Pobles: Die Kirche im Dorf
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Die Kirchenruine St. Gangolf von Pobles symbolisiert den Niedergang der ostdeutschen Dörfer. Fast vergessen ist die reichhaltige Kulturgeschichte eines Dorfs, das nicht zuletzt mit dem Namen Nietzsche verbunden ist. Der Heimatverein und der Kunstverein Kaisersaschern bemühen sich um die Wiederbelebung des Dorfs und seines Erbes.
Im Nebel von Lützen
Nebel liegt auf der Strasse, wenn sie durch kleine Senken führt, als ich kurz nach 22 Uhr von Kreischau, einem Dorf auf Lützener Gemeindegebiet, zurück nach Leipzig fahre. Leicht wäre es, von der Strasse abzukommen und mich in der weitläufigen Ebene der Gemeinde, deren Bevölkerungsdichte deutlich geringer ist als die der umliegenden, zu verlieren. Meist ist das Land eben und die Strasse – bisweilen ohne Leitplanken – so geradlinig, wie manchen in der Erinnerung die DDR-Politik erscheint. Sicherheit habe diese Politik vermittelt.
Ich dagegen hasche im Nebel nach vagen Satzanfängen und folge Gedanken auf Abwege, als verführten mich Gespenster, von denen es in Lützen mit Sicherheit geben muss. Im Verlauf der Geschichte haben zu viele Menschen hier bei Schlachten ihr Leben gewaltsam verloren. Vom Nebel des Krieges ist seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wieder die Rede. Dabei versuche ich, mich krampfhaft auf die Strasse zu konzentrieren. Schon einmal bin ich auf der A38, die das Gemeindegebiet Lützens in zwei Hälften teilt, am hellheiteren Tag nur haarscharf einer Katastrophe entgangen. Der Blechschaden am Auto zeugt heute noch davon.
Kreischau gehört zum grösseren Teil der Gemeinde Lützen südlich der Autobahn. Wie abgeschnitten vom Zentrum wirkt die Gegend auf der Karte. Von Leipzig her geht die B87 in die Autobahn über. In der Verlängerung auf der südlichen Seite der Autobahn führt die L189 weiter. Wo das Städtchen Lützen selbst noch über eine Anbindung an das Fernstrassennetz verfügt, bleibt den Dörfern im Süden der Gemeinde nur das Provinzialstrassennetz. Hinter der Stadtgrenze Leipzigs schwindet die urbane Anziehungskraft rasch – zumal Leipzig zu Sachsen und Lützen bereits zu Sachsen-Anhalt gehört.
Im Schankraum
Unterstützung von der Stadt Lützen erhielten sie jedenfalls wenig, meint Luis Tränkner, Mitglied des Heimatvereins Kreischau-Pobles. Das Dorf müssten sie selbst in Stand halten. Dazu gehören das Vereinslokal und die Festwiese ebenso wie die Volleyballfelder und der Waalteich, wo einst eine sogenannte Einburg stand. Auf sich allein gestellt wirkt das Dorf, dabei hat es seine landwirtschaftliche Subsistenzgrundlage, die ihm einst ein gewisses Mass an Autarkie verschafft haben musste, längst an die Vergangenheit verloren. Nur der Edle vom Kleefeld schaut noch aus einer Nische hervor. Ansonsten ist von Landwirtschaft am Tisch im Vereinslokal nicht mehr viel zu spüren. In der DDR gaben die Schichtbusse zu den Chemiewerken in Leuna und zum Tagebau in Profen den Takt vor.

Ich bin hier, um mit Tränkner über eine Kirchenruine zu sprechen, die als Wahrzeichen auch das Logo des Heimatvereins ziert. Dort ist sie bereits ohne Dach zu sehen. Der Erhalt der Kirche, gibt Tränkner unumwunden zu, würde den Heimatverein überfordern. Dass sich nach der Schliessung der letzten Gaststätte im Dorf kurz nach der Jahrtausendwende überhaupt ein Heimatverein gegründet hat, um einen öffentlichen Treffpunkt für die Dorfgemeinschaft zu schaffen, mutet aussergewöhnlich an. Fast schon sinnbildlich für die Wendezeit zerfiel auf dem Hügel das historische Wahrzeichen des Dorfs, während das Dorfleben im Vereinslokal in der Senke Zuflucht fand.

