Leere Regale, vollmundige Versprechen und libertärer Paternalismus (Teil II)

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Der Polemik zuliebe aufs Ganze zu gehen, ist bisweilen ein Vergnügen. Und weil Meinungsstärke zur Abwechslung ihre Berechtigung hat, steckt das Glück in einem gepfefferten Text über amerikanischen Neoliberalismus und leere DDR-Regale. Da eine Auseinandersetzung mit solchen Themen, so sie denn nicht nur polemisch, sondern auch informativ sein soll, jederzeit auszuufern droht, kommt der Text in zwei Teilen.

 

Im Westen nichts Neues

 

Heute ist – trotz erneuter Konfrontation mit dem Osten seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine – weniger die Furcht vor autokratischen Gegner:innen im Äusseren massgeblich (die Wirtschaftskraft Russlands ist im Vergleich mit der Wirtschaftskraft der EU verschwindend) als die Reformresistenz der modernen Demokratien im Inneren. Die Lage hat sich seit Friedmans Publikation auch nicht verbessert. In den USA gibt es weder im Senat noch im Repräsentant:innenhaus Amtszeitbeschränkungen. Und auch in Deutschland fehlen solche zumindest auf Bundesebene. Im Grossen und Ganzen tut sich wenig, was Reformen der demokratischen Staatswesen betrifft.

 

Die Welt der Privatuniversitäten

 

Die amerikanischen Privatuniversitäten wiederum sind – wie manche Konzerne – ebenfalls kleine Staaten im Staat. Meist sind sie einigermassen abgeschieden von der Umwelt und verfügen über alles Nötige auf dem Campus. Das muss vielleicht wissen, wer sich noch Gedanken über ein Bild des Ganzen machen will, werden sie von der gegenwärtigen Regierung gerade durch Erpressungen mit zurückgehaltenen Fördergeldern zerpflückt. Ob ihre Führungen über das nötige Rückgrat verfügen, sich gegen die Übergriffe der Regierung zu behaupten, ist unklar. Bei aller Kritik wäre das zu wünschen. Die University of Columbia ist bereits eingeknickt und namhafte Forscher:innen – etwa der Faschismusexperte Timothy Snyder – haben das Land mit der eigennützigen Begründung verlassen, die Forschungsfreiheit andernorts zu verteidigen.

 

Der Maler Richard Rummell erstellte ein Panorama der Harvard University, als sie noch im Grünen war. Mittlerweile hat Boston sie umschlossen. (Gemeinfrei)

 

Die amerikanischen Privatuniversitäten sind nicht vergleichbar mit den staatlichen Massenuniversitäten in Europa, die aus historischen Gründen meist mitten in den Städten angesiedelt und aufgrund ihres Wachstums mit den Jahrhunderten auch verstreut über Stadtgebiete sind. Sie bleiben einer zahlungskräftigen Elite vorbehalten und bilden einen eigenen Kosmos, selbst wenn sie inzwischen von den wachsenden Städten verschluckt wurden. Trefflich lässt sich an solchen Orten fernab des Alltags anderer Menschen nachdenken.

 

Kauffreiheit oder Denkfreiheit?

 

Gerade Professor:innen wie Friedman, Thaler und Sunstein als Lehrstuhlinhaber:innen an solchen Horten des Denkens müssten über den Wert ungestörten Nachdenkens im Bild sein. Ihr Privileg, eine Weile frei von wiederkehrenden Alltagsentscheidungen nachdenken zu können, müssten sie kaum hoch genug schätzen. Umso verblüffter bin ich, dass sie sich mit Vehemenz der Entscheidungsfreiheit zuwenden. Wahrscheinlich ist ihnen auf den bequemen Lehrstühlen die Freiheit, nach Gutdünken nachzudenken, bereits allzu selbstverständlich geworden.

Nicht nur Friedmans Fernsehsendung unterstreicht mit ihrem Titel «Free to Choose» die eindimensionale Interpretation von Freiheit als Wahlfreiheit, sondern auch Thaler und Sunstein brechen eine Lanze dafür. Sie schwelgen in ihrer relationslosen «Erkenntnis, dass alles wichtig ist», und ergehen sich in Kurzschlüssen, wenn sie unmittelbar nach der Zusammenfassung ihres Programms, «die Entscheidungen der Menschen so zu lenken, dass sie hinterher besser dastehen – und zwar nach ihren eigenen Massstäben», von bloss «vermuteten Vorlieben der Menschen» sprechen.

