierte die Professorin die Gruppe, die sich mit der Reform des Bundesrats und der Etablierung einer Sperrminorität der grossen Bundesländer um die Wendezeit befassen wollte. Etwas betreten versammelten sich rund zehn Menschen um einen Flippchart.

 

Bundesrat und Sperrminorität

 

Neben einer ganzen Reihe von Reformen des Grundgesetzes, die bei der Wiedervereinigung vorgenommen wurden, war die Umgestaltung des Bundesrats gemäss Professorin eine von bloss drei Reformen, die aus der Wiedevereinigung resultierten. Die übrigen Reformen entstammten dem inneren Kontext der Bonner Republik. Ungeachtet dessen, ob diese Zuschreibung zutrifft, lässt die Etablierung einer Sperrminorität der grossen Bundesländer in der Kleinen Kammer – dem Bundesrat – aufhorchen. Diese ermöglicht es den vier grossen Bundesländern, im Verbund Änderungen des Grundgesetzes zu verhindern, da ohne die grossen Bundesländer die nötige Zweidrittelmehrheit nicht erreicht werden kann. Selbstredend kommt kein Bundesland in Ostdeutschland auf die Maximalzahl von sechs Abgeordneten im Bundesrat, die Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen erhalten. Der Club der Grossen ist also ein rein westdeutscher.

 

Die Stärke Preussens hat etwas Patina angesetzt. Genau genommen gibt es Preussen gar nicht mehr. Und auch Kaiser Wilhelm I ist lange tot. (© NoName_13)

 

Die Frage jedoch, warum der Bundesrat im föderalen Deutschland keine paritätische Vertretung der einzelnen Bundesländer wie in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten von Amerika vorsieht, beantwortete die Professorin mit einem Verweis auf die Stärke Preussens im Kaiserreich, die andere Bundesländer – wie Bayern oder Baden-Württemberg – hätten brechen wollen. Was an sich verständlich ist, erklärt allerdings kaum, warum die grossen Bundesländer bei der Wiedervereinigung mit einer Sperrminorität ausgestattet wurden. Vielmehr wäre doch nun deren Stärke zu brechen gewesen. Fiel dieser Widerspruch keiner der anwesenden Personen im Workshop auf, so blieb es hinsichtlich der Begründung der Ausgestaltung des Bundesrats beim vagen Verweis auf Preussen.

 

Komplizierter Normalfall

 

Was aus Sicht paritätischer Vertretung befremdlich erscheint, erweist sich schon bei oberflächlicher Recherche als Normalfall. Die meisten kleinen Kammern in den föderalen Staaten der Welt werden nach komplizierten Verfahren besetzt. Die Gestaltung des Bundesrats in Deutschland gehört da noch zu den einfacheren Modellen. Es wird also Gründe geben, das paritätische Modell, das in einem Bundesstaat die einzelnen Einheiten – Bundesländer in Deutschland oder Kantone in der Schweiz – als gleich betrachtet, aufzuweichen. Die Abwägung zwischen paritätischer und proportionaler Vertretung nach Bevölkerungsgrösse der Bundesländer wirft aber in jedem Fall genauso Fragen auf wie die Vermischung von Exekutive und Legislative bei der Besetzung des Bundesrats. Denn die Regierungen der einzelnen Bundesländer senden ihre eigenen Mitglieder:innen als Vertretung in den Bundesrat. Die Wahl des Bundesrats erfolgt also indirekt und widerspiegelt die Mehrheitverhältnisse in den Bundesländern. Die Mitglieder:innen des Bundesrats vertreten nicht die Bundesländer als ganze, sondern deren jeweilige Regierung.

 

Ganz verschwunden in der Einfluss Preussens doch noch nicht: Der Bundesrat tagt im Preussischen Herrenhaus. (© Diego Delso)

 

Unabhängig von diesen Fragen stechen zwei Tatsachen ins Auge. Der Bundesrat in Deutschland erfährt – nicht zuletzt aufgrund seiner indirekten Wahl – kaum Medienaufmerksamkeit und bleibt der Bevölkerung dadurch in seiner Tätigkeit meist verborgen. Was in einer ohnehin überhitzten Mediendemokratie als Vorteil gesehen werden kann, bringt den Nachteil mit sich, dass der Parlamentsbetrieb für die Öffentlichkeit unverständlich zu bleiben droht. Diese Feststellung deckt sich mit der weiteren Tatsache, dass von den anwesenden Menschen beim Workshop – inklusive der leitenden Professorin – keine Person aus dem Stehgreif eine befriedigende Auskunft über die Gründe der Zusammensetzung des Bundesrats und der genannten Sperrminorität geben konnte.