Für die FAZ habe ich bereits über die Kirche geschrieben und bin zurückgekehrt, um zu erfahren, wie das Dorf auf den Kaisersaschern e. V. blickt, der sich seit 2022 dem Erhalt der Kirche widmet. Die Atmosphäre in den beiden Schankräumen im Untergeschoss wirkt gesellig. In Kreischau bewirtschaftet der Heimatverein das Gesindehaus des alten Gutshofs. Der Grossvater eines Vereinsmitglieds sei beim Baron noch Gärtner gewesen. Auf der anderen Seite des Bachs, der Pobles von Kreischau trennt, steht auf einem Hügel die Kirchenruine St. Gangolf.
Im alten Gemäuer
Zwischen ihren nackten Mauern ragen Bäume in den Himmel. Längst ist der verrottete Dachstuhl eingestürzt. Wo einst David Ernst Oehler, der Großvater Friedrich Nietzsches, als Pfarrer geamtet hatte, feierte das Dorf letztmals 1964 Gottesdienst. Viele im Dorf seien noch in ihr getauft worden und erinnerten sich an eine lebendige Kirche, erzählt Tränkner, der selbst erst in den Neunzigern aus Südthüringen nach Kreischau gekommen ist. Den Verfall der Kirche habe die Dorfgemeinschaft mit Staunen und Kopfschütteln beobachtet.
Schon zu DDR-Zeiten hintertrieb die SED eine Sanierung. Im neuen Arbeiter- und Bauernstaat sollte Religion keine Rolle mehr spielen. Druck vom Finanzamt und Konflikte um Materialkontingente, heisst es, hätten die Arbeit des Dachdeckers behindert. Und als dieser – das Dach sei für Arbeiten bereits abgedeckt worden – gestorben sei, sei das Baumaterial nach und nach ebenso wie das Inventar verschwunden: von der Orgel über die Kirchenbänke bis zu den Bodenplatten. Der Kirchenschmuck, einige große Bilder aus der Cranach-Schule, seien Hehlergeschäften im Devisenhandel der DDR zum Opfer gefallen. Besagter Hehler soll später in Lettland bei Mafiageschäften erschossen worden sein. Wer heute in der Kirche St. Gangolf steht, hat Erde unter den Füssen.

So sehr der Bau unter den vergangenen Jahrzehnten gelitten hat, so treffend erinnert die geplünderte Ruine an die tausendjährige Geschichte, die diesen Landstrich umgegraben hat wie einst die Pflugscharen der Bauern den Boden. Um das Jahr 1000 bewachte auf einer künstlichen Insel im Grunaubach, der die Siedlung in die Dörfer Kreischau und Pobles teilt, ein einzelner Ritter die Grenze des Heiligen Römischen Reichs. Später versetzte die Reformation die Gegend in Aufruhr. Schlachten fegten über die Landschaft hinweg. Im Dreißigjährigen Krieg fand der schwedische König Gustav Adolph bei Lützen den Tod. Napoleon verlor die Völkerschlacht von Leipzig. Der Zweite Weltkrieg brachte Verwüstung.
Im Archiv der Vergangenheit
Nach dem Krieg trieb der neue Staat unter der Maxime der sozialistischen Planwirtschaft die Zwangskollektivierung in dieser Gegend früh voran. Die kleinteilige Bewirtschaftung des Bodens unter der einstigen Ägide adliger Gutsherren überführte der Staat in industrielle Produktionsgenossenschaften im Volkseigentum. Die forcierte Industrialisierung – etwa die chemische Industrie Leuna – zog neue Menschen an und entriss die ansässige Bevölkerung ihrer landwirtschaftlichen Existenz. In der einst bäuerlichen Gegend zeigte sich die neue Republik in kurzer Zeit mehr als Arbeiter- denn als Bauernstaat.

Die althergebrachten Sozialstrukturen zerfielen und beraubten die Kirche vollends ihrer Bedeutung. Auf die erste Aufbruchseuphorie in der DDR folgte der ökonomische Niedergang während der Jahrzehnte um die Wende und spitzte die sozialen Verwerfungen zu. Noch heute schlägt der umstrittene Tagebau klaffende Wunden ins Land. Würde die MIBRAG das Wasser der abgegrabenen Quelle nicht hochpumpen, läge der Teich um die Insel der Einburg trocken.