 

Sanfte Elefanten und konditionierte Affen

 

Mit dem «Nudge», auf dem Titelbild schubst ein grosser Elefant einen kleinen mit dem Rüssel sanft in die gewünschte Richtung, Anleihen beim Tierreich zu machen, entlarvt die Konsequenz dieses Programms bei allen guten Absichten: sprachbegabte Menschen etwa mit einer spezifischen Präsentation von Konsumgütern in einer Kaufhausauslage nonverbal zu manipulieren. Die Entscheidungen, die auf solche Manipulationen folgen, als wichtig zu bezeichnen, wirft vor allem die Frage auf: Für wen?

 

Ein Blick auf das Titelbild verrät schon alles über das Buch. Was als kluges Marketing erscheinen mag, kann sich bei kritischer Betrachtung auch als Schuss ins eigene Knie erweisen. (© Fabian Schwitter)

 

Wichtig ist nicht die Unzahl von Alltagsentscheidungen kleiner Leute, die ohnehin schon weitreichenden Manipulationen unterliegen, sondern die Wahl wissenschaftlicher Schwerpunkte. Mit behavioristischer Wirtschafspsychologie über Zeit eine Bevölkerung konditionierter Affen heranzuzüchten, wirft noch ganz andere Fragen auf als die vermeintlich wichtigen, aber erbärmlichen – und ohnehin längst durch die Marktmacht von Konzernen und gewiefte Marketingabteilungen geprägten – Entscheidungen beim Erwerb von Konsumgütern.

 

Wer die Wahl hat, hat die Qual

 

Dass die Wahl zu haben, nicht immer ein Segen ist, sondern eben auch eine Qual, scheint nie in den Blick zu kommen. Was ist, wenn das Überangebot an medialen Produkten und Konsumgütern zu ständigen Entscheidungen nötigt? Was ist, wenn ökonomische Entscheidungen – etwa beim aggressiven Vertrieb von Hypotheken durch Geldinstitute – über den Erhalt der Existenzgrundlage entscheiden? Was ist, wenn diese Vertriebsstrategien gleich ganze Gesellschaften an den wirtschaftlichen Abgrund führen?

Eine solche Welt ist für Wohlhabende, die sich weit besser von allem abschotten können und deren ökonomische Entscheidungen für das persönliche Leben meist folgenlos bleiben, wohl gar nicht so unangenehm. Für alle anderen wäre es vielleicht eine Erleichterung, eine ganze Reihe von Entscheidungen nicht treffen zu müssen und dadurch das Recht zu solchen Entscheidungen gegebenenfalls auch Privilegierteren zu verwehren.

 

Wie viele Joghurt-Sorten braucht der Mensch?

 

Hinzu kommt mit Blick auf die Lebensqualität eben doch die Frage, welche Entscheidungen relevant sind. Eine Vielzahl von Entscheidungen, die wir heute treffen müssen, kosten zwar viel Zeit, bringen aber gerade in Sachen Glück wenig. Nicht zuletzt trifft das auf den täglichen Einkauf zu. Angesichts ihrer konsumistischen Geisteshaltung kommt kaum von ungefähr, dass Thaler und Sunstein mit dem Beispiel eines Supermarkt-Experten einsteigen. Der Supermarkt ist der Inbegriff unsinniger Entscheidungen im Alltag, die – nur schon beim Zurechtfinden in diesen weitläufigen Konsumhallen – noch weit mehr Zeit als Geld kosten.

 

Supermarktregale nehmen in ihrer bunten Vielfalt kein Ende. (© Daniel Albany, pixabay.com)

 

Es verwundert nicht, dass nach der Wende viele Menschen in Ostdeutschland von der schrillen Vielfalt des Angebots im Westen überfordert waren. Der nostalgische Blick zurück auf die Einfachheit des DDR-Lebens angesichts des heutigen Irrwitzes erscheint bisweilen verständlich, auch wenn sicher kein Mensch die leeren Regale und die langen Wartezeiten der Planwirtschaft zurückhaben möchte. Die Ironie der Geschichte will es aber nun, dass nicht zuletzt die libertären Paternalist:innen, als die sich auch Thaler und Sunstein bezeichnen, für leere Regale sorgen.

 

Meine Ideen, meine Waffen

 

In einem Zweiparteiensystem wie den USA, sind sie – bei aller Beteuerung, «dass die Politik des libertären Paternalismus von Konservativen ebenso wie von Linken vertreten werden kann» – bereit, einen Demagogen wie Trump ins Amt zu hieven, weil sie dann doch republikanisch wählen, nur um vermeintlichen Interventionismus der Demokrat:innen zu verhindern. Denn zum libertären Spektrum in seiner offen paternalistischen Ausprägung gehören namhafte und steinreiche Tech-Gurus aus Kalifornien, Hohe Priester der technischen Weltrettung, ebenso wie die fundamentalistischen Waffennarren aus dem Mittleren Westen mit ihrer einflussreichen Lobby-Organisation NRA (National Rifle Association).