 

Demokratische Realität in Deutschland

 

Die anhaltende Angst vor den rechten Gelüsten und vor der zunehmenden Demokratieskepsis in der Bevölkerung, die Köpping in ihrem Grusswort einmal mehr für das Publikum heraufbeschworen hat, zieht immer wieder die händeringende Suche nach Erklärungen für diesen gesellschaftlichen Zustand nach sich. Neben den üblichen Mutmassungen zu Politikverdrossenheit, Demokratieunfähigkeit oder Wendeentäuschung gerade im Osten, legt die Jubiläumsveranstaltung nahe, dass die mangelnde Kenntnis der Institutionen und Abläufe für das Vertrauen in die Demokratie kaum förderlich sein können. Wenn selbst der gebildetere und engagiertere Teil der Bevölkerung in der demokratiefreundlichen Stadt Leipzig (das übliche Publikum einer solchen Veranstaltung) nicht Bescheid weiss, wie sieht es dann in bildungsferneren Teilen der Bevölkerung im sächsischen Hinterland aus?

 

Sinnbildlich: Die Seite mit der politischen Arbeit ist noch im Aufbau. Wie genau steht es um das «demokratische Bewusstsein» in Deutschland? (Screenshot der Website vom 28.06.2024)

 

Es könnte gut sein, dass alle zivilgesellschaftlichen Bemühungen in Sachen «Demokratie, Toleranz und Pluralismus» nichts nützen, wenn die Bevölkerung nicht versteht, wie ihre Parlamente zusammengesetzt sind. Und vor allem warum sie so zusammengesetzt sind, wie sie eben zusammengesetzt sind. Dass die anwesende Ministerin Petra Köpping als Vertreterin der sächsischen Regierung etwa auch Teil des Bundesrats ist, wussten wahrscheinlich die wenigsten der Anwesenden.

 

Fürchten um die deutsche Demokratie?

 

Statt diese Unkenntnisse zu beheben, inszenierte das Leipziger Netzwerk für Demokratie einen Tag obrigkeitlicher Belehrungen zu einem beliebigen Sammelsurium an Themen. Da helfen auch der reibungslose Ablauf und die kostenlosen Häppchen zum Mittag nicht – und schon gar nicht Burkhard Jungs Gott. Dass am Ende im Workshop zu «Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Sichtbarkeit in Zeiten des Medienwandels» eine Journalistin im Stil der Lotto-Fee, die sie einmal war, die engagierte Zivilbevölkerung wie einen Haufen Ahnungsloser über die Tücken der Medienarbeit im Zeitalter von Blogs, Vlogs und Social Media aufklärte, schlug dem Fass den Boden aus. Spätestens dann mussten sich die Teilnehmer:innen vorkommen, als seien sie für dumm verkauft worden.

 

Hätte die Demokratie bei allem Schall und Rauch wenigstens die Kraft eines Vulkans. (© Pexels)

 

Zumindest diese Jubiläumsveranstaltung hat von einer – obrigkeitlichen – Demokratie gezeugt, bei der noch nicht einmal der Versuch unternommen wurde, Augenhöhe zwischen den Amts- und Würdenträger:innen sowie den Expert:innen auf der einen Seite und den Teilnehmer:innen auf der anderen Seite herzustellen. Selbst die banalsten Mittel, wie die Anpassung der Bestuhlung nach den frontalen Vorträgen für die interaktiven Workshops, fielen den Organisator:innen nicht ein. Aber so ist das eben in Demokratien. Auch sie pflegen – nicht nur in Deutschland – ihre hohlen Rituale und wundern sich über die zunehmende Erosion ihres Fundaments. Während die Versuche zur Beteiligung der anwesenden Teilnehmer:innen eher kläglich ausfielen, schwankte die Veranstaltung – weit jenseits demokratischer Umgangsformen – zwischen Belehrung und Unterhaltung. Das Fazit bleibt ernüchternd: Ein Tag mit Schall und Rauch, Titeln und Positionen ohne Inhalt. Käme ein Mensch von aussen und sähe nur diese Veranstaltung, er fürchtete wirklich um die deutsche Demokratie. Und damit sei der Auftakt zu einer Serie über die knochentrockenen Grundlagen der Demokratie gemacht: Institutionen in föderalen Staaten.

 

 

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  1. Lieber Fabian, ich danke Dir herzlich für diese scharfsinnige und treffsichere Analyse. Ich konnte mit meiner „West-Volksschul-Bildung“ ja leider auch keine vernünftige Antwort geben und war auch nur meinerseits ratlos mit der Antwort der Frau Professorin zurück geblieben, man möge doch bitte in Parteien eintreten, denn wir hätten kein Demokratie-Problem sondern nur ein „Demokratie-Vermittlungsproblem“. Das war die Einleitung ihres Vortrages, den ich allerdings sehr interessant und informativ empfand. Aber offensichtlich scheitern auch die klugen Geister an einer vernünftigen Vermittlung der vermeintlich einfachsten Dinge. Da halte es schon eher doch mit „Gott“, auf den sich Herr Jung berief, indem er sich „nur“ – für mich wohltuend – auf die Präambel des Grundgesetzes einließ. Vielleicht ist es ein zaghaft keimartiger Hinweis darauf, dass wir auch in der Politik weg von der Macht und wieder hin zum Geist (aus Einsicht in unsere wahre Menschlichkeit), zum SINNhaften politischen und gesellschaftlichen Handeln auf der Basis von Pluralität und Toleranz in der Begegnung auf Augenhöhe kommen sollten.

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