In geselliger Gegenwart
Die Abhängigkeit von dieser Pumpe, merkt Tränkner an, sei zweischneidig. Die MIBRAG GmbH (Mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft) sei vertraglich nicht dazu verpflichtet, den Bach zu erhalten. Die Pumpe falle immer wieder aus. Was geschehen soll, wenn die MIBRAG dereinst den Betrieb einstellen wird, weiss niemand. Allen Unwägbarkeiten zum Trotz halten viele Menschen im Dorf an der Kohle fest. Die MIBRAG zahlt gut. Die Arbeit ebenso wie der Stromfluss scheinen im Gegensatz zur Wetterabhängigkeit erneuerbarer Energien beständig.
Inzwischen hat sich auch Annika Rothe an den Tisch gesellt. Tränkner und ich fallen in unserer dämmrigen Ecke auf. An einer langen Tafel sitzen die Frauen des Vereins. Ansonsten ist der Raum leer. Weil es hier ruhiger ist, haben wir den kleinen Schankraum, wo sich die Männer lautstark versammeln, verlassen. Die Hälfte ihrer Klasse, erzählt die Photovoltaik-Expertin, habe ein Auskommen bei der MIBRAG gefunden. Auch Tränkners Sohn arbeitet dort als Industrieschlosser. Der Kohleausstieg, obwohl bundespolitisch beschlossene Sache, sei kaum zu bewerkstelligen, solange unverhältnismässig hohe Umweltauflagen die Erschliessung alternativer Energiequellen verhinderten.
Im Sumpf des Umweltschutzs
Was, wenn die MIBRAG wirklich für die Gesamtheit der verursachten Umweltschäden aufkommen müsste? Der Haftung entgehen die Eigentümer:innen des Konzerns durch die Auslagerung rentabler Bereiche und den Abzug von Kapital. In einem undurchsichtigen Netz von Beteiligungsgesellschaften verschwinden die Gewinne, während der MIBRAG vor Ort die Mittel für Renaturierungsmassnahmen fehlen werden. Darauf wies etwa Greenpeace unter Bezugnahme auf den Leipziger Wirtschaftsjournalisten Stefan Schroeter bereits 2016 hin.
Aus einem DDR-Kombinat hervorgegangen, erinnert die MIBRAG an ein unterschwelliges Phänomen der Vergangenheit. Die DDR brach – nicht zuletzt aufgrund ihrer Umweltpolitik – zusammen, noch bevor sie sich um die Folgen der Umweltzerstörung kümmern musste. So mag es rückblickend bisweilen erscheinen, als sorgten im Gegensatz zum einstigen «weiter so» allein die neuen Verhältnisse für Aufruhr. Die Bedingungen sind instabiler geworden. Der Klimawandel erzeugt extreme Wetterlagen, die Marktpreise schwanken und die demokratische Politik wirkt im Vergleich mit den direktiven des Politbüros unstet.

Angesichts dessen, bemerkt Rothe lakonisch, zögen manche noch die Kohle vor, selbst wenn dadurch ihr Haus weggebaggert würde. Ich stehe mit ihr vor der Tür und rauche. Aus Freundlichkeit, wie sie meint, begleite sie mich. Doch in der dunklen Kälte kommt es mir vor, als sei unser Gespräch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Bis in die Ämter und Ministerien hinein hätten die Leute keine Ahnung von den technischen und ökologischen Zusammenhängen der Energieerzeugung. Dann erzählt sie detailliert von Saatgutforschungen an einer regionalen Hochschule für die Biodiversität unter Photovoltaik-Anlagen. Aber davon wollen viele nichts wissen. Auch von Protestwähler:innen ist die Rede.
Im Ausstellungsraum der Geschichte
Wo für die einen die Erinnerung an die DDR-Vergangenheit beruhigend wirkt, retteten sich andere mit der Kirche und ihrer protestantisch-bürgerlichen Kultur über die Zeit des sozialistischen Gesellschaftsumbaus. Nach ihrer Entwidmung 2005 kaufte der Hallenser Geograf Bruno Tauché die Kirche für einen symbolischen Euro. Noch zu DDR-Zeiten hatte Tauché im Dorf bereits einen Hof erworben und Künstler:innen um sich geschart. Tauchés Milieu und die Dorfgemeinschaft, meint Tränkner, hätten sich aber nie gefunden. So blieben die Ideen für die Kirche bei allen Bemühungen Planspiele.