Beide Gruppen zeichnen sich durch eine Rücksichtslosigkeit aus, die dem stumpfsinnigen Recht des Stärkeren verdächtig nahekommt. Wollen die einen ungehindert ihre Geschäftsideen zum vermeintlichen Wohl der Gesellschaft verwirklichen, pochen die anderen auf das Tragen von Waffen, von denen sie im Ermessensfall auch gerne Gebrauch machen möchten. Ungeachtet ihrer persönlichen Vorlieben, etwa die Obama-Regierung beraten zu haben, feierte Thalers und Sunsteins Buch gemäss Guardian in England vor allem im rechten Spektrum Erfolge und wurde zur Pflichtlektüre für die konservativen Tories. Und das gibt bei allen anderslautenden Intentionen nicht nur zu denken, sondern zeitigt Wirkung. Der paternalistische Schuss, und das war abzusehen, ging wohl nach hinten los.

 

Kein Spielzeug zu Weihnachten

 

Denn die Pointe der Geschichte ist nun, dass Trump im Handelskrieg mit China ausgerechnet zu dem Mittel greift, das Libertäre in ökonomischen Belangen verabscheuen: Zölle. Und diese drohen, zur Weihnachtszeit für leere Regale in Spielzeuggeschäften zu sorgen. So viel zur Wahlfreiheit. Der luxusverliebte Präsident wiederum quittiert Nachfragen in seiner rücksichtslosen Selbstverliebtheit mit der lapidaren Feststellung, in chinesischen Häfen sässen nun viele Waren fest, die in den USA ohnehin nicht gebraucht würden.

 

Die aufgrund der verhänten Zölle liegengebliebene Fracht im Hafen von Shanghai soll nach den Wünschen Donald Trumps China in die Knie zwingen. (© Bruno Corpet, CC BY-SA 3.0)

 

Was richtiger nicht sein könnte, klingt aus dem Mund eines korrupten Immobilienhais auch dann zynisch, wenn er das selbst nicht einmal bemerkt. Seine devoten Wähler:innen aus dem christlich-konservativen mittleren Westen aber hätten in ihrem unverwüstlichen Hang zum Messianismus Widererwarten für jesuanische Weihnachten gesorgt. Für einmal könnten die Feiertage tatsächlich spartanisch ausfallen und so vielleicht Raum für das Zwischenmenschliche schaffen. Die Tech-Gurus wiederum haben sich ohnehin längst von allem abgekapselt und kochen ihr eigenes Süppchen. Trump lässt sie gewähren und verteilt Steuergeschenke, mögen andere nun etwas unter dem Weihnachtsbaum haben oder nicht.

 

Freier Markt oder Politik?

 

Das Entscheidungsverhalten der Trump-Basis, einen Narzissten ins Amt zu wählen, dessen vollmundige Wahlversprechen keinen Pfifferling wert sind, ist dem Wahlverhalten vieler AfD-Wähler:innen in Deutschland nicht unähnlich. Sie nehmen zugunsten einer vermeintlichen Alternative, die ihnen keineswegs mehr Lebensqualität bringen wird, Nazis wie Höcke in Kauf, auch wenn die alten Parteien zugegebenermassen viel zu wenig tun, um mit beherzten Reformen selbst Alternativen hervorzubringen.

Mit individuellen Kaufentscheidungen abgespeist zu werden, während auf den politischen Bühne die schleichende Aushöhlung des Gemeinwohls zugunsten individuellen Reichtums voranschreitet, ist schon wieder zynisch. Erinnert sei an freimütigen Alkoholkonsum als Modell von Lebensgestaltung. Seit dem Aufkommen des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert und dem Versuch, die ökonomische von der politischen Sphäre zu trennen, verkommt Politik zwangsläufig zur Alternativlosigkeit. Auf jede Wahl zu pfeifen, ist da nicht unplausibel.

 

Hauptsache gute Stimmung

 

Angesichts dessen sind Aufrufe zu gesellschaftlichem Zusammenhalt nicht nur lobenswert, sondern trotz ihrer Kümmerlichkeit unausweichlich. Nur vereinte Massen – was für ein alter Hut! – können auf die Machtzentren mit ihren Mitteln zur Gesellschaftsspaltung – teile und herrsche, was für ein alter Hut! – ausreichend Druck ausüben, Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls zu treffen. In aller Regel neigen Machtzentren nicht dazu, sich freiwillig die Speckschwarten vom Leib zu schneiden. Den Kompass sozial auszurichten, ist dann für alle Pflicht, die sich nicht zu diesen Machtzentren zählen.