Lebt der Heimatverein unten in der Senke von der Mitarbeit der Mitglieder:innen, wenn sich diese am Wochenende in «Brigaden» zum «Subbotnik» treffen, reicht dieses Engagement nicht für die Sanierung der schwer beschädigten Kirche oben auf dem Hügel, geschweige denn für ihre Bespielung. Mittel und Kompetenzen von aussen waren unabdingbar, damit es 2023 zu einer Kunstausstellung wie dem «Grossen Schlachten» kommen konnte. Auf einmal stand die Kirche wieder im Zentrum einer Geschichte, die den Bogen von den historischen Schlachten über den Tönnies-Schlachthof im nahen Weissenfels bis zum Ukraine-Krieg spannte und Besucher:innen aus ganz Deutschland anzog.

Inmitten dieses Panoramas der Trostlosigkeit – im Großen der Weltgeschichte wie im Kleinen der Kirchenruine – mutet die Gründung des Kaisersaschern e. V. mit seiner deutschlandweiten Vernetzung unwahrscheinlich an. Seit 2022 organisiert er in der Kirche jeweils eine kleinere Veranstaltung im Frühling und eine größere Ausstellung im Herbst. Lüder Laskowski, heute Vereinsvorsitzender, bringt mit dem Verein zur Förderung der Kunst Mitteldeutschlands zur Umsetzung, was in den Ideen Tauchés, seines Schwiegervaters, angelegt war. Tränkner zeigt sich erleichtert. Auch wenn die Hälfte der Vereinsmitglieder zunächst skeptisch geblieben sei, sei Laskowski unter die Leute gegangen und habe seine Pläne bei einer Aufräumaktion dem Verein vorgestellt. Mit ihm sei ein leichteres Auskommen als mit dem eigenwilligen Tauché.
Im Kreischauer Innenhof
Für die Vereinsgründung mussten auf dem Kreischauer Hof jedoch erst ein Pfarrer, der als gelernter Steinmetz einmal Mitinhaber einer Dresdner Kulturagentur gewesen war, und ein renommierter Künstler zusammentreffen. Moritz Götze kannte den Hof und auch die Kirche als Freund der Familie aus früheren Tagen. Ein Sohn Tauchés lebt noch auf dem Hof, ein anderer betreibt ein Atelier. Der Hallenser Maler, Grafiker und Objektkünstler wiederum war eben von seiner «Grandtour – Made in Kaisersaschern» zurück, die ihn zusammen mit Rüdiger Giebler von Brüssel aus an über dreißig Orte auf der ganzen Welt geführt hatte. So fanden sich der versierte Organisator Laskowski und der umtriebige Künstler Götze eines Abends an einem Tisch im Kreischauer Innenhof. Der eine brauchte ein würdiges Ende für seine Welttournee, der andere hatte in eine Familie mit Kirchenruine eingeheiratet.

Die Erblast in einen Verein überzuführen, war für die Familie eine Erleichterung. Götze und Giebler wiederum kamen dem imaginären Kaisersaschern so nahe wie nur möglich. In das überwucherte Kirchenschiff setzten die beiden Künstler 2022 ihre Objekte und formten die Kirche zu einem Gesamtkunstwerk. Im Nachhinein erwies sich der irrwitzige Kauf der Kirche tatsächlich als weitsichtig. Nur so konnte sie – «mitten im Heimatbezirk der Reformation» – erneut eine geistige Strahlkraft entfalten, wie sie Thomas Mann in seinem Roman «Dr. Faustus» mit dem Sinnbild des fiktionalen Orts «Kaisersaschern» über den Furor des Nationalsozialismus hinaus zu erinnern versucht hatte.
Auf Wanderschaft mit Johann Gottfried Seume
Das unscheinbare Pobles mit Kaisersaschern in Verbindung zu bringen, kommt nicht von ungefähr. Das Grab Oehlers, mittlerweile vom Gestrüpp befreit, liegt immer noch hinter der Kirche. Nietzsches Geburtsort Röcken mit der Gedenkstätte für den wortgewaltigen Philosophen befindet sich wenige Dörfer weiter. In einer begehbaren Gruft unterhalb der Kirche ruht, was vom streitbaren Agrarreformer Johann Christian Schubart seit dem 18. Jahrhundert übrig ist. Und im Nachbarort Poserna kam einst Johann Gottfried Seume zur Welt, dessen Bericht zu seinem «Spaziergang nach Syrakus» von 1802 ein schonungsloses Sozialporträt zeichnet.
Pointiert kommentierte Seume etwa das Steuerwesen seiner Zeit: «Ein beliebter Schriftsteller wollte vor kurzem die Wohltätigkeit der Staatsschulden in Sachsen dadurch beweisen, weil man durch dieses Mittel sehr gut seine Gelder unterbringen könne. Nach diesem Schlusse sind die Krankheiten ein großes Gut für die Menschheit, weil sich Ärzte, Chirurgen und Apotheker davon nähren.» Seume kam «ohne vieles Nachdenken» zum Schluss, «daß durch die Staatsschulden die Ärmern gezwungen sind, außer der alten Last auch noch den Reichen Interessen zu bezahlen.» Seume, der mir inzwischen zurechtgestutzt aus einer Klassikersammlung des Journalismus im Regal der Bibliothek der Kommunikationswissenschaft entgegenschaut, mag vor zweihundert Jahren schon bis Syrakus gewandert sein. Wir hingegen laborieren auch heute noch an denselben Steuerproblemen. Der Stimmung zuträglich sind sie mit Sicherheit nicht.
Die Vermögenssteuer in Deutschland ist vom Verfassungsgerichtshof ausgesetzt. Die Arbeit in den neuen Bundesländern erwirtschaftet die Zinsen für Kapital, das meist nicht aus Ostdeutschland kommt. Die MIBRAG ist längst nicht mehr in ostdeutschen Händen, auch wenn der Schaden vor Ort angerichtet wird. Das freundschaftliche Gespräch am Tisch im Vereinslokal wird hitziger. Investitionen in erneuerbare Energien müssten vorangetrieben werden, meint Rothe, damit das Dorf eine wirtschaftliche Zukunft habe. Stattdessen fürchteten die Leute die Abschaltung der Windräder zum Schutz von Fledermäusen. Tränkner dagegen beklagt den Ausverkauf von Wissen sowie Patenten aus dem Bergbau an internationale Kapitalgesellschaften und bangt genau deswegen um die Zukunft.
In der Gruft des Edlen von dem Kleefelde
Dass es auch heute noch Stimmen wie damals diejenige Johann Christian Schubarts braucht, die sich für die Belange der Menschen im Dorf einsetzen, liegt auf der Hand. Verbesserte Schubart auf der einen Seite die Anbautechnik, kritisierte er auf der anderen die gesellschaftlichen Fesseln. Dass seine Anbaumethoden besonders in Österreich, wo Kaiser Joseph II. 1781 die Leibeigenschaft aufgehoben hatte, auf fruchtbaren Boden fielen, gab ihm Recht. Wurde er dafür zum «Edlen von dem Kleefelde» geadelt, bereitete er ungewollt die Industrialisierung und damit die zunehmende Entwurzelung der Dorfgemeinschaften vor. Zu seinen Errungenschaften gehört die Sommerstallfütterung – und ich erinnere mich an Rothes Biodiversitätssaatgut – dank des Anbaus von Klee.

Die einstige Vernachlässigung der Landbevölkerung ist heute wieder zu spüren. Die medizinische Versorgung, meint Rothe, sei mangelhaft. Und Uta, die als interessierte Einwohnerin an den Frauentreffen teilnimmt , wirft ein, dass sich mit dem Altentransport eine neue Branche herausbilde, weil die Kommunen sich zunehmend aus Aufgaben zurückzögen. An den öffentlichen Verkehr sind die Dörfer längst nicht mehr ausreichend angebunden.
Die Vernachlässigung reicht bis in die nahe Kleinstadt Weissenfels. Dort, wo die Armut aufgrund des wirtschaftlichen Zerfalls ohnehin schon gross sei, sammelten sich Entschädigte aus weggebaggerten Dörfern und Asylsuchende, meint Uta. Die Platzierungspolitik von Geflüchteten sei falsch. Dann erzählt sie von einer Schule, wo Rechtsradikalismus um sich greife, der Schulleiter verschliesse davor die Augen. Letztlich bedauert auch Rothe die Veränderung des Strassenbilds in den Städten. Die Zerrüttung der Sozialstruktur, so scheint es, hält seit dem Zweiten Weltkrieg und der darauffolgendenden Zwangskollektivierung an. Dass im Heimatverein die Menschen zusammenkämen, moderiere extreme Tendenzen, relativiert Tränkner. Aber das krude Wähler:innen-Gemisch der blauen AfD mit ihren Abschottungsgelüsten ist auch in Kreischau-Pobles stark.
Im Nachhall Nietzsches
Im Umgang mit den unaufhaltsamen Veränderungen hilft die Resonanz, die der Name Nietzsche erzeugt. Ein zerbrechlicher Stolz keimt angesichts der Geschichte des Dorfs wieder auf. Erinnerten sich nur die ganz Alten noch an Oehler und Nietzsche, brauche es umgekehrt die Tatkraft jüngerer Leute im Dorf. Aber sowohl die ganz Alten als auch die Jungen fehlten im Verein, beklagt Tränkner. Seit Corona seien allerdings Jüngere auf’s Land gezogen. Das Homeoffice macht Dörfer als Wohnort für Familien attraktiv.

Umgekehrt, bedauert Tränkner, führe das Internet dazu, dass die Leute weniger Zeit hätten. Die Virtualisierung zwischenmenschlicher Beziehungen nehme zu, die Angebotsmentalität zersetze Selbstorganisation. Unter diesen Voraussetzungen sei es eine Herausforderung, die Aufgaben des Vereins zu bewältigen. Und dann falle trotz der zugezogenen Familien auch die zunehmende Alterung ins Gewicht. Nicht zuletzt deswegen könne der Heimatverein bezüglich der Kirche keine Verantwortung übernehmen.
Zwischen Kunst- und Heimatverein
Räumt der Kaisersaschern e. V. auch regionalen Traditionen Platz ein, wirkt das Verhältnis zwischen ihm und dem Heimatverein dennoch distanziert. Die Ausstellung des vergangenen Herbsts etwa war der Emaille-Verarbeitung, die an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle immer noch gelehrt wird, gewidmet. Rothe erinnert sich jedoch eher daran, dass sie zur Zerstreuung nicht unbedingt den Abzug eines historischen Stichs der Schlacht bei Lützen an der Aussenmauer der Kirche brauche. Und Tränkner bedauert, dass Laskowski in Leipzig wohne und nur am Wochenende im Dorf sei.
Merkbar ist, dass sich die Welten der Dorfkultur und der internationalen Kunst noch finden müssen. Der Name Götze fällt im Schankraum des Heimatvereins an diesem Abend nicht. Trotz gegenseitiger Interessensbekundungen bei Ausstellungseröffnungen hätten sie noch keinen Termin für einen Besuch Götzes beim Heimatverein gefunden, erklärt Tränkner mir im Nachhinein per Email. Am Abend Vereinslokal dagegen erzählt er von selbstorganisierten Dia-Vorträgen über das Bergsteigen. Die Kluft zwischen einem professionalisierten Kulturbetrieb in den Städten und den Dörfern, so lässt sich vermuten, wächst. Dennoch sind die Mauern der Kirche dank des Kaisersaschern e. V. saniert. Das positive Echo auf ihr Engagement weit über die Region hinaus habe die Kirche, die ansonsten wie viele im südlichen Sachsen-Anhalt verfiele, dauerhaft gesichert, ist Götze überzeugt.

Bei allen Vorbehalten freut sich auch der Heimatverein über das Engagement. Mit der Zeit wird sich die erwähnte Kluft vielleicht verringern. Ein Anfang sei jedenfalls gemacht, gibt sich Tränkner hoffnungsvoll. Vertrauen will aber behutsam aufgebaut sein. Das gilt auch für die Vernetzung der lokalen Vereine untereinander. Tränkner schwärmt davon, dass eigentlich Kooperationen bis nach Zeitz nötig wären. Der Osten, auch das ist merkbar, formiert sich nach der Zerschlagung der betriebsgebundenen Sozialstrukturen aufgrund der Privatisierungen in der Wendezeit erst allmählich wieder. Noch ist vieles provisorisch und kaum etabliert.
Unter dem Dach des Himmels
Dass die Finanzierung eines Dachs für die Kirche nicht gelang, passt ins Bild. Unter solchen Bedingungen braucht es eine wetterfeste Kunst. Gerade diese Bodenständigkeit, wenn etwa der Wind durch das Gemäuer zieht und Musiker:innen die Noten von den Ständern weht, macht das Geschehen in der Kirche nahbar. Rothe erinnert sich jedenfalls mit Vergnügen an diese Szene. Anstelle eines musealisierenden «Zeltdachs» den Himmel zu spüren, steht der reformatorischen Innerlichkeit, die Nietzsche in seiner unzeitgemäßen Betrachtung «Über den Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben» seiner beissenden Kritik unterzog, nicht schlecht an.

Diese Innerlichkeit, vor der der Historiker Heinrich August Winkler in seiner «Kurzen Geschichte der Deutschen» noch 2020 warnte, hatte in Deutschland im 20. Jahrhundert für ein selbstzerstörerisches Sendungsbewusstsein gesorgt. Noch hitziger als bei der Kohlediskussion droht es im Heimatverein erst zu werden, als wir auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen kommen. «Nie wieder!», höre ich noch, als ich mich auf den Heimweg mache. Aber wer weiss schon, wie das zu bewerkstelligen ist. Die einladende Leutseligkeit im Schankraum verlasse ich mit Bedauern. Das Auto steuere ich trotzdem auf die «Lange Strasse» Richtung Leipzig. Mit der Verworrenheit all dieser Geschichten fahre ich in den nächtlichen Nebel hinaus.
Die Sonne des Stolzes?
Die Sonne strahlte, als ich für die FAZ fotografierte. Und die Eröffnung der Ausstellung «Zeitgenössische Emaillekunst aus Deutschland» fand unter einem blauen Himmel statt. Die Konnotation dieser Farbe fiel mir nicht auf: Verbreitet sie sich, weil die Vergangenheit besonders idyllisch oder besonders belastend war? Später beendete ich den Artikel für das bürgerliche Flaggschiff Deutschlands mit dem Satz: «Aus der Widersprüchlichkeit der Geschichte heraus bemüht sich der Kaisersaschern e. V. jedenfalls […] die Kirche im Dorf zu lassen, damit eine haltlose – und bisweilen vergessene – Gegend wieder gemeinschaftlichen Boden unter die Füße kriegt.»

Angesichts der Lebendigkeit des Heimatvereins zweifle ich kaum mehr an der Gemeinschaftlichkeit. Woher ein Dorf nach dem Fall der Mauer jedoch sein Selbstverständnis nehmen soll, ist eine unbeantwortete Frage. Sicher nährt es den Stolz, wenn ein Ulmer Kunstverein die Emaille-Ausstellung einkauft und Götzes Altar, Mittelpunkt der Emaille-Ausstellung, inzwischen in der Kathedrale von Mechelen steht, wie Laskowski erzählt. Aber was ist mit den vierzig DDR-Jahren? Wenigstens das Steuerwesen wird gerechter gewesen sein. Der Kirche nach über sechzig Jahren wieder einen Boden zu geben, ist vielleicht genauso wichtig, wie das Aufschauen zum eigenen Wahrzeichen im Dorf erneut zu lernen.
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Danke für diese interessante Geschichte aus dem Osten zum heutigen Gaudete-Sonntag! Ich freue mich und besuchte inzwischen in der Zürcher Tonhalle das Weihnachtskonzert der Thüringer Symphoniker mit Werken von Beethoven, Mozart und Tschaikowsky. Toll diese Meisterinterpreten und auch die internationale Zusammensetzung dieses Orchesters. „Musik grenzenlos“ las ich kurz nach dem Mauerfall in Berlin an einem Stand beim Reichstag. Der länderübergreifende Kulturaustausch funktioniert. Ich wünsche dem zaghaften Anfang in Pobles eine blühende Zukunft. Derweil bemühe ich mich durch persönliche Beteiligung an der Gemeinschaft, dass die Kirche hier im Dorf bleibt – sine qua non… Das Steuersystem ist allerdings seit der letzten Volksabstimmung auch im „Herzen“ Europas noch nicht gerechter geworden.