 

Im farbenfrohen Design von Göpels Buch ist das Marketing des 21. Jahrhunderts wiederzuerkennen. (© Fabian Schwitter)

 

So zufällig wie Thalers und Sunsteins Abhandlung ist mir jüngst Maja Göpels «Werte. Ein Kompass für die Zukunft» in die Hände gekommen. Die Politökonomin propagiert pflichtbewusst «Wohlstand für alle» und verbindet den Weg in eine sozialstaatliche Zukunft mit Sorgfalt. Im Sog des angesagten Care-Diskurses führt sie – selbst eine renommierte Wissenschaftlerin – zugunsten eines fulminanten Endes den «einflussreichen Juristen und Verhaltensökonom Cass Sunstein» als Gewährsmann für ihren Warnruf an: «Lassen Sie sich also keine libertär verkorksten Neuinterpretationen dieser zentralen Werte [Freiheit, Menschenrechte, Pluralismus, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie] unterjubeln.»

 

Konsumismus, what else?

 

Dass die amerikanische Avantgarde des Kapitalismus das alte Europa, wo der Kapitalismus seinen Anfang nahm, schon seit Jahrzehnten hinterherhinken lässt, ist eine Tatsache. Ob Göpels Begriffsschöpfung der «Verwirung» als Ausdruck der Notwendigkeit zu einer gewissen Vergemeinschaftung angesichts der verwirrenden Komplexität moderner Massengesellschaften doch für mehr Verwirrung als Orientierung sorgt? Bei aller Rede vom Kompass scheint ihr die Orientierung abhanden gekommen zu sein, referiert sie doch einen Text Sunsteins von 1998, während dieser sich zehn Jahre später – «Nudge» erschien 2008 – gerade als libertär bezeichnet. Ich will mich nicht im Streit um Worte verlieren, zumal sich solche Differenzen wohl wegerklären liessen. Von Sorgfalt zeugt Göpels Vorgehen dennoch nicht.

Beginnt sie ihr Buch wiederum wie Thaler und Sunstein mit lapidaren Kauf- und Essensentscheidungen, wird mir ob aller Entscheidungsfetischisierung angst und bang. Betont sie dann, wie sehr «unsere Entscheidungen prägen, wie wir uns fühlen», fürchte ich um die «Resilienz», die sie beschwört. Der Horizont reicht nicht über einen kläglichen Konsumismus hinaus. Und mir fehlt offenbar der Humor, Sorgfalt wahrzunehmen oder auch nur Glaubwürdigkeit zu ahnen.

 

Echokammer des Neoliberalismus

 

Vielmehr verdichtet sich ein Verdacht: Diese Schreibereien – von Friedman über Thaler und Sunstein bis Göpel – verkommen unwillentlich zu Erfüllungspamphleten reicher Zyniker und Prophet:innen der Produktivität wie Donald Trump, wenn ein Konzept wie der libertäre Paternalismus dann auch noch für jedwede Partei von Nutzen sein soll. Denn wer die Sicherung von Wohlstand jederzeit so begreift, dass andere am eigenen Wohlstand teilhaben sollen, nicht aber so, dass der eigene Wohlstand und mit ihm viele Entscheidungsfragen überflüssig sein könnten, denkt so einseitig wie Friedman und muss sich zumindest der Frage stellen, ob letztlich nicht doch dem (neo-)liberalen Credo gehuldigt wird, wonach der Reichtum durch Investitionen und Arbeitsplätze von oben nach unten durchsickert.

Mit einem gestörten Wertekompass, das spüre ich immer untrüglicher, irre ich durch die Echokammern eines neoliberalen Diskurses, in dem am Ende alle sozialen Worte im Brummen des Produktivitätsmotors verhallen. Bevölkert wird diese Echokammer von allwissenden Professor:innen, denen die Rolle der Paternalist:innen fast von Natur aus zukommt. Stellen diese dann ihre Eignung zum Paternalismus mit dem Rückgrat eines Timothy Snyder unter Beweis, lasse ich mich lieber von einem Kind bevormunden. Dann wird’s wenigstens lustig.

 

Menschen wie Timothy Snyder und seine Frau können im Zweifelsfall einfach die Koffer packen und finden andernorts wieder einen Arbeitsplatz. Beide unterrichten nun nicht mehr an der privaten Yale University in den Vereinigten Staaten, sondern in Toronto in Kanada und wundern sich über den Aufstieg des Faschismus. (© Ot, CC BY-SA 4.0)

 

Gerade in modernen Massengesellschaften, wo keine persönlichen Beziehungen und damit einhergehende Verantwortung paternalistisches Handeln rechtfertigen, wäre Zurückhaltung – wie viele Studien ein Mensch auch zu zitieren in der Lage ist – jederzeit angebracht. Denn die leeren Regale und die massive Teuerung kaschieren die Republikaner:innen nicht etwa mit salbungsvollen Erbauungsworten, sondern mit einer Nachrichteninflation, die jede Rede von Entscheidung ins Absurde treibt. So viele Skandale und Skandälchen, so viele irrwitzige Social-Media-Posts lässt der amerikanische Präsident Donald Trump auf uns einprasseln, dass es jederzeit schwerfallen muss, eine Wahl zu treffen.

 

Was Friedman wohl meinte?

 

Das Chaos ist von den Rechtspopulist:innen gewollt. Solange die Öffentlichkeit mit Unsinn beschäftigt ist, richtet sie den Blick nicht auf das Filetieren des Staats im Hintergrund oder die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch die Industrie. Ob Friedman mit dem schlanken Staat damals meinte, was Elon Musk mit seinem Department of Government Efficiency dreissig Jahre später umzusetzen begann? Mag Musk mittlerweile auch abgesägt sein, der Schaden ist angerichtet, auch wenn sich Regierungen zugegebenermassen schwertun, eigene Ausgaben oder erlassene Gesetze zu streichen, wenn die Situation sie nicht mehr verlangen.

Wahrlich, die Welt muss seit Friedmans Plädoyer für den freien Markt eine andere geworden sein, wenn das, was er sagt, nur irgendeinen Sinn gehabt haben soll. Und noch eines lehrt die Beschäftigung mit Friedman: Private Erfolgsgeschichten neigen sehr stark dazu, blind für systemische Kehrseiten – den Misserfolg oder Unglück anderer – zu machen. Das zumindest kenne ich aus der eigenen Familiengeschichte. Und die Almosen, die das Grosskapital Aufsteigern wie Friedman zukommen lässt, macht aus manchen die ekelhaftesten Lakaien.

 

Der kleine Abstieg von Zürich nach Leipzig

 

Den gesunkenen Lebensstandard durch den Wegzug von Zürich nach Leipzig bedaure ich jedenfalls keine Sekunde. Ich glaube längst nicht mehr, einen höheren Lebensstandard als meine Eltern zu brauchen. Und die Reduktion der Entscheidungen, die ich treffe, auch nicht, wenn ich etwa Lebensmittel von der Leipziger Tafel beziehe und aus dem, was im Kühlschrank ist, etwas mache, statt selbst einzukaufen. Kleidung habe ich seit zehn Jahren nicht mehr gekauft. Obendrein erhalte ich dank dieses Leipziger Lebens als willkommenes Korrektiv zu alten Selbstverständlichkeiten Geschichten von den Erfahrungen, die aus den leeren Regalen in der DDR resultierten, zum Geschenk.

 

Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig beherbergt Millionen von Büchern. (© Appaloosa, CC BY-SA 3.0)

 

Das Glück in Form eines Merino-Kashmir-Pullovers, den ich mir sonst nie leisten würde, auf der Strasse zu finden, weil diese Art des Teilens mancherorts in Leipzig üblich geworden ist, und meine Zeit zweckfreier Bildung zu widmen, entschädigt bei weitem für Einbussen beim materiellen Lebensstandard. Das Glück in Form eines Merino-Kashmir-Pullovers, den ich mir sonst nie leisten würde, auf der Strasse zu finden, weil diese Art des Teilens – vielleicht auch aufgrund der Mangelerfahrungen der Vergangenheit – mancherorts in Leipzig üblich geworden ist, und meine Zeit zweckfreier Bildung zu widmen, entschädigt bei weitem für Einbussen beim materiellen Lebensstandard.

Lieber als in Supermärkten zu wählen, erfreue ich mich der Zufälle und nehme ich mir die fantasievolle Freiheit, vor dem Hingergrund von Imaginationen einer unbekannten Vergangenheit, die Zukunftsvisionen der Gegenwart zu durchleuchten. Einen Kranz winde ich dann der Regierung, die dafür sorgt, dass mir mit den zahllosen Bibliotheken Leipzigs eine Infrastruktur zur Verfügung steht. Mag das nun effizient sein oder nicht: Hauptsache, der Zugang zu Büchern bleibt für mich erschwinglich. Erleichtert und geradezu befreit fühle ich mich, wenn sich die Quacksalber:innen mit all ihren wohlklingenden Worten am Ende doch alle selbst entlarven. Was für ein Glück!

 

 